Lennard Kämna ist für seinen spektakulären Angriffsstil bekannt. Doch beim Giro d’Italia startet der deutsche Radprofi erstmals als Klassementfahrer bei einer großen Rundfahrt. Ständige Attacken sind ab jetzt verboten.
Beim Giro d’Italia 2022 war Lennard Kämna ganz in seinem Element. „Lennard hat im letzten Jahr gezeigt“, sagte der frühere Radprofi und heutige Eurosport-Experte Jens Voigt, „dass er als ‚freies Elektron‘ sehr erfolgreich sein kann.“ Das bedeutet: Kämna genoss viele Freiheiten, er vertraute bei der Renntaktik mehr seinen Instinkten als den Vorgaben seiner Chefs – und das mit Erfolg. Der Profi des deutschen Rennstalls Bora-Hansgrohe gewann die erste Bergankunft am Ätna auf Sizilien, als er sich in einem grandiosen Etappen-Finale beim Schlussanstieg im Sprint gegen den Spanier Juan Pedro López durchsetzte. Auch bei der letzten Bergetappe am Passo Fedaia war der Deutsche so auffällig wie kaum ein anderer Fahrer im Feld: Kämna hatte sich in einer Ausreißergruppe sehr formstark gezeigt und am Ende wichtige Helferdienste für seinen Kapitän Jai Hindley geleistet.
Nicht nur die deutschen Radsportfans lieben diesen aggressiven und spektakulären Angriffsstil von Kämna – doch der wird bei der 106. Auflage des Giros nicht zu sehen sein. Kämna ist weder verletzt noch erkrankt, er ist beim Startschuss am 6. Mai in Fossacesia Marina dabei. Allerdings nicht mehr als Etappenjäger, sondern als Klassementfahrer. Der hochtalentierte Bremer ist einer von zwei Kapitänen, mit denen Bora-Hansgrohe den Titel von Hindley aus dem Vorjahr erfolgreich verteidigen will. Neben Teamkollege Alexander Wlassow soll Kämna erstmals in seiner Karriere bei einer dreiwöchigen Rundfahrt einen Angriff auf die Gesamtwertung vornehmen. Das Rosa Trikot des Gesamtführenden ist Kämnas Traum, auch wenn er die Erwartungen bei seiner „Jungfernfahrt“ lieber dämpft.
Titel soll verteidigt werden
„Ich sehe mich da als jemanden, der sich im Schatten des Größeren ausprobieren darf“, sagte „Capt‘n Kämna“. Die internationale Konkurrenz ist groß, oder wie sein Teamchef Ralph Denk es ausdrückt: „Da vorne ist die Luft sehr dünn.“ Neben dem dreimaligen Vuelta-Gewinner Primož Roglič aus Slowenien ist vor allem das belgische Ausnahmetalent Remco Evenepoel zu beachten. Der 23-Jährige hatte im Vorjahr bei der Straßenrad-WM und der Vuelta triumphiert, viele Experten trauen ihm eine jahrelange Dominanz zu. So weit ist Kämna längst noch nicht, als Klassementfahrer ist der Norddeutsche quasi ein Anfänger. Er sei in einem Stadium seiner Karriere angekommen, in dem er den nächsten Schritt wagen wolle. Im Alter von 26 Jahren muss Kämna den Radrennsport zwar nicht komplett neu erlernen, aber sich gehörig umstellen. Vor allem muss er lernen, sich zurückzuhalten.
„Ich bin sonst immer jemand, der sehr offensiv in ein Rennen startet, wenn er die Möglichkeiten dazu hat. Wenn ich dann irgendwo Zeit verliere, ist es mir dann relativ egal“, sagte Kämna: „Ich kann immer mit offenen Karten spielen.“ Doch diese Zeit ist zumindest während des Giros vorbei. Kämna muss viel mehr taktieren und seine Kräfte haushalten. In der ersten Woche möglichst im Windschatten seiner Teamkollegen oder Konkurrenten fahren, Stürze vermeiden, Kontrolle ausüben. „Das wird sich jetzt sicher etwas verändern, ich muss natürlich ein bisschen defensiver fahren“, weiß Kämna: „und dann schauen, wie weit ich komme.“ So ganz aus seiner Rolle als Jäger kommt Kämna aber nicht. „Ich hoffe, dass ich die Rennen auch offensiv aus der Hauptgruppe gestalten kann“, sagte er. Wohl wissend, dass das quasi die Königsaufgabe eines Klassementfahrers ist. Das sei „ein Riesenschritt, da muss ich geduldig sein.“ Aber kann er das, geduldig sein?
„Wie zuvor ein Freigeist auf dem Rad zu sein und spektakulär zu attackieren, ist nicht vereinbar mit dem neuen Weg“, sagte Bora-Hansgrohe-Teamchef Denk: „Das ist ihm und uns bewusst – und hoffentlich auch seinen Fans.“ Kämna dürfe beim Giro „nicht ganz so offensiv fahren, wie es vielleicht sein Naturell ist.“ In der ersten Woche, in der die Klassementfahrer in der Regel defensiv agieren, werde die Teamführung seinen Top-Fahrer sicher „ein Stück weit bremsen“ müssen. Danach aber soll Kämna seine Erfahrungen selbst machen. „Klassementfahren bedeutet: In sich ruhen, auch mal abwarten“, erklärte der Sportliche Leiter Rolf Aldag, der in Kämna schon länger das Potenzial für einen Podest-Anwärter bei großen Rundfahrten sieht. Warum? Weil man als solcher den Rennverlauf immer beobachten und lesen müsse, „und das kann Lennard Kämna wie fast kein anderer“, sagte der frühere Profi. In diesen Situation sei Kämna „so ein bisschen wie ein Raubtier“.
„Nicht ganz so offensiv fahren“
Macht dieses „Raubtier“ gleich bei seinem ersten großen Jagdversuch Beute in Form eines Rosa Trikots? „Ich will bei Lennard jetzt nicht vom Giro-Sieg reden, denn er ist bei einer dreiwöchigen Rundfahrt noch nie auf Ergebnis gefahren, sondern hat sich immer einzelne Etappen rausgesucht“, sagte Denk. Aber der Rückstand auf den Gesamtführenden soll bei der Endabrechnung nicht zu groß sein. Den diesjährigen Giro haben sich die Teamführung und Kämna nicht zufällig für das Experiment ausgesucht. Das Profil liegt dem 1,81 Meter großen und 65 Kilogramm schweren Athleten, auch die insgesamt drei Zeitfahren sind ganz nach seinem Geschmack. Als Junior hatte er sich 2014 zum Zeitfahr-Weltmeister gekürt, diese Disziplin danach aber aufgrund seines veränderten Aufgabenprofils etwas schleifen lassen. Als Klassementfahrer ist das Rennen gegen die Uhr für Kämna wieder deutlich bedeutender, entsprechend fleißig hat er dies trainiert. „Es gibt viele Zeitfahrkilometer, und ich glaube, ich habe im letzten Jahr ganz gute Schritte nach vorne gemacht. Ich sehe mich da in einer guten Rolle“, meinte Kämna.
Auch der frühere Tour-de-France-Etappensieger Jens Voigt, der einst den Aufstieg und späteren Fall des bislang letzten großen deutschen Rundfahr-Spezialisten Jan Ullrich hautnah miterlebt hat, sieht Kämna auf einem guten Weg. „Es fehlt ihm nicht viel zu den ganz großen Namen“, sagte der heutige Eurosport-Experte, der dem Bora-Kapitän beim Giro eine Menge zutraut. Auch, weil Kämnas jüngste Leistungen Anlass zur Hoffnung geben: „Er wird jede Menge Selbstbewusstsein getankt haben und weiß jetzt, dass er bis zum Ende bei den Topfahrern mithalten kann. Er muss nicht früh angreifen und Kamikaze-Attacken starten, sondern kann auf seine Stärke vertrauen.“
Kämna ließ mit einem Sieg auf der Königsetappe der Tour of the Alps aufhorchen, als er bei der Bergankunft in Brentonico San Valentino seinen ersten Saisonsieg vor Teamkollege Wlassow feierte. „Meine Form ist gut, aber mir fehlt noch die Explosivität, um Attacken mitzugehen, darum habe ich es schon relativ früh versucht“, sagte Kämna hinterher. Am Ende belegte er in der Gesamtabrechnung Platz sechs mit einem Rückstand von 45 Sekunden auf den britischen Gesamtsieger Tao Geoghegan Hart. Eine gute, aber keine herausragende Generalprobe für den Giro. Doch das ist genau so gewollt, erst in Italien will und soll Kämna zur Höchstform auflaufen. Auf diese drei Wochen im Mai war auch das Höhentrainingslager auf Teneriffa ausgerichtet, das er erstmals mit der Mannschaft absolviert hat. Dass er zu Saisonbeginn deshalb genau wie seine Teamkollegen nur schwer in Fahrt kam, wusste er. Doch um bei den Rundfahrten mit den besten Kletterern mitzuhalten, musste er seinen Trainingsplan und vieles mehr umstellen.
Die Wirkung dieser Veränderungen braucht Zeit. „Ich bin immer noch nicht da, dass ich sage: Ich gehöre zu den Top Ten der besten Bergfahrer der Welt.“ Schnelle Beine in den Bergen ist das eine, das Taktieren als Kapitän das andere. Das konnte Kämna beim Traditionsrennen Tirreno–Adriatico testen, das er zwischenzeitlich im Blauen Trikot sogar anführte und auf einem beachtlichen vierten Platz beendete. „Meine Form ist gut. Es fehlte einfach noch das letzte Bisschen, die letzten paar Prozent nach ganz vorne“, sagte Kämna danach. Auch Teamchef Denk war zufrieden, auch wenn es „schade“ gewesen sei, „dass es für das Podium noch nicht gereicht hat“. Doch, so meinte Denk, „wer weiß, wofür das gut ist“.
Transformation öfter missglückt
Ohnehin versucht das Team, die Erwartungshaltung nicht zu hoch zu schrauben. So eine Transformation zu einem Klassementfahrer ist schon bei ganz anderen Profis missglückt, Rückschläge sind bei diesem Projekt eingepreist. Bei Kämna kommt hinzu, dass seine Karriere schon mal in Trümmern lag. Vor zwei Jahren hatte der Bremer allen große Rätsel aufgegeben, als ihn Niederlagen zu sehr aus der Bahn gebracht und Erfolg kaum glücklich gestimmt hatten. Zudem verausgabte er sich über die Maßen – ohne seinem Team über die Ermüdungserscheinungen ausführlich zu berichten. „Er hat gelernt, auch uns öfter ein Update über seinen körperlichen Zustand zu geben“, erklärte Denk. In seinen Körper hineinzuhorchen und sich die notwendigen Pausen zu nehmen – das wird jetzt noch wichtiger werden. Denn ans Limit wird ihn sein neuer Weg auch jetzt führen, und noch weiß keiner genau, was das aus Kämna machen wird. Und ob es funktioniert. Aber: „Er bekommt viel Vertrauen und die Stabilität, die er braucht“, versicherte Denk. Bora-Hansgrohe setzt auch dann auf Kämna, wenn das Experiment scheitern sollte. Sein Vertrag dort läuft noch bis Ende 2024. Doch Voigt ist sicher: „Lennard wird uns in diesem Jahr noch viele gute Rennen zeigen, auch beim Giro d‘Italia.“ Er sei „ganz dicht dran an der absoluten Weltspitze“.
Schon im Vorjahr war Kämna mit drei Siegen in UCI-Rennen der erfolgreichste deutsche Radprofi gewesen. Bei der Tour de France und beim Giro lieferte er als Etappenjäger große Unterhaltung, vor allem der fast schon legendäre Vogesen-Ritt bei der „Großen Schleife“ machte ihn weltweit bekannt. Den Etappensieg dicht vor Augen, wurde er wenige Meter vor dem Ziel auf der steilen Schotterrampe von den Topstars Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard überholt. Demnächst will er selbst die Ausreißer stellen.