Christian Petry, saarländischer Bundestagsabgeordneter und europapolitischer Sprecher der SPD, über die Asyl-Refom, Ungarns Probleme in der EU und warum sachliche Debatten immer schwieriger werden.
Herr Petry, wie sieht eine typische Woche von Ihnen im Bundestag aus?
Montags sind die vorbereitenden Sitzungen, die Abstimmungen unter den Koalitionsparteien. Dienstag startet bei mir mit der Arbeitsgruppe „Angelegenheiten der Europäischen Union“ der SPD-Bundestagsfraktion, wo die Wochenthemen, aber auch die langfristigen Themen bearbeitet werden. Dienstagnachmittag ist die Fraktionssitzung. Danach gibt es Gespräche aller Art: Gäste, ausländische Parlamentarier oder Kolleginnen, die mit dem europapolitischen Sprecher reden wollen. Mittwochs geht dann der Ausschuss los.
Sie meinen den Europaausschuss, dessen Obmann Sie sind …
Ja, dort werden alle europapolitischen Themen beraten und im üblichen Verfahren zur Kenntnis genommen. Am Mittwoch startet dann auch der Plenarbetrieb. Donnerstag ist der Haupttag. Freitagnachmittags geht es dann nach Hause.
Das ist eine volle Woche. Wie viel Zeit haben Sie dann noch für Ihren Wahlkreis im Saarland?
Wir haben 22 Sitzungswochen. Das heißt, grob gerechnet bin ich das halbe Jahr in Berlin. An den Wochenenden fahre ich nach Hause. In der zweiten Hälfte des Jahres, die eigentlich für den Wahlkreis wäre, bekomme ich als europapolitischer Sprecher nicht nur viel Auslandsbesuch, sondern fahre auch umgekehrt viel ins Ausland.
Wohin fahren Sie zum Beispiel?
Ich betreue verschiedene Regionen, insbesondere den Balkan und das Schwarze Meer mit der Ukraine und Russland. Das nimmt auch wieder einen Teil der Zeit in Anspruch. Etwa ein Drittel des Jahres ist intensive Wahlkreisarbeit mit Besuchen von Vereinen und Verbänden.
Warum fiel Ihre Wahl gerade auf Osteuropa und auf den Balkan?
Im Europaausschuss haben wir zwei Arten von Aufgaben. Das eine sind die fachlichen Aufgaben, zum Beispiel Tourismus, Sport, Soziales. Ich habe immer die makroökonomischen Ansätze der Finanzpolitik gemacht. Dann haben wir eine zweite Ebene mit der regionalen Betreuung. Jeder kriegt Länder, die er betreut. Ich habe meinen damals dienstälteren Kollegen den Vortritt gelassen. Spanien, Portugal und Italien waren schon weg. Im Prinzip habe ich zugegriffen bei dem, was noch übrig war. Das waren Bosnien, Serbien, Kosovo, Mazedonien, Albanien, Aserbaidschan, Armenien, Georgien, die Türkei, Moldau, Ukraine und auch Russland.
Gerade die Ukraine hat seit Anfang 2022 eine besondere Relevanz …
Ja, mit meiner damaligen Auswahl bin ich heute froh! Das sind genau die Länder, die für eine Europa-Perspektive und -Erweiterung anstehen, was auch in der politischen Debatte sehr intensiv ist.
Im vergangenen Monat haben sich die EU-Mitgliedsstaaten auf eine Asylreform geeinigt. Ist die Reform aus Ihrer Sicht gelungen oder eher verbesserungswürdig?
Das ist eine Einigung aus dem Rat der Innenministerinnen und -minister, die dann von den 25 der 27 Regierungschefs im Europäischen Rat begrüßt wurde. Jetzt geht es in den sogenannten Trilog, also in die Abstimmung mit der Kommission und vor allem mit dem Europäischen Parlament. Die Einigung ist ein großer Schritt, weil wir seit über zehn Jahren keine Fortschritte haben. Sich auf Mindeststandards für die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden zu einigen, um ein rechtsstaatliches, gesichertes Asylverfahren in allen europäischen Ländern sicherzustellen, ist ein großer Fortschritt. Jetzt geht es im Trilog zum Beispiel um die Frage, wie man das Grenzverfahren umsetzt. Muss es bei allen Personen angewendet werden, die aus Ländern mit niedriger Anerkennungsquote kommen und bei denen daher die Prüfung bereits an den Außengrenzen erfolgen soll? Oder gibt es Gruppen, etwa alle Familien mit Kindern, wo man besser das Asylverfahren in den entsprechenden Ankunftsländern umsetzen kann?
Es geht auch um Detailfragen, zum Beispiel bei besonderen Gruppen wie Kindern. Manche Länder sagen, man ist bis zwölf Jahre ein Kind. Wir sagen: Ein Kind ist bis 18 Jahre ein Minderjähriger und braucht besonderen Schutz. Diese Fragen werden jetzt geklärt. Da versuchen wir immer, unsere humanitäre Einstellung an den Tag zu legen.
Kann man humanitäre Standards an den Außengrenzen denn so einfach umsetzen?
Die Umsetzung dauert mindestens über zwei Jahre, bevor sie ihre Wirkung zeigt. 2026 ist anvisiert, bis wir tatsächlich Einrichtungen mit ausreichenden humanitären Standards haben. Aber wohlmöglich gibt es bis 2024 noch Verhandlungen in Brüssel.
Könnte es eventuell Probleme mit Mitgliedsstaaten wie etwa Ungarn geben, die sich von der EU-Flüchtlingspolitik oft abgrenzen?
Ich glaube, dass Ungarn tatsächlich mit dieser Lösung wenig Probleme haben wird, auch wenn die Regierung gegenwärtig aus innenpolitischen Gründen Stimmung gegen die Reform macht. Abgesehen von Ukrainerinnen und Ukrainern, die automatisch sogenannten temporären Schutz genießen und daher nicht als Flüchtlinge gelten, hat Ungarn zurzeit fast keine Asylsuchende. Das Land muss die wenigen, die es hat, ordentlich unterbringen. Das werden wir natürlich kontrollieren. Ich war selbst schon zweimal in entsprechenden Einrichtungen in Budapest. So wenig ich Orbán mag, an sich sollte das nicht sein Problem sein.
Was wird denn das Problem des ungarischen Ministerpräsidenten sein?
Sein Problem wird der Umgang mit Russland und mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sein. Das wird ein Problem sein und unsere Forderung, dass die Justiz unabhängig sein muss und dass er seine Gesetze zur Beschränkung der Medienfreiheit zurücknimmt.
Auch in Deutschland gibt es kritische Stimmen, die sagen, dass unsere Justiz nicht so unabhängig ist, wie sie von der Gewaltenteilung her gedacht sind.
Ja, weil wir nach der deutschen Justiztradition eine weisungsgebundene Staatsanwaltschaft haben, während es nach der europäischen Vorstellung eine nicht weisungsgebundene Staatsanwaltschaft geben soll.
Müsste das denn nicht geändert werden?
Das ist nicht das Hauptthema. Wichtiger ist ein unabhängiger Richter als ein ungebundener Staatsanwalt. Es gibt keine Stellungnahme der Europäischen Union, dass dieses Weisungsrecht missbraucht worden wäre – zum Beispiel für politische Zwecke zur Verfolgung des politischen Gegners, wie das in der Türkei der Fall ist. Das gibt es bei uns natürlich nicht. Aber dass dienstrechtlich gesehen die Staatsanwaltschaft in die Organisation eines Justizministeriums eingebunden ist, bringt – eher theoretisch, nicht in der Praxis – eine Weisungsbefugnis mit sich.
Verschwimmt an diesem Punkt denn nicht die Gewaltenteilung?
Das Wesentliche bei der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte. Das sind die Richter und die dahinter stehenden Beschäftigten. Aber um den Bedenken Rechnung zu tragen, ist im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir das externe ministerielle Einzelfallweisungsrecht gegenüber den Staatsanwaltschaften an die EU-Vorgaben anpassen.
Wie geht es denn aus Ihrer Sicht der Demokratie in Deutschland?
Uns geht es demokratisch gesehen sehr gut, was die Voraussetzungen angeht: Wir wählen, wir wählen neu, wir wechseln die Regierungen. Wenn ich mir die Reden im Parlament anhöre, darf man mittlerweile alles sagen, ohne dass es eingeschränkt ist, bis weit über die Schmerzgrenze hinaus.
Es hat auch jeder, zumindest theoretisch gesehen, Entwicklungsmöglichkeiten in alle Richtungen. Vieles ist leider immer noch vom Geld abhängig. Wir kennen die Statistiken, dass Kinder aus reichen Familien von der Bildung her dann doch etwas weiter oben stehen. Da gibt es noch Punkte, an denen man etwas verbessern kann. Aber wenn ich einen Strich darunter ziehe und das, was ich als europapolitischer Sprecher in Europa betrachte und über den Rand hinaus schaue, liegen wir ziemlich weit oben.
Umfragen zufolge schwindet das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Demokratie hierzulande.
Das ist eine Entwicklung, die schon seit 30 Jahren geht und sich wie eine Spirale hochschraubt – vielleicht jetzt noch etwas schneller durch die sozialen Medien, die wir seit einigen Jahren haben. Die Spirale war aber vorher schon da. Was mich ein bisschen traurig stimmt, ist, dass es oft schon zu Beginn einer Debatte nur hell und dunkel gibt. Man hat schon nach zwei Minuten ein abschließendes Urteil und kommt schwer davon weg und polarisiert. Das ist schade. Dem müssen wir als Demokraten entgegenwirken und versuchen zu überzeugen und zu diskutieren. Ich mache das mal an einem aktuellen Beispiel fest, am sogenannten Heizungsgesetz …
Dessen Abstimmung im Bundestag das Bundesverfassungsgericht kurz vor der Sommerpause gestoppt hat.
Ich wurde in den letzten Monaten oft gefragt: Was habt ihr denn da im Parlament beschlossen? Und ich habe gesagt: Wir haben das Gebäudeenergiegesetz bis dahin noch gar nicht im Parlament. Das heißt: Es wird gar nicht mehr genau hingesehen. Das erschwert natürlich eine sachliche Debatte.
Wie könnte man denn zu so einer sachlicheren Debatte gelangen, ohne dass es gleich zu Polarisierungen kommt?
Ändern könnte man es in einem großen gesellschaftlichen Konsens der Demokraten und der Medien. Bei der Gemengelage und der Konkurrenzlage der Medien untereinander, bei den demokratischen Parteien untereinander und bei der Schnelllebigkeit, die wir haben, ist dieser notwendige Konsens schwer herstellbar. Aber es wird gehen, wenn alle an einem Strang ziehen und sagen: Leute, wir müssen einfach noch einmal ein, zwei Gänge zurückschalten. Das ändert nichts daran, dass man unterschiedlicher Meinung ist. Das muss bleiben, aber so könnte es gehen.
Sie haben eben auch die unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen angesprochen. Während der Corona-Krise gab es Lockdowns und lange Schulschließungen, unter denen die Kinder und Jugendlichen zu leiden hatten. Jetzt sehen wir, dass viel mehr Kinder und Jugendliche psychische Probleme und große Bildungslücken haben. Müsste nicht eine Aufarbeitung stattfinden, damit so etwas nicht noch einmal passiert?
Die Aufarbeitung gibt es ja. Wir haben auch schon Ergebnisse wie Handlungsanweisungen für mögliche Folgefälle. Da Bildungshoheit Hoheit der Länder ist, kann ich das nicht für alle Länder sagen. Im Saarland gibt es Handlungsanweisungen, wie zum Beispiel künftig auch mit Schulschließungsdebatten umzugehen ist. Das ist das eine.
Und das andere?
Das andere ist die Dauerdebatte, die Chancengleichheit unabhängig vom Einkommen der Eltern zu verbessern. Da ist schon vieles besser geworden. Doch es gibt noch Luft nach oben.
Was hat sich denn konkret verbessert?
Da geht es um Ausbildungsvergütung, da geht es um die Meisterausbildung und die Finanzierung selber. Da gibt es noch große Unterschiede. Bis vor Kurzem musste man zum Beispiel, um Erzieherin oder Erzieher zu werden, noch selbst dafür bezahlen. Verschiedene Ausbildungen konnten bis zu 10.000 Euro kosten. Das müssen beispielsweise künftige Erzieher jetzt nicht mehr. Hier ist unsere Traumvorstellung natürlich, dass die Bildung in allen Facetten, ganz gleich, ob eine berufliche oder schulische Bildung, mehr oder weniger kostenfrei angeboten wird. Aber es gibt noch andere Förderungsmöglichkeiten. Das ist eine Daueraufgabe. Daran müssen wir arbeiten. Auch das kann neben dem, was Corona bedauerlicherweise auch bei vielen jungen Menschen bewirkt hat, helfen.
FDP und CDU hatten im Frühjahr eine Corona-Enquete-Kommission im Bundestag gefordert.
Es gibt dazu Ausschüsse und Expertenanhörungen. Wir bekommen sie auch alle zugeschickt. Was uns interessiert, ist natürlich eine Abstimmung auf europäischer Ebene. Da haben wir die Forderung, dass dieser Fehler, dass man sich in der frühen Phase von Corona sehr national verhalten und zu wenig abgestimmt hat – bis hin zu Grenzschließungen – nicht mehr passiert. Das ist aber alles schon bereits in den europäischen Räten beschlossen, dass das beim nächsten Mal hoffentlich anders werden wird.
Womit wir wieder bei Europa sind. Was ist Ihnen besonders wichtig in puncto Europa?
Mein Kernanliegen ist, auch im Hinblick auf die Wahl (Europawahl, Anm. d. Red.), die im nächsten Jahr ansteht, dass wir als demokratische Parteien versuchen, das Positive von Europa in den Vordergrund zu stellen, ohne die Kritik zu vergessen.
Was ist denn das Positive aus Ihrer Sicht?
Das Positive ist, dass Europa ein Raum der liberalen Demokratien und der Offenheit ist, dass es wirtschaftlich stark sein und Wohlstand sichern kann. Und dass es in der heutigen Zeit die Sicherheit nach außen stärkt, was der Russlandkrieg gezeigt hat. Dass Europa aber auch in der Nachhaltigkeit und für die Umwelt ein Ort des Schutzes sein kann, den man nur gemeinsam und nicht national organisieren kann. Dass wir dieses Positive in den Mittelpunkt stellen, auch mit dem Gedanken, Tendenzen von beiden Rändern der Politik entgegenzuwirken.