Die jüngste Reform zur finanziellen Entlastung von pflegenden Familienangehörigen ist kein großer Wurf. Das sagen nicht nur Experten. Das Urproblem bleibt die Personalgewinnung in der Pflege, sind sich die betroffenen Verbände einig.
Für Christine Vogler ist es ein großer Tag, der 25. Geburtstag des Deutschen Pflegerates. Seit fast fünf Jahren ist sie dessen Präsidentin und stolz auf das Erreichte, die Pflege ist in aller Munde. „Meine Vorgänger und vielleicht auch ein bisschen mein Wirken haben erreicht, dass die Pflege und die damit zusammenhängenden Aufgaben in der breiten Öffentlichkeit endlich richtig wahrgenommen werden“, freut sich die 53-Jährige. Beim Geburtstag im Festsaal eines Hotels gleich um die Ecke der Berliner Charité schaut dann auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vorbei. Für die gelernte Krankenschwester Vogler ein echtes Zeichen, dass nicht nur der Deutsche Pflegerat endlich von der Politik ernst genommen wird, sondern auch der Pflegeberuf in Gänze.
Christine Vogler macht den Job als Präsidentin des Deutschen Pflegerates mehr oder weniger ehrenamtlich. Im Hauptberuf ist sie die Geschäftsführerin des Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe der Vivantes und Charité in Berlin und kennt sich von daher schon bestens mit der Ausbildung von Pflegekräften aus. Allein der Umstand, dass die 53Jährige sozusagen nebenbei noch den Pflegerat leitet, spricht Bände.
Politischer Rahmen versus Pflege-Tagesgeschäft
Bereits in ihrem ersten Interview mit dem FORUM, als frisch gewählte Präsidentin, forderte Vogler, dass die Pflege eine eigene Kammer braucht, etwa vergleichbar mit der Bundesärztekammer.
Mit einer Pflegekammer „würde der Berufsstand erheblich aufgewertet und wir würden zum Beispiel im Gesundheitsausschuss des Bundestages viel mehr Gehör finden. Wir wären tatsächlich eine Lobbygruppe für die Pflege“. So argumentierte die Präsidentin des Pflegerates schon vor Jahren.
Mittlerweile ist auch Christine Vogler mit ihrem Vorhaben im Gestrüpp des föderativen Systems Bundesrepublik Deutschland angekommen. „Das Problem liegt wie immer im Detail. Für eine Bundespflegekammer braucht es erstmal ihre Entsprechung in den Ländern. Bislang haben sich nur Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz zu einer Landespflegekammer durchgerungen. Baden-Württemberg will dies noch in diesem Jahr umsetzen“. Drei Länder haben also mittlerweile eine Pflegekammer, doch Schleswig-Holstein und Niedersachsen haben diese wieder abgeschafft, „weil die Politik in den beiden Ländern einfach zu ungeduldig war“, so Vogler. Für sie auffällig, Pflege kennt keine Parteipolitik. In Hannover war es SPD-Ministerpräsident Weil, in Kiel sein CDU-Amtskollege Günther, der die Landespflegekammer wieder eingestampft hat. Bis zur Bundespflegekammer wird es also wohl noch ein langer Weg werden.
Neben der großen politischen Bühne ist es aber vor allem das Alltagsgeschäft, was die Menschen in Pflegeberufen umtreibt. Da geht es um die Einführung der Generalistik in der Ausbildung von Pflegekräften, ein hoch ambivalentes Thema. Früher gab es in der Pflege drei unterschiedliche Ausbildungsberufe: Kinderpflege, Krankenschwester und Altenpflege. Heute sind sie alle per Ausbildung zusammengefasst. In das FORUM-Gespräch mit der Präsidentin des Pflegerates mischt sich Kirstin Strack, die selber aus der Pflege kommt. Die 56-Jährige ist extra aus Bielefeld zum Festakt nach Berlin gekommen. Ihr Argument gegen die zusammengelegte Ausbildung: „Wer alle drei Berufe früher erlernen wollte, hätte dafür neun Jahre gebraucht, jetzt wird alles zusammen in drei Jahren vermittelt“. Stirnrunzeln bei Christine Vogler, auch sie sieht die Einführung der Generalistik bei der Ausbildung nicht unkritisch. „Das Problem ist, dass wir dieses Ausbildungsformat im Solo-Format eingeführt haben. Davor und dahinter liegende Bildungsformate müssen mitgedacht werden, nur die drei jährige Ausbildung ist zu kurz gesprungen. Also die Aus- und Weiterbildung drum herum müssen als zusätzliche Angebote fester Bestandteil werden. Aber klar ist, um dieses Ausbildungsformat kommen wir nicht mehr drum herum, das ist internationaler Standard“. Ohne die gebündelte Grundausbildung wird es Deutschland schwerer haben, Kräfte für die Versorgung von gesundheitlich Bedürftigen aus dem Ausland anzuwerben.
Das weiß auch Franz Wagner, fast 50 Jahre in der Pflege tätig, mittlerweile in Rente. Er war vor Christine Vogler vier Jahre Präsident des Deutschen Pflegerates. Der 66-jährige Niederbayer zeigt sich verärgert, gerade bei der Debatte um die Nachwuchskräfte. „Ich habe schon vor 15 Jahren in meinen Vorträgen immer wieder auf die demographische Entwicklung und den daraus resultierenden Bedarf an Pflegekräften aufmerksam gemacht. Damals gab es anerkennendes Nicken, aber sonst hat das eigentlich niemanden wirklich interessiert. Spätestens seit der Pandemie nun großes Aufjaulen und viel Aktionismus, der bisher nur wenig bringt“. Franz Wagner sieht hier mindestens 15 verlorene Jahre in der Pflege und spielt damit auch indirekt ein bisschen auf die damalige Amtszeit von Bundeskanzlerin Merkel an.
Dass es immer mehr Pflegebedürftige geben wird und die Situation in der Pflege für die Beschäftigten unhaltbar ist, manifestierte der damalige Gewerkschaftsfunktionär Wagner bereits im Herbst 2008 mit der Verdi-Unterschriftenaktion „Uns reichts.“ „Das Ergebnis war, dass dann einige Millionen für die Krankenhäuser lockergemacht wurden, und das war es dann auch. Um den Nachwuchs wurde sich überhaupt nicht gekümmert und um die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften schon gleich mal gar nicht“.
Beiträge allein werden nicht ausreichen
Was den ehemaligen Pflegeratspräsidenten Franz Wagner besonders erbost: Der Spielraum zur Umgestaltung der Pflege zu gestalten, wurde leichtfertig verspielt. Jetzt gehen nur noch radikale Maßnahmen, um einen Kollaps zu verhindern. Damit gemeint ist, der Pflegeberuf muss aufgewertet werden und das fängt beim Gehalt der Beschäftigten an. Dass gerade der Satz zur Pflegeversicherung um 0,3 beziehungsweise 0,6 Prozent ab dem 1. Juli angehoben wurde, hält nicht nur Franz Wagner für einen Tropfen auf den heißen Stein.
Auch seine Nachfolgerin als Präsidentin des Deutschen Pflegerates, Christine Vogler, hält das für nicht ausreichend. „Auch hier muss bei der Finanzierung dringend weitergedacht werden. Die reinen Versicherungsgelder werden in den kommenden Jahren zur Finanzierung der Pflege in allen Facetten nicht reichen. Da muss über eine umfassende Steuerfinanzierung gesprochen werden. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Pflegebeiträge nicht länger in Rendite-Unternehmen abfließen, sondern tatsächlich in der Pflege, bei den Betroffenen und den Mitarbeitern landen, und das weiß auch Karl Lauterbach“.
Ganz sicher ist Karl Lauterbach (SPD) bestens über die anstehende schwierige Finanzierung der Pflege informiert, immerhin ist er Gesundheitsökonom und Vater der Fallpauschale für die Kliniken. Die wurde vor über zwanzig Jahren unter der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) eingeführt und nun von Lauterbach in Teilen wieder abgeschafft. Er spricht heute nun überraschend von einer „Entkommerzialisierung“ des Gesundheitswesens. Diese 180-Grad-Kehrwende des heutigen Gesundheitsministers lässt viele der Gäste beim 25. Geburtstag des deutschen Pflegerates eher ratlos zurück. Das dumpfe Gefühl bleibt, dass niemand in der Politik einen wirklichen Plan hat, wie die Aufgaben der Gesundheitsversorgung zukünftig gestemmt werden sollen.