Der Vergleich mit Yves Saint Laurent verdeutlicht die Anerkennung, die Charles de Vilmorin in der Modewelt genießt. Mit nur 23 Jahren gründete er sein eigenes Label und wurde mit 24 Jahren zum Kreativchef bei Rochas ernannt. Dieses Jahr kam nun seine Prêt-à-Porter-Kollektion auf den Markt.
Im Januar 2020 trat Jean Paul Gaultier nach 50 erfolgreichen Jahren in der Modebranche mit einer letzten großen Haute Couture-Show in den Ruhestand. Nur wenige Insider wussten, dass er in den folgenden Monaten im Stillen die Karriere eines jungen, völlig unbekannten Designers fördern würde. Dieser Designer, Charles de Vilmorin, hatte ein Jahr später unter den erschwerten Bedingungen des Corona-Lockdowns dank Gaultiers Protektion einen glanzvollen Einstieg in die glamouröse Modewelt, indem er als Gast in den offiziellen Kalender der Haute Couture Week aufgenommen wurde. De Vilmorin, ein gebürtiger Pariser, geboren am 25. Dezember 1996, absolvierte nach dem Abitur bis 2019 eine Ausbildung an der Chambre Syndicale de la Couture Parisienne und erwarb dann einen Masterabschluss am Institut Français de la Mode, dem Pariser Mode-Institut. Für das erforderliche sechsmonatige Praktikum musste er sich bei verschiedenen Pariser Modehäusern beweisen.
Großneffe des Schriftstellers
Doch dann kam ihm das Glück zu Hilfe, als ein anonymer Gönner fast die gesamte Abschlusskollektion von de Vilmorin an der Chambre Syndicale kaufte. Obwohl der Designer den Deal persönlich mit dem Sammler ausgehandelt hatte, entschied er sich, seinen Namen nicht preiszugeben. Mit diesem Geld konnte Charles de Vilmorin im April 2020 sein gleichnamiges Label gründen. Er begann mit dem Post einer auffälligen, bunten Patchwork-Bomberjacke mit einem auffälligen Herz-Print auf Instagram, die durchweg positive Reaktionen erhielt. Daraufhin entschied sich de Vilmorin, Variationen dieser Bomberjacke mit verschiedenen Mustern und Formen als seine DebütKollektion zu präsentieren. Seine erste Haute Couture-Präsentation im Januar 2021 zeigte elf handbemalte, gemusterte Outfits, darunter Leggings, Bomberjacken und Puffärmel-Kleider, die an die Werke von Christian Lacroix, Kansai Yamamoto und besonders an die bunten Nana-Skulpturen von Niki de Saint Phalle erinnerten und Aufsehen erregten. Seitdem interessieren sich besonders die französischen Medien für den jungen Designer als neues Wunderkind der Mode.
Vor allem sein berühmter Familienname spielt eine Rolle. Charles ist der Großneffe der bekannten französischen Schriftstellerin Louise de Vilmorin (1902 – 1969), die mit Antoine de Saint-Exupéry verlobt war und auf dem Familienschloss, dem Château de Vilmorin in Verrières-le-Buisson bei Paris, berühmte Künstler und Modemacher wie Coco Chanel oder Léo Ferré empfing. Deshalb wurde in einigen Veröffentlichungen fälschlicherweise behauptet, dass Charles de Vilmorin aus einem wohlhabenden Hintergrund stamme. Doch seine Eltern, eine Kunstprofessorin und ein Finanzexperte, konnten die gewählte Karriere ihres Sohnes finanziell nicht unterstützen. Bevor das Glück zuschlug, setzten sie ihn sogar unter Druck. Charles erinnert sich an klare Worte seiner Eltern: „Wenn du keine Arbeit findest, kommst du zu uns zurück. Wir kümmern uns um dich, wenn du deinen Lebensunterhalt nicht verdienen kannst.“ Dabei wurde übersehen, dass nicht alle Mitglieder der Familie de Vilmorin über beträchtlichen Reichtum verfügten.
Charles berichtet, dass sein Zuhause stets von einer kreativen und künstlerischen Atmosphäre geprägt war. Schon seit seiner Kindheit war er von Kunst fasziniert und begann frühzeitig mit dem Zeichnen. Mode war damals nicht sein Interessengebiet; vielmehr träumte er davon, Theaterregisseur zu werden. In seinem Großvaterhaus gab es sogar ein richtiges Theater mit Bühne, wo er selbst erdachte Stücke inszenierte. Auch das Kino übte eine große Anziehungskraft auf ihn aus, vor allem wegen der berühmten Filmplakate, die er dort finden konnte. Später kam ihm die Idee, dass Mode ihm die Möglichkeit bieten könnte, seine Leidenschaft für das Zeichnen und das theatralische Geschichtenerzählen durch das Entwerfen von Kostümen zu vereinen. Bevor er die Chambre Syndicale besuchte, hatte er noch nie eine Nähmaschine benutzt. Dort lernte er nicht nur das Zeichnen, sondern auch das Entwerfen von echten Kleidern. Er erlangte schnell Meisterschaft in diesem Handwerk, was sich in seiner Nominierung für verschiedene französische Modeauszeichnungen wie den Andam-Preis, den LVMH-Preis und den Pierre-Bergé-Preis im Jahr 2021 widerspiegelte.
Schwer zu durchschauen
Charles de Vilmorin nannte Fantasyfilme und Musik als seine Hauptinspirationsquellen. Da seine Familie einen landwirtschaftlichen Background hat, fühlt er sich besonders mit floralen Motiven verbunden. Sein Stil bewegt sich zwischen poppig, mystisch und psychedelisch, wobei seine leuchtenden Kreationen oft Bezüge zu Henri Matisse, den Zeichnungen von Jean Cocteau oder den Nanas von Niki de Saint Phalle aufweisen. Viele Experten verglichen ihn aufgrund seiner eleganten Erscheinung bereits mit dem jungen Yves Saint Laurent. Künstlerisch wurde er auch mit dem jungen Jean-Charles de Castelbajac in Verbindung gebracht, mit dem er tatsächlich häufig kommuniziert und die Vorliebe für Primärfarben teilt.
Ein weiteres Vorbild für de Vilmorin ist, aufgrund seiner Risikobereitschaft, der legendäre amerikanische Designer Alexander McQueen, doch stilistisch möchte er diesem nicht nacheifern. Charles mag Frauen, die schwer zu durchschauen sind und eine gewisse Unnahbarkeit ausstrahlen. Er bewundert Tilda Swinton und vor allem Isabelle Huppert als Paradebeispiele für diesen Frauentyp, da sie zwar kühl und geheimnisvoll, aber dennoch liebenswert sind.
Die Ernennung von Charles de Vilmorin zum neuen künstlerischen Leiter des renommierten Pariser Modehauses Rochas im Februar 2021 war eine regelrechte Sensation. Zu diesem Zeitpunkt hatte er erst zwei Kollektionen entworfen und sollte nun sowohl für Haute Couture als auch für Prêt-à-Porter verantwortlich sein. Dies war eine kühne Entscheidung für das 1925 von Marcel Rochas in der berühmten Pariser Rue du Faubourg-Saint-Honoré gegründete Modehaus. Seit 2015 gehört es dem Parfümkonzern Interparfums, der bestrebt ist, die Modedesignsparte von Rochas wiederzubeleben, nachdem der bekannte Designer Alessandro Dell’Aqua gescheitert war. Nach seiner Ernennung fühlte sich de Vilmorin sehr geehrt und betonte die besondere Verbindung seiner Familie zu Rochas und deren reichem Erbe. Er freue sich darauf, seine persönliche Note einzubringen und die Traditionen des Hauses neu zu interpretieren. Die Verbindung zwischen den Familien Rochas und de Vilmorin geht übrigens auf die freundschaftliche Beziehung zwischen Louise de Vilmorin und Hélène Rochas zurück, die das Modehaus erfolgreich nach dem Tod ihres Mannes weiterführte.
Unterschiedliche Geschichten
Einige Skeptiker bezweifelten sofort, ob die farbenfrohen Haute Couture-Kreationen
von de Vilmorin, mit aufgemalten Schmetterlingen, Regenbögen oder Clown-Motiven, mit der klassisch-eleganten Strenge von Rochas vereinbar wären. De Vilmorin selbst sieht darin kein großes Problem: „Die Rochas-Frau und die Charles de Vilmorin-Frau sind absolut nicht dasselbe. Es sind völlig unterschiedliche Geschichten. Die Rochas-Frau hat eine Vergangenheit. Sie ist selbstbewusster und anspruchsvoller.“ Letztendlich behielten die Skeptiker recht, denn die Sommerkollektion 2023 markierte das Ende von de Vilmorins dreijähriger Zusammenarbeit mit Rochas, als sein Abschied im April 2023 verkündet wurde. Es gelang ihm nicht, seine überschwängliche Kreativität mit den ultra-femininen Codes von Rochas zu vereinen. „Ich bin sehr früh dort angekommen, ohne allzu viel Erfahrung“, erklärte de Vilmorin. „Es war ein Sprung ins kalte Wasser, um zu lernen, wie man eine Kollektion entwirft und zum Leben erweckt.“ Neben dem Schneidern musste de Vilmorin auch die praktischen Abläufe in der Herstellung und Produktion eines Prêt-à-Porter-Hauses im Eiltempo erlernen. Bei seinem Rochas-Debüt für den Sommer 2022 präsentierte er eine poetische Welt in Flammen mit langen plissierten Lamé-Kleidern in Rot- und Schwarztönen, Baumwollkleidern und Fallschirmröcken. Die Winterkollektion 2022/2023 war deutlich dunkler und romantischer gehalten, mit Anzügen aus schwarzem oder terrakottafarbenem Satin, gerüschten Kleidern und Röcken sowie hoch taillierten Hosen. Die Sommerkollektion 2023 bot skulpturale Dimensionen aus Seide, Organza und feinster Baumwolle, mit gestuften Röcken und Volant-Ärmeln.
Während seiner Zeit bei Rochas setzte Charles de Vilmorin seine Haute Couture-Kollektionen für sein eigenes Label fort. In seiner Herbst-Winter-Kollektion 2021/2022, die per Video präsentiert wurde, zeigte er nicht nur farbenfrohe Kreationen, sondern auch 18 ultradunkle und radikale Silhouetten, darunter fließend-voluminöse und geschlitzte Kleider, Plisseemäntel und Steppanzüge. Für den Sommer 2022 wählte de Vilmorin das Motto „La danse macabre“ (Der Totentanz) und ließ sich dabei von Tim Burton-Filmen inspirieren. Einige Kleider waren mit Stoffskulpturen aus Miniaturskeletten verziert. Die Herbst-Winter-Kollektion 2022/2023 schien direkt aus der Commedia dell’Arte zu kommen, leicht modifiziert durch eine Science-Fiction-Ästhetik à la Tim Burton. De Vilmorin erklärte: „Ich wollte dieses Mal etwas Verrücktes machen. Dabei dachte ich an eine Geschichte, wie ein Planet von Außerirdischen zerstört und wieder aufgebaut wird.“ Ein Kleid mit einem plissierten Taftrock hatte ein Mieder, das wie eine Schnabelkreatur aussah, während ein Taftkleid an ein Zelt erinnerte und eine bemalte Kapuze an einen Raumanzug. Nach einer einjährigen Pause im offiziellen Kalender der Pariser Haute Couture-Week tauchte de Vilmorin für den Herbst-Winter 2023/2024 wieder auf. Seine Kollektion präsentierte er diesmal in Schwarz und Weiß, wobei der Eröffnungslook aus einem einfach drapierten weißen Kleid aus durchsichtigem Stoff bestand. Die Haute Couture für den Sommer 2024 ließ de Vilmorin im Januar 2024 aus.
Nachdem Charles de Vilmorin im Oktober 2023 den Vorsitz der Modejury beim Festival von Hyères übernommen und im Dezember 2023 die künstlerische Leitung der Galeries Lafayette Christmas übernommen hatte, präsentierte er kurz darauf, etwa vier Jahre nach Gründung seines Labels, seine erste Prêt-à-Porter-Kollektion für den Herbst-Winter 2024/2025 auf der neuesten Pariser Fashion Week. Die Kollektion bestand aus 25 Kleidungsstücke, darunter drei Kleider, ausgebeulte Jeans, ein Trenchcoat, verschiedene Hemden, Shorts, Bomberjacken, ein Rollkragenpullover, eine Daunenjacke und zahlreiche Schals. Das Konzept hinter der Kollektion ist der Aufbau einer Grundgarderobe, die in Zukunft weiterentwickelt und erweitert werden kann, ähnlich wie es Phoebe Philo praktiziert. De Vilmorin betonte: „Der Stil passt gut zu mir, er ist sehr klassisch mit einem Hauch von Exzentrik.“ Besonderen Wert legte er auf Qualität und Nachhaltigkeit der verwendeten Materialien wie Popeline, Seide, Seidentaft und Supima-Premium-Baumwolle.
Die Preise liegen im Durchschnitt zwischen 300 und 500 Euro, wobei für den mit Seidentaft gefütterten Trenchcoat etwa 2.000 Euro veranschlagt werden müssen. In Zukunft plant er, das Sortiment um Schuhe und Strickwaren zu erweitern. De Vilmorin strebt allerdings keinen großflächigen Vertrieb seiner Teile an. Ihm ist es wichtiger, die richtigen Käufer und Einzelhändler zu finden.