Tischtennis-Weltklassespielerin Ying Han gehört im Olympia-Jahr zu den größten Pechvögeln. Die Top-10-Abwehrstrategin ist nach ihrem zweiten Achillessehnenriss binnen weniger als sechs Monaten in Paris nur Zuschauerin.

Manches kann sich wirklich niemand ausdenken: Aufgrund eines buchstäblichen Dramas um ihre Spitzenspielerin Ying Han schmettern die deutschen Tischtennis-Damen in der letzten Olympia-Woche von Paris aller Voraussicht nach vergeblich um eine Medaille, die mit Han für die Europameisterinnen absolut in Reichweite gewesen wäre.
Weil der Sport allerdings eben doch nicht immer gerecht erscheint oder aber sich die oft beschworenen Tischtennis-Götter womöglich gegen die beste Abwehrspielerin der Welt verschworen haben mögen, steht Han nicht einer Top-10-Spielerin gebührend an der Seine in der Box, sondern liegt stattdessen am Rhein in Düsseldorf auf der Couch: Auf dem Weg nach Paris nämlich erlitt die zweimalige Olympia-Fünfte binnen 177 Tagen zunächst am rechten und danach am linken Fuß Achillessehnenrisse. Ob die immerhin schon 41 Jahre alte Defensivstrategin nun jemals wieder zu früherer Weltklasse zurückfinden oder überhaupt ihre Laufbahn fortsetzen können wird – alles steht in den Sternen.
Als „nur schwer zu erklärende Katastrophe“ beschrieb der deutsche Mannschaftsarzt Antonius Kass noch kurz vor der Eröffnungsfeier der Spiele die sportliche Tragödie. Um die Dimension der Unglücke von Hans bei WTT-Star-Contender-Turnieren zunächst im Januar in Doha/Katar sowie nicht einmal sechs Monate später in Bangkok zu verdeutlichen, zog der Sportmediziner einen vielsagenden Vergleich zum Glücksspiel: „Dass innerhalb so kurzer Zeit an beiden Füßen nacheinander die Achillessehne reißt, ist so selten wie ein Lottogewinn mit sechs Richtigen und Superzahl – eigentlich noch seltener.“
Dabei hatte Han sich scheinbar schon erfolgreich gegen die Rolle als Pechvogel im deutschen Frauen-Team gewehrt. Mit eiserner Disziplin, unbeugsamer Willenskraft und unbändiger Energie meldete sich die zweimalige Europe-Top-16-Gewinnerin im vergangenen Mai gerade einmal vier Monate bei Bundestrainerin Tamara Boros zum Training zurück und kämpfte sich Einheit um Einheit sowie Tag für Tag wieder an das Niveau ihrer Mitspielerinnen heran.

Ein Genesungsverlauf, der in kaum einem medizinischen Lehrbuch wiederzufinden ist und allen Prognosen schon nach vergleichsweise kurzer Zeit schlichtweg vier Wochen voraus war. Kein Wunder, stieg die Mutter einer elfjährigen Tochter doch bezeichnenderweise bereits einen Tag nach der Operation in einer Kölner Spezialklinik in das ambulante Reha-Programm ein und nutzte rund zwei Wochen nach dem Eingriff schon einen Spezialstiefel, der Han das Gehen und einen intensiveren Muskelaufbau auch am verletzten Bein ermöglichte.
„Normalerweise“, berichtete Han nach den ersten Übungsstunden über ihren Weg zurück, „normalerweise setzen die meisten Ärzte sechs bis neun Monate bis zur Wiederherstellung der vollständigen Belastungsfähigkeit an. Ich habe zwar die ersten zwei Tage nach Doha fast nur geweint, habe aber dann von Beginn an um jeden Prozentpunkt bei der Heilung gekämpft. Ich habe alles Erdenkliche gemacht, was man nur irgendwie machen konnte, wenn es auch nur die kleinste Chance auf Verbesserung versprochen hat. Ich war fünfmal in der Woche bei der Reha und habe auch körperlich zusätzlich immer etwas gemacht.“
Trainingsauftakt verlief erst einmal sehr gut
In Anerkennung ihrer Bemühungen um eine Rückkehr an den Tisch nominierten beim Deutschen Tischtennis-Bund (DTTB) Boros und Sportdirektor Richard Prause ihre Nummer eins im April frühzeitig für Olympia – vorbehaltlich weiterer Fortschritte bis zur Wiedererlangung einer realistischen Wettbewerbsfähigkeit. Der Plan ging zunächst auf, Hans Wiederkehr ins Training des Nationalteams widerlegte alle Skeptiker und verblüffte nahezu alle Experten.

So zufriedenstellend gestaltete sich der fortlaufende Formaufbau, dass Han Ende Juni schließlich auch selbst vom Unmöglichen und ihrer dritten Teilnahme an Olympischen Sommerspielen überzeugt war. „Meine Chancen auf Olympia sind ziemlich groß. Ich hoffe darauf und glaube vor allem auch daran – und wenn man daran glaubt, kann man alles schaffen.“
Nur wenige Tage später war von Hans unerschütterlichen Zuversicht nicht mehr als die Erinnerung geblieben, glich die aus China stammende Materialspielerin in Bangkok vielmehr nur noch einem einzigen bedauernswerten Häufchen Elend und war der Traum von Olympia in Paris ein zweites Mal, dieses Mal aber endgültig geplatzt.
Was war passiert? Nach einigen Abwägungen hatte sich Han zur Meldung für das 250.000-Dollar-Turnier in Thailands Metropole durchgerungen, um sich vor den Spielen doch einmal außerhalb des Trainings in einem ernsthaften Wettkampf zu beweisen. 176 Tage nach ihrem Malheur in der Wüste von Katar fühlte sich die Rechtshänderin „zwar noch nicht bei 100, aber bestimmt schon bei 80 Prozent“ und war vor ihrem Auftaktmatch – wie in Doha wieder gegen eine Südkoreanerin – „super aufgeregt“.
Trotz aller Nervosität jedoch gewann Han den ersten Satz nach 17 Punkten mit 11:6 – dann nahm das Schicksal seinen Lauf: Im zweiten Ballwechsel des zweiten Durchgangs sank die mehrfache Mannschafts-Europameisterin plötzlich zu Boden und griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Achillessehne des linken Fußes – das Ende aller Hoffnungen auf die zweite Olympia-Medaille nach Mannschafts-Silber vor acht Jahren bei den Spielen von Rio de Janeiro.
Sehnen waren nicht vorgeschädigt
Der Riss von Achillessehnen an beiden Füßen in so kurzer Zeit – ein Zufall. Kass war das zu einfach, der „Doc“ forschte nach einer Ursache für Hans beinahe beispielloses Pech und fand „tief in der Fachliteratur“ immerhin den Ansatz einer rationalen Erklärung: „Die Einnahme bestimmter Medikamente, die Makrolid-Antibiotika, führt dazu, dass in der Sehne kristalline Veränderungen stattfinden. Dabei schwächen größere Moleküle die Sehne so, wie heiße Kohle eine Eisplatte durchschmelzen kann, ohne aber die Sehne zu verletzen. Das könnte zu den Unglücken geführt haben, denn bei den Operationen war deutlich zu erkennen, dass Yings Sehnen – anders als in normalen Fällen von Achillessehnenrissen – in einem guten Zustand waren und nicht vorgeschädigt gewesen sind. Andererseits kann sich Ying nicht erinnern, solch ein Medikament genommen zu haben. Es bleibt auf jeden Fall ein Rest Unklarheit.“
Außer für Han war das Olympia-Aus der erfahrenen Abwehrerin auch für ihre Teamkolleginnen ein Schock. „Das war und ist emotional gar nicht so einfach zu verarbeiten, dass Ying nun doch nicht mit uns in Paris ist“, meinte die EM-Zweite Nina Mittelham schon vor der Abreise zu den Einzelwettbewerben in der ersten Olympia-Woche. Die neue Leitwölfin des DTTB-Teams kündigte jedoch auch eine Trotzreaktion an: „Wir müssen unsere Leistung jetzt auch für Ying an den Tisch bringen.“

Bundestrainerin Boros mochte angesichts von Hans Schicksal gar keine konkreten Ziele für die Spiele ausgeben. „Wir sind immer noch eine Mannschaft, die allen anderen Teams gefährlich werden kann, aber ehrlicherweise ist nun mein größter Wunsch für Paris, dass wir einfach nur gutes Tischtennis spielen und alle meine Spielerinnen vor allem gesund bleiben“, stellte die Kroatin ihre Prioritäten klar.
Schon über Olympia-Wettbewerbe hinaus muss Sportdirektor Prause planen. Von einem erzwungenen Umbruch durch Hans Pech – immerhin rückte die 23 Jahre jüngere Junioren-Europameisterin Annett Kaufmann für die Wahl-Düsseldorferin ins Olympia-Team – wollte Prause zumindest vorerst noch nichts wissen. „Es wäre viel zu früh, über die Zusammensetzung unseres Kaders nach Olympia zu spekulieren“, sagte der ehemalige Profi.
Tatsächlich hält der 56-Jährige ein abermaliges Comeback von Han keineswegs für ausgeschlossen. „Ying hatte es vor Bangkok geschafft zurückzukommen, und ich sehe keinen Grund, warum sie es nicht noch einmal schaffen sollte.“ Hans vergleichsweise hohes Alter soll dann auch kein Faktor für die Zukunftsplanungen sein, betonte Prause: „Wir unterscheiden nicht nach Alt und Jung, sondern nur nach gut und weniger gut.“