Die Krefelder Studie aus dem Jahr 2017 machte die Welt erstmals auf das gewaltige Ausmaß des Insektensterbens aufmerksam. Eine deutsche Meta-Studie aus dem Jahr 2020 konnte den Rückgang von landlebenden Gliederfüßern bestätigen, zugleich aber die Zunahme von Süßwasser-Insekten hervorheben.
Als das Ergebnis einer Langzeitstudie von Hobbyforschern des Entomologischen Vereins Krefeld am 18. Oktober 2017 im Fachjournal „PLOS“ veröffentlicht wurde, wurde die Weltöffentlichkeit geradezu aufgeschreckt. Zwar war in Wissenschaftskreisen der Rückgang der globalen Insektenpopulation längst bekannt. Aber die Dramatik der Zahlen dieser Studie, die sich über den außergewöhnlich langen Untersuchungszeitraum von 15 Jahren ( 1989 - 2014) erstreckt hatte und in Forschung und Medien nur noch „Krefelder Studie“ genannt wird, sie schlug riesige Wellen.
Auf Basis von Daten, die an 63 Standorten in Naturschutzgebieten von Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Brandenburg mittels Insektenfallen ermittelt wurden, ergab sich ein Rückgang der Biomasse von fliegenden Insekten um rund 75 Prozent. Die Bestürzung und Betroffenheit der Weltöffentlichkeit sollte noch größer werden, nachdem die Ergebnisse der Hobbyforscher durch eine wissenschaftliche Überprüfung seitens der Radboud-Universität im niederländischen Nijmegen unter Federführung von Prof. Caspar Hallmann als verlässlich und richtig bestätigt worden waren. Plötzlich machte das Schlagwort vom „Insektensterben“ weltweit die Runde. „Wir haben festgestellt“, so Prof. Hallmann, „dass in den Naturschutzgebieten der norddeutschen Tiefebene ein massiver Rückgang der gesamten Biomasse von fliegenden Insekten zu verzeichnen war. Sehr wichtig ist, dass ein derart starker Rückgang innerhalb von Naturschutzgebieten niemals zuvor dokumentiert wurde.“
Die Brisanz der Zahlen sorgte hierzulande dafür, dass sich selbst der deutsche Bundestag dazu genötigt sah, sich mit dem Thema Insektensterben zu beschäftigen. Anfang 2021 leitete er die Etablierung des Leipziger Nationalen Monitoringszentrums zur Biodiversität in die Wege. Schlagworte wie „Insekten-Armageddon“ oder „Insekten-Apokalypse“ machten auch global die Runde.
Dabei hatte zunächst kaum jemand die Frage gestellt, inwieweit sich die auf der lokalen Ebene Mitteleuropas gewonnenen Daten auf die restliche Erde übertragen lassen könnten. Doch auch eine australische Studie des Sydney Institute of Agriculture unter Leitung des Ökologen Francisco Sánchez-Bayo aus dem Jahr 2019 schien den Ernst der Lage für den globalen Insektenbestand zu bestätigen.
Nach Auswertung von 73 Studien, deren Datenvolumen größtenteils aus Westeuropa und Nordamerika übernommen worden waren, vermeldeten die australischen Wissenschaftler einen weltweiten Rückgang aller Insektenarten von mehr als 40 Prozent, wovon laut den Forschern vor allem Schmetterlinge, aber auch Hautflügler wie Ameisen, Wespen oder Bienen am stärksten betroffen waren. Die australischen Wissenschaftler hatten dabei sogar das Schreckgespenst an die Wand gemalt, dass es in 100 Jahren keine Insekten mehr geben werde, falls weiterhin jedes Jahr so viele Arten aussterben sollten. Schon jetzt sei ein Drittel aller Arten vom Aussterben bedroht.
Im April 2020 publizierte das Fachjournal „Science“ die bislang größte weltweit erstellte Meta-Studie zum Thema Insektensterben. Das Deutsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), die Universität Leipzig und die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg relativierten darin die in den Medien kursierenden extrem hohen Zahlen deutlich.
Tiere in Bodennähe besonders bedroht
Die Forscher werteten unter Federführung des Niederländers Dr. Roel van Klink so ziemlich alles aus, was weltweit zwischen 1925 und 2018 zum Thema Insektensterben veröffentlicht worden war, wobei sie das Schwergewicht auf die seit 1986 erstellten Studien legten. Sie analysierten die Daten aus 166 Langzeituntersuchungen von Insektengemeinschaften an 1.676 Standorten in 41 Ländern, wovon die Mehrzahl aus Regionen in Europa und Nordamerika stammten. Darüber hinaus gab es auch Informationen von allen anderen Kontinenten. Nur aus Indien und dem mittleren Osten konnten keine Daten ermittelt werden. Bei der Mehrheit der Datensätze (130) stand die Veränderung der Insektenhäufigkeit im Mittelpunkt, bei 13 Datensätzen fanden sich Angaben über Zu- oder Abnahme der Biomasse, bei den restlichen 23 Veröffentlichungen wurden beide Aspekte berücksichtigt.
Die Forscher konnten zwar den in früheren Studien ermittelten Rückgang der an Land lebenden Insekten bestätigen, wenn auch mit geringeren Raten als bislang allgemein angenommen wurde. Zugleich konnten sie jedoch eine bemerkenswert deutliche Zunahme der Süßwasser-Populationen registrieren. Laut den Forschern sind vom Insektensterben vor allem jene Tiere betroffen, die am Boden leben oder in Bodennähe fliegen. Während der Bestand der Insekten, die in oder auf Bäumen heimisch sind, nahezu konstant geblieben sein soll. Allerdings konnten bezüglich dieser allgemeinen Trends auch erhebliche Abweichungen in teils benachbarten Regionen ermittelt werden.
In nackten Zahlen übersetzt lautete das Ergebnis folgendermaßen: Der weltweit durchschnittliche Rückgang der terrestrischen Insektenhäufigkeit betrug rund neun Prozent pro Jahrzehnt. Die weltweite Zunahme der Süßwasser-Insekten-Häufigkeit lag bei rund elf Prozent pro Dekade. Für beide Zahlenangaben waren hauptsächlich Daten aus Europa und Nordamerika verantwortlich.
„Insgesamt fanden wir starke Hinweise auf einen Rückgang der Landinsekten“, so die Forscher, „den wir auf 0,92 Prozent pro Jahr schätzten, was -8,81 Prozent pro Jahrzehnt entsprechen würde. Im Unterschied dazu fanden wir einen jährlichen Anstieg von 1,08 Prozent für Süßwasserinsekten, was +11,33 Prozent pro Jahrzehnt entsprechen würde.“ Auch wenn die Resultate der Meta-Studie damit ein nicht ganz so bedenkliches Szenario wie die früheren Untersuchungen aufgezeigt hatten, so besteht bei Weitem kein Grund zur Entwarnung. Darauf hatten diverse Fachleute dringend aufmerksam gemacht, die selbst nicht an der Meta-Studie beteiligt waren.
25 Prozent weniger in 30 Jahren
„Erstens sind auch neun Prozent Abnahme pro Jahrzehnt bei landlebenden Insekten langfristig eine Katastrophe“, so Prof. Johannes Steidle, Leiter Chemische Ökologie an der Universität Hohenheim. „Und zweitens ergeben sich die niedrigen Gesamtzahlen vor allem dadurch, dass die Daten für Weltregionen außerhalb von Nordamerika und Europa deutlich geringere oder keine Abnahmen zeigen, wobei es aus diesen Regionen aber auch viel weniger Studien gibt.“
Ein Rückgang der landlebenden Insekten wie Schmetterlinge, Heuschrecken oder Ameisen (der Honigbiene soll es übrigens hierzulande laut Angaben des Naturschutzbundes Deutschland vergleichsweise gut gehen) um knapp 25 Prozent über einen Zeitraum von 30 Jahren ist ja wahrlich kein Pappenstiel, wobei die größten Verluste ab dem Jahr 2005 registriert werden konnten. Zudem hatte das Autoren-Team von einem leisen Verschwinden gesprochen, denn ein knappes Prozent pro Jahr klinge erst einmal nicht nach sonderlich viel. „Das fällt eigentlich nicht auf, bis man nach zehn Jahren oder sogar nach 30 Jahren zurückgeht an den gleichen Platz. Dann sieht man: Es gibt jetzt viel weniger oder gar keine Insekten mehr“, so Dr. Roel van Klink. Vor allem in Deutschland ist der Insektenrückgang im internationalen Vergleich laut den Forschern besonders stark ausgeprägt. „In Deutschland sieht’s tatsächlich ziemlich schlimm aus“, so van Klink. „Fast alle Datensätze, die wir zur Verfügung hatten, zeigten Abnahmen. Es gab zwar einige, die stabil geblieben sind, aber die meisten haben Abnahmen gezeigt und daraus ergab sich insgesamt ein Rückgang von zwei Prozent pro Jahr.“ Für den Zuwachs in der Gruppe der Süßwasser-Insekten, was sich im Zeitraum von 30 Jahren mit rund 38 Prozent niederschlug, machten die Wissenschaftler die Verbesserung der Wasserqualität verantwortlich. „In den letzten 50 Jahren wurde weltweit viel getan, um verschmutzte Flüsse und Seen wieder zu säubern. Das stimmt zuversichtlich, dass wir die Trends auch bei Populationen umkehren können, die momentan zurückgehen“, so das Forscher-Team.
Den Ursachen des Insektensterbens konnten die Wissenschaftler in der Meta-Studie nicht auf den Grund gehen. Auch wenn aus ihrer Sicht die zunehmende Verstädterung einen ganz wesentlichen Faktor darstellt und auch die Lichtverschmutzung den Insekten schwer zu schaffen macht. Daneben gelten die Intensiv-Landwirtschaft mit dem Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln sowie den Monokulturen, aber auch der Klimawandel, der mit immer früher blühenden Pflanzen den Insekten-Rhythmus erheblich durcheinanderbringt, als wesentliche Gründe für das kontinuierliche Verschwinden der Tiere. Die sind für unsere Ökosysteme jedoch unersetzlich. Mit fast einer Million bekannter Arten sind die Insekten die mit Abstand größte Tierklasse und bilden gut 70 Prozent der Tierarten weltweit. Die Mehrzahl der Insekten harren noch ihrer Entdeckung, schätzungsweise gibt es zwischen fünf und sieben Millionen Arten. Rund 85 Prozent aller Pflanzenarten sind abhängig von der Insektenbestäubung. Für rund 60 Prozent der heimischen Vögel und diverse andere Tiere bilden die Gliederfüßler die Hauptnahrungsquelle. Neben dem Bestäuben sind Insekten auch überaus nützlich beim Zersetzen abgestorbener Biomasse, beim Reinigen von Wasser oder bei der Verbesserung der Bodenqualität.