Wissenschaftler haben entdeckt: Auch Maulwürfe können ihren Körper schrumpfen und wieder wachsen lassen. Diese faszinierende evolutionäre Errungenschaft nennt man Dehnel-Phänomen.
Quizfrage: Was haben Spitzmaus, Wiesel und Maulwurf gemeinsam und als evolutionären Vorteil dem Menschen voraus? Antwort: Sie sind in der Lage, im Winter ihren Körper samt Organen – sogar dem Gehirn – zum Energiesparen schrumpfen zu lassen und in der warmen Jahreszeit reversibel aufzubauen. Ein fantastisches Phänomen. Diese zellbiologischen und genetischen Mechanismen zu verstehen könnte der Medizin künftig enorme Fortschritte in der Bekämpfung von Krankheiten wie Alzheimer oder Osteoporose bescheren. Damit könnte schrumpfenden Hirnarealen bei Alzheimer oder der Ausdünnung des Knochengewebes bei Osteoporose durch körpereigene Regenerationsprozesse begegnet werden. Noch hat die Wissenschaft aber keine Ahnung davon, wie die drei genannten Säugetiere das mit dem Körpergrößen-Jo-Jo-Effekt anstellen.
Dieses Phänomen ist bei Spitzmäusen, Wieseln und Hermelinen schon etwas länger bekannt. Jüngst konnte ein Forschungsteam des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie in Radolfzell/Konstanz unter Leitung von Dr. Dina Dechmann und Dr. Lucie Nováková auch beim Europäischen Maulwurf Talpa europaea diese Eigenschaft nachweisen. Der Forschungsansatz war zugegebenermaßen nicht direkt auf einen etwaigen Nutzen in der Medizin ausgelegt, sondern auf eine weitere Bestätigung des sogenannten Dehnel-Phänomens. Aus diesem Grund haben die Wissenschaftler nur ganz am Ende ihrer im Fachmagazin „Royal Society Open Science“ veröffentlichten Studie auf einen möglichen praktischen Nebeneffekt hingewiesen: „Dass drei Taxa von Säugetieren, Spitzmäusen, Wieseln und Maulwürfen Knochen- und Hirngewebe schrumpfen und wieder wachsen lassen können, hat enormes Potenzial für die Erforschung von Krankheiten wie Alzheimer oder Osteoporose. Je mehr Säugetiere wir mit Dehnels entdecken, desto relevanter werden die biologischen Erkenntnisse für andere Säugetiere und vielleicht sogar für uns.“
Erstmals 1949 entdeckt
Das sogenannte Dehnel-Phänomen wurde nach dem polnischen Zoologen August Dehnel benannt, der den Effekt erstmals 1949 entdeckt hatte. Ihm war aufgefallen, dass von ihm im Winter gefangene Spitzmäuse deutlich kleiner waren als ihre im Sommer in die Fallen gegangenen Artgenossen. Ein von ihm daraus abgeleitetes Schrumpfen der Körpergröße während der kalten Jahreszeit wurde in der Wissenschaft lange Zeit angezweifelt oder zumindest mit gehöriger Skepsis aufgenommen. Es wurde argumentiert, dass es sich bei den Beobachtungen Dehnels, der im Winter flachere Schädel und kürzere Wirbelsäulen vermessen und einen Volumenrückgang um 20 Prozent festgestellt hatte, wahrscheinlich nur um einen Scheineffekt gehandelt haben müsse. Dieser sei dadurch zu erklären, dass große Tiere im Winter schlichtweg häufig sterben würden.
Es dauerte lange, genauer gesagt bis zum Jahr 2017, bis Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell/Seewiesen unter Leitung des Biologen Dr. Moritz Hertel und seiner Kollegin Dr. Dina Dechmann durch Versuche in Labor und Freiland den Nachweis erbringen konnten, dass die Waldspitzmäuse tatsächlich vor dem Winter schrumpfen. Die Tiere verloren in der kalten Jahreszeit bis zu einem Fünftel ihres Körpergewichts, wobei der gesamte Körper betroffen war: inklusive innerer Organe und sogar der Hirn- und Schädelknochen, deren Höhe im Schnitt um 15 bis maximal 20 Prozent abnahm. Im Frühjahr begann sich der Prozess umzukehren, die Insektenfresser nahmen wieder an Größe und Masse zu, blieben aber deutlich kleiner und leichter, die Schädelhöhe stieg lediglich um neun Prozent an. Bei einer dauerhaften Wiederholung des Zyklus müssten die Tiere daher eigentlich immer kleiner werden, was im Fall der Spitzmäuse allerdings nicht möglich ist, weil sie im Schnitt nur maximal 13 Monate leben.
„Spitzmäuse leben auf der Überholspur“, so Dr. Moritz Hertel. Ihr Stoffwechsel ist so schnell, und ihr Energiebedarf ist so hoch, dass die Tiere ununterbrochen fressen müssen. Schon zwei Stunden ohne Nahrungszufuhr sind für Spitzmäuse tödlich. „Normalerweise haben große Tiere bei Kälte einen Überlebensvorteil“, so Dr. Hertel, „die Spitzmäuse indes setzen auf eine andere, kurzfristige Strategie – die da lautet: Den Verbrauch drosseln wo es geht, im Energiesparmodus kommt man in kargen Zeiten besser über die Runden.“ Die Schrumpfung des Körpers beruht nicht auf einem Hungerprozess, sondern es handelt sich dabei um „ein genetisches Programm, das schon im August unter idealen Futterbedingungen startet“, so Dr. Hertel: „Ende Februar, Anfang März beginnen sie wieder zu wachsen.“ Dr. Dina Dechmann führt ergänzend hinzu: „Die Spitzmaus hat eine im Verhältnis zum Volumen große Oberfläche und könnte durch das Schrumpfen überlebenswichtige Energie sparen.“ Dass durch die Verkleinerung insbesondere des Gehirns auch dessen Leistungsfähigkeit abnehmen kann, kann sich die Spitzmaus laut Dr. Dechmann leisten, „weil ihre Umwelt auch einfacher wird im Winter“.
Nutzen für Alzheimer und Osteoporose?
Auch bei Wieseln und Hermelinen hatten die Wissenschaftler um Dr. Hertel und Dr. Dechmann das Dehnel-Phänomen anhand von Schädelveränderungen etwa zeitgleich nachweisen können. Und dabei auch auf mögliche positive Nebeneffekte für die Medizin hingewiesen: „Die Veränderungen am Knochen und den Organen liefern uns Ansatzpunkte für unsere weitere Forschung“, so Dr. Hertel. „So untersuchen wir zusammen mit Kooperationspartnern an einer Uniklinik die Veränderungen an der Knochensubstanz. Diese ähneln Vorgängen, wie sie bei Osteoporose ablaufen. Auch die Veränderungen an Gehirn und Herz könnten medizinisch interessant werden.“
Erste Hinweise darauf, dass auch bei Nerzen, Iltissen oder Maulwürfen ein jahreszeitenbedingtes Ab- und Wiederaufbauen der Körpermasse vorliegen könnte, konnte jüngst für Letztere, deren Lebensweise energetisch wie die der Spitzmäuse auf Messers Schneide steht, durch das am Bodensee beheimatete Forschungsteam um Dr. Dechmann und Dr. Nováková bestätigt werden. Die nur 60 bis 120 Gramm wiegenden Maulwürfe „haben einen extrem hohen Stoffwechsel“, so Dr. Dechmann, „und sind das ganze Jahr über in kalten Klimazonen aktiv. Ihre winzigen Körper sind wie turbogeladene Porsche-Motoren, die ihre Energiespeicher in wenigen Stunden aufbrauchen“. Die Wissenschaftler gingen davon aus, dass die Tiere durch das Schrumpfen von besonders energieaufwendigem Gewebe wie dem Gehirn ihren mangels ausreichender Futterquellen nicht deckbaren Energiebedarf in den Wintermonaten senken können. „Wir wussten, dass das Dehnel-Phänomen diesen Tieren hilft, in schwierigen Zeiten zu überleben“, so Dr. Dechmann. „Aber wir verstanden immer noch nicht, was die wirklichen Druckpunkte waren, die genauen Umweltauslöser, die diesen Prozess antreiben.“
Um dies herauszufinden, vermaßen und verglichen die Forschenden die in Museumssammlungen vorrätigen Schädel zweier eng verwandter, aber in unterschiedlichen Klimazonen lebender Maulwurfsarten, den Europäischen und den Iberischen Maulwurf. Sie richteten hierbei ihr besonderes Augenmerk auf die Veränderungen der Schädelform durch die Jahreszeiten. Dabei konnten sie feststellen, dass die Schädel des Europäischen Maulwurfs im November um im Schnitt elf Prozent geschrumpft und im Frühjahr wieder um vier Prozent angewachsen waren (am größten war der Unterschied bei Jungtieren im ersten Lebensjahr), während sich an den Schädeln des Iberischen Maulwurfs im Jahresverlauf keinerlei Veränderungen ablesen ließen. Dies musste den naheliegenden Schluss zur Folge haben, dass auch die klimatisch strengen Winter-bedingungen und nicht nur die Verfügbarkeit von Nahrung für die Veränderung des Gehirns verantwortlich sein müssen.
„Wenn es nur eine Frage der Nahrung wäre, dann müsste der Europäische Maulwurf im Winter schrumpfen, wenn die Nahrung knapp ist, und der Iberische Maulwurf im Sommer, wenn die große Hitze und Trockenheit die Nahrung knapp machen.“ Die Ergebnisse der Studie erweitern damit die Kenntnisse zum Dehnel-Phänomen, weil der evolutionäre Vorteil der reversiblen Größenveränderung offenbar nicht nur durch die Nahrungsmittelknappheit angetrieben wird, sondern dass auch kalte Temperaturbedingungen dabei eine zentrale Rollen spielen. Da die fast blinden und bei der Nahrungssuche vor allem auf ihren Tast- und Geruchssinn angewiesenen Europäischen Maulwürfe im Unterschied zu Spitzmäusen fünf Jahre leben können und daher den Größenveränderungs-Zyklus öfter bewältigen müssen, könnte das verglichen mit dem Schrumpfen festgestellte geringere Nachwachsen bedeuten, dass die Tiere und speziell auch ihr Gehirn auf Dauer kleiner werden müssten. Doch darüber wollten die Forschenden keine treffsichere Vermutung äußern, weil sie die von ihnen ausgewerteten Stichproben als zu klein deklarierten.