Vom musikalischen Wunderkind entwickelte sich der vor 175 Jahren verstorbene Frédéric Chopin zum Schöpfer des modernen Klavierspiels. Er schöpfte alle Möglichkeiten des Pianos mit einer bahnbrechenden Klangsprache und einer neuartigen Spieltechnik aus.
Ende September 1849 hatte der 39-jährige Frédéric Chopin auf Anraten seiner prominenten Ärzte erstmals eine Wohnung im Zentrum der Seine-Metropole bezogen. Dieses teure Quartier an der damals noch nicht ganz so mondänen Place Vendôme konnte er sich zwar finanziell gar nicht mehr leisten, weil er seit knapp zwei Jahren keine Einkünfte mehr bezog. Doch einige seiner engsten Freunde, mit der steinreichen schottischen Adligen Jane Wilhelmina Stirling, einer talentierten Pianistin und Chopin-Schülerin an der Spitze, kamen für die Kosten auf. Sie wollten dem todkranken und von Tout-Paris gefeierten Künstler die letzten Tage auf Erden so angenehm wie möglich machen. Auch wenn längst absehbar war, dass sich der von Natur aus schmächtige Künstler, der bei einer Körpergröße von rund 1,75 Meter gerade mal rund 50 Kilogramm auf die Waage brachte, von den Strapazen seiner einzigen je unternommenen Konzerttournee nicht mehr erholen würde. Diese hatte ihn 1848 nach Schottland und England geführt, und er kehrte am 24. November 1848 gesundheitlich schwer angeschlagen wieder an die Seine zurück.
Schon bei seiner Ankunft in seiner künftigen Wahlheimat Paris am 5. Oktober 1831 hatte der mittelblonde Künstler mit den grau-blauen Augen vor allem wegen seiner vornehmen Blässe und seiner zierlichen Statur dem Klischee eines vom Tode gezeichneten Genies entsprochen. Chopin legte stets größten Wert auf ein elegantes Äußeres und vorbildliche Manieren, was ihm die Aufnahme als geistreicher und witziger Unterhalter trotz einer ihm nachgesagten persönlichen Scheu und Zurückhaltung in höchste aristokratische oder intellektuelle Gesellschaftskreise ermöglicht hatte. Deren Vertreter pflegten sich am liebsten in den seinerzeit rund 850 Pariser Salons zu treffen.
Seine Stücke sind selbst für heutige Virtuosen eine Herausforderung
Frédéric Chopin umgab die Aura eines Blaublütigen, weshalb man ihm laut seinem Kollegen und Freund Franz Liszt „unwillkürlich wie einem Fürsten“ begegnete. Doch im Herbst 1849 hatte sich der Gesundheitszustand Chopins in Folge des Fortschreitens der seinerzeit nicht heilbaren Tuberkulose immer weiter verschlechtert. Am frühen Morgen des 17. Oktober 1849 verstarb Chopin im Kreise seiner engsten Vertrauten, darunter seine heißgeliebte Schwester Ludwika, an Herzversagen infolge seiner Tuberkulose. Für seinen Trauergottesdienst hatte sich Chopin in einer letzten Verfügung Mozarts Requiem gewünscht. Bei der von mehr als 4.000 Gästen besuchten Gedenkfeier in der Pariser Kirche La Madeleine am 30. Oktober 1849 wurde es neben Chopins berühmten eigenem Trauermarsch aus der Klaviersonate Nr. 2 gespielt. Der Sarg wurde anschließend zum Friedhof Père-Lachaise überführt, wobei dem Leichnam Chopins Herz fehlte, das auf Wunsch des Komponisten in sein polnisches Geburtsland überführt werden sollte.
Das Werk Chopins, dem bis zu 280 Kompositionen zugeschrieben werden, gilt als ein Meilenstein der Musikgeschichte. Sein Schaffen zählt noch immer zum Kern des klassischen Konzert-Repertoires. Wobei das Besondere darin besteht, dass Chopin nahezu ausschließlich Stücke für das Klavier geschrieben hatte, wovon Kompositionen für das Piano solo den größten Teil ausmachten. Auf das Komponieren prestigeträchtigerer Stücke wie Opern, die er selbst sehr geschätzt hatte, Sinfonien, Oratorien oder Messen hatte er freiwillig komplett verzichtet. Die für seine Zeit der Romantik ebenso befremdliche wie geniale Reduktion auf ein einziges Instrument, das von ihm dank einer neuartigen Klangsprache und einer innovativen Fingerspieltechnik zum Medium einer bis dahin unbekannten Expressivität erhoben wurde, ermöglichte es ihm, zeitlose Werke für die Ewigkeit zu schaffen und den Künstler laut der Chopin-Gesellschaft „in eine Reihe mit Mozart und Beethoven zu stellen“.
Das Spielen von Chopin-Stücken ist selbst für heutige Piano-Virtuosen eine große Herausforderung. Das gilt vor allem für seine Etüden, titanische Experimente aus den Jahren 1833 und 1837, die weit mehr als die sonst darunter verstandenen Übungsstücke waren, weil Chopin darin die äußersten Grenzen des auf dem Klavier technisch Machbaren ausgereizt hatte. Von den zahlreichen zeitgenössischen Pianisten konnten sie allein von Franz Liszt gespielt werden. Noch heute gilt der Grundsatz: Wer diese Etüden beherrscht, kann am Klavier praktisch alles spielen.
Zudem interpretierte Chopin seine eigenen Stücke bei jeder Aufführung immer wieder neu. Er war regelrecht besessen vom Improvisieren. Das Fantasieren am Klavier war in seiner Zeit Gegenstand höchster Bewunderung und sorgte regelmäßig für Begeisterungsstürme. „Chopin gehörte zu den besten Improvisatoren seiner Zeit, neben Mozart und Beethoven“, schreibt die Chopin-Gesellschaft.
Schon mit elf Jahren als Wunderkind gehandelt
Die „Neue Zürcher Zeitung“ erhob Chopin jüngst in den Rang eines „Olympiers unter den Komponisten“ und reihte ihn an die Seite von Bach und Mozart ein, weil er „die Spieltechnik revolutionierte und das Klavier in einer bis dahin nie gehörten Weise klingen ließ, als wäre es ein ganzes Orchester“. Seine Musik stehe „wie ein Solitär im Raum, einzigartig und unverwechselbar dank ihrem charakteristischen Personalstil. Sie wird verehrt, ja geliebt, und das nicht nur von den Pianisten, für die er so zentral ist wie Bach und Beethoven.“ Chopins Werke hatten sich laut der „NZZ“ dank ihres Tiefsinns und ihrer kompositorischen Qualität deutlich von der modischen „Salon- und Virtuosenkultur“ abgehoben, die Saiten- und Tastenkunststücke ohne größeren Tiefgang durchaus geschätzt hatte. Zwar habe sich auch Chopin nicht gänzlich von der Verführungskunst des Virtuosentums frei machen können. Auch könne man bei ihm durchaus von „Salonmusik“ sprechen, aber nur, weil er seine Stücke meist in jenen gesellschaftlichen Abendtreffs zum Besten gegeben hatte.
Die klassische Tradition von Bach, Händel oder Mozart hat Chopin ebenso beeinflusst wie die barocke Cembalomusik von Domenico Scarlatti, der geflügelt-weiche sogenannte Belcanto-Stil der italienischen Oper und nicht zuletzt die uralte Volkskultur seines Geburtslandes Polen mit Tänzen wie Krakowiak, Kujawiak, Mazurka, Polonaise oder Oberek. Zwar hatte Chopin im Alter von 19 und 20 Jahren nur zwei Klavierkonzerte geschrieben. Doch daneben komponierte er unter anderem 27 Etüden, 24 Préludes, 51 Mazurkas, 17 Polonaisen, 14 Walzer, 21 Nocturnes, 19 Lieder, vier Rondos, vier Balladen, vier Impromptus, vier Scherzi, drei Klaviersonaten sowie verschiedene Werke der Kammermusik oder für Klavier/Orchester. Alles, was Chopin geschrieben hatte, war Klaviermusik im weitesten Sinne und veranlasste ihn daher zu dem Bekenntnis: „Das Klavier ist mein zweites Ich“.
Fryderyk Franciszek Chopin wurde am 1. März 1810 im zum damaligen Herzogtum Polen und zum Departement Warschau gehörenden Dörfchen Żelazowa Wola geboren. Da sein Vater aus Lothringen eingewandert war und eine polnische Ehefrau geheiratet hatte, besaß Chopin von Geburt an die doppelte französisch-polnische Staatsbürgerschaft. Er wuchs wohlbehütet in einer musikalischen Familie in Warschau auf. Der als Französischlehrer und Gymnasialprofessor tätige Vater spielte Geige, die Mutter Klavier. Seine spielerische Begeisterung für die Piano-Tasten im zarten Alter von drei Jahren mündete 1816 in einen ersten richtigen Klavierunterricht, ein Jahr später in seinen beiden ersten Kompositionen, den Polonaisen g-Moll und B-Dur. Nach ersten Auftritten zwischen 1818 und 1821 wurde er bereits als musikalisches Wunderkind gehandelt, wechselte danach zu einem besser qualifizierten Klavierlehrer und vom Hausunterricht auf das Königlich Preußische Lyzeum in Warschau, um schließlich 1826 das Musikstudium am Warschauer Konservatorium aufzunehmen. In seinem Studien-Abschlusszeugnis wurde er als „musikalisches Genie“ bezeichnet.
Liebling der Damenwelt bei Auftritten in den Pariser Salons
Nachdem er mit seinen in Warschau uraufgeführten beiden Klavierkonzerten für Furore gesorgt hatte, verließ er seine Heimat im Vorfeld des polnischen Novemberaufstandes gegen Russland, um schließlich als Nobody in Paris nach den höchsten Weihen der Anerkennung als Künstler streben zu können. Dank der Protektion einflussreicher Persönlichkeiten wie der Bankiersfamilie Rothschild gelang ihm schnell der Zugang zu den Salons, wo er seine Kompositionen vorspielen und wo er auch zahlungskräftige Kunden für den von ihm zum Lebensunterhalt neben dem Verkauf seiner Werke an Musik-Verlage angebotenen Klavierunterricht finden konnte. Sein wachsendes Renommee hatte ihm erlaubt, doppelt so hohe Honorare wie seine Unterrichtskonkurrenten zu verlangen.
Mit diesen beiden Einnahmequellen musste er auskommen, da es Tantiemen oder Lizenzeinnahmen noch nicht gab, und er auch kein Konzertpianist war, der durch Ticketverkauf auf Tourneen ein nettes Sümmchen hätte dazu verdienen können. Die Zahl seiner gesamten öffentlichen Auftritte wird zwischen 30 und 40 taxiert. Chopin, ein leidenschaftlicher Schach- und Billard-Spieler, bevorzugte das Musizieren vor einem kleinen Publikum in den Salons. Dort war er ein Liebling der Damenwelt, von denen manche Vertreterinnen sicherlich seine rund neun Jahre zwischen 1838 und 1847 dauernde Beziehung mit der skandalumwitterten Schriftstellerin George Sand missbilligt haben dürften.