Lingshed im Hochland der nordindischen Himalaya-Provinz Ladakh ist ein kleines Dörfchen zwischen Tradition und Moderne. Ein Österreicher hat entscheidenden Anteil daran, dass die dortige Bevölkerung Zugang zu Bildung und damit zu Entwicklung hat.
Mein Atem geht schwer, der Schweiß rinnt mir am Körper hinunter. Langsam setze ich einen Schritt vor den anderen. Die Höhe macht mir zu schaffen. Ein junger Mann überholt mich, mit „Tschulleh“ freundlich grüßend. Kurz hinter ihm eine Frau mit einem Kleinkind an der Hand. Auch die beiden schmettern mir ein „Tschulleh“ entgegen und marschieren dann zügig an mir vorbei. Bis ich endlich zu Atem gekommen bin und zur Antwort ansetzen kann, sind sie schon hinter der nächsten Kehre verschwunden. Ich bin im Hochland von Ladakh unterwegs, wandere über mehrere 4.000 Meter hohe Pässe hinweg nach Lingshed, einem kleinen abgelegen Dorf inmitten majestätischer Berge. Ladakh liegt in Nordindien und zählt zu den höchsten bewohnten Gebieten der Erde.
Der gute Geist von Lingshed
An meiner Seite wandert Christian Hlade. Er ist Geschäftsführer des österreichischen Reiseveranstalters Weltweitwandern, eine Art Botschafter für Ladakh und so etwas wie der gute Geist von Lingshed. Es klingt ein bisschen wie im Märchen. Ein junger Mann aus Österreich macht sich auf den Weg in die Welt. Nach langer Reise kommt er in ein armes Dorf und wird dort mit großer Gastfreundschaft aufgenommen. Das beeindruckt ihn so sehr, dass er beschließt, den Menschen zu helfen. Und weil er Architekt ist, will er für die Kinder in dem Dorf eine Schule errichten. Geld hat er zwar keines, aber dafür umso mehr Überzeugungskraft. Und so gelingt es ihm schließlich, viele Leute in seiner Heimat für sein Projekt zu begeistern. Mit deren Spenden baut er eine Schule für die Kinder in dem entlegenen Dorf.
Die Geschichte ist aber kein Märchen, sondern hat einen realen Hauptdarsteller. Christian Hlade, der einstige Architekt ist inzwischen Reiseunternehmer und führt seine Gäste dorthin, wo er vor mehr als 20 Jahren die Schule baute – in die kleine Ortschaft Lingshed. Selbst heute muss man noch mehr als vier Stunden über steile Pässe wandern, bevor man vom Ende der Straße aus das Dorf erreicht. Zumindest ich bin so lange unterwegs. Die Einheimischen legen die Strecke in weniger als der Hälfte der Zeit zurück.
Als Hlade das erste Mal hierher kam, war er fünf Tage lang zu Fuß unterwegs. Und auch als man die Schule baute, musste das gesamte Material über Pässe und durch Täler herangeschleppt werden. Jetzt wird eine Straße nach Lingshed gebaut. Eigentlich sollte sie schon seit Jahren fertig sein, weil der Bauunternehmer aber mit dem indischen Staat über die Bezahlung streitet, ruhen die Arbeiten nun seit geraumer Zeit. Noch endet die Straße deswegen einige Kilometer vor dem Ort. Irgendwann aber wird sie nach Lingshed führen.
Schon jetzt bedeutet sie eine enorme Erleichterung für die Menschen. Fast scheint es so, als bedauere Christian Hlade die Veränderung ein wenig. Er gibt offen zu, dass er als Veranstalter von Wanderreisen mit Einbußen rechne, wenn die Autos durch die Berge rasen und der Zanskar-Treck, die bisher beliebteste Himalaja-Überquerung, an der auch Lingshed liegt, seinen Ruf verliert. Doch auch der Österreicher sieht die Vorteile für die Menschen. Die Zivilisation – und damit auch Ärzte, Krankenhäuser und Einkaufsmöglichkeiten – rückt näher. Wie überall stellt sich aber die Frage nach Nutzen und Gefahren, die die Moderne mit sich bringt. Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft, werden sie erhalten bleiben, wenn plötzlich Touristen in Massen durch das Dorf spazieren?
Wer heute nach Lingshed reist, kann Hlades Befürchtung nur zum Teil verstehen. Denn die bisher gebaute Straße ähnelt immer noch sehr einem Wanderweg. Befahrbar ist er nur mit starken Nerven und einem vierradbetriebenen Fahrzeug. Touristenbusse, die das Kloster von Lingshed als Fotostopp anfahren, kann man sich momentan noch schwer vorstellen.
Dorfspaziergang dauert halben Tag
Als wir in Lingshed ankommen, wird Hlade schon von den Honoratioren und den Kindern erwartet. Die stehen am Dorfeingang Spalier für den Mann, der durch den Schulbau das Leben im Dorf verändert hat. Die Beliebtheit des groß gewachsenen Österreichers färbt auch etwas auf seine Begleitung ab. Auch ich werde von allen Kindern des Dorfes begrüßt und bekomme einen Katak umgehängt, einen Schal, den man in Ladakh besonders willkommenen Gästen zur Begrüßung schenkt.
Seit einigen Jahren werden die Kinder in einem größeren Schulgebäude unterrichtet – indirekt hat aber Hlade auch zu dessen Bau beigetragen. Er erzählt, dass „seine Schule“ damals die indische Regierung herausgefordert habe. Die wollte sich nicht von einem irgendeinem Österreicher übertrumpfen lassen – und was jahrelang nicht möglich war, in Lingshed eine große Schule zu bauen nämlich, wurde nun innerhalb kürzester Zeit realisiert. Auch Stanzin Thinless, der junge Guide, der uns hergeführt hat, drückte hier die Schulbank. Er ist ein Beispiel dafür, was Bildung bewirken kann. Der junge Mann verdient mittlerweile gutes Geld im Tourismus und kann damit seine Familie unterstützen.
Inzwischen bringt Hlade regelmäßig Reisegruppen nach Ladakh – und oft genug auch nach Lingshed. Damit sorgt er dafür, dass sich die Menschen Geld verdienen können – als Guides, Träger, Köche oder indem sie ihre Pferde und Maultiere für den Lastentransport vermieten.
Lingshed ist ein kleines Dorf, in dem ein paar Hundert Menschen leben. 60, vielleicht 70 Häuser liegen verstreut in dem Hochtal. Wer einen „Dorfspaziergang“ unternimmt, ist locker einen halben Tag unterwegs und legt dabei auf und ab sicher 1.000 Höhenmeter zurück. Die grün leuchtenden Felder bilden einen deutlichen Kontrast zu den kargen Bergen, steile Hänge rahmen das Dorf ein. Erhaben mag man die Landschaft nennen – Wölfe durchstreifen die Gegend, auch wenn einem ein Yeti auf den Bergpfaden entgegenkäme, würde das niemanden wundern.
Lingshed liegt in einem Hochtal und bietet spektakuläre Fotomotive. Jeder Tourist kehrt von hier mit beeindruckenden Bildern nach Hause zurück. Zum Leben haben sich die Menschen von Lingshed aber eine der unwirtlichsten Gegenden unseres Planeten ausgesucht. Im Winter sinkt das Thermometer auf minus 30 Grad, im Sommer steigt es auf den gleichen Wert der Plusskala. Das schwere Leben und das Klima haben tiefe Furchen in die Gesichter der Menschen gezogen.
Wassermangel ist ein Riesenproblem
Anders als man es aus den im Himalaya spielenden Bergsteigerfilmen kennt, türmen sich hier keine meterhohen Schneemassen auf. Lingshed liegt auf der Nordseite des Himalaya-Hauptkamms, und bis dahin schaffen es die Wolken meist nicht. Schnee oder Regen fällt fast ausschließlich auf der Südseite der Berge. Und deswegen haben die Menschen ein riesiges Problem: Wassermangel. Früher speisten die Gletscher im Frühjahr und Sommer Flüsse und Bäche. Inzwischen sind sie – Stichwort Klimawandel – fast abgeschmolzen, die meisten Wasserläufe zu Rinnsalen verkommen. Die Felder können oft nicht mehr ausreichend bewässert werden, und so fällt die Ernte von Jahr zu Jahr spärlicher aus.
Selbst die Gerste, das Hauptnahrungsmittel in den Hochlagen des Himalayas, wird knapp. Fleisch von Yaks, Ziegen oder Schafen gibt es ohnehin nur an hohen Feiertagen. Dann tritt der nepalesische Schlachter des Ortes in Aktion. Er ist vor Jahren als Bauarbeiter ins Dorf gekommen und geblieben. Wenn auch die Menschen in Ladakh arm sind, so gibt es doch immer noch Ärmere. In der Regel heuert man Nepalis als Bauarbeiter an. Dass einer von ihnen dann als Metzger blieb, hat einen ganz praktischen Grund. Buddhisten, und das sind die Bewohner Lingsheds allesamt, dürfen zwar Fleisch essen, selbst schlachten dürfen sie aber nicht. Da war es durchaus willkommen, dass für die hinduistischen Nepalis dieses Tabu nicht gilt.
Der Weg von Lingshed zurück in die ladakhische Hauptstadt Leh ist auch heute noch eine Zweitagesreise. Eilig hat es hier in den Tälern zwischen den Himalaya-Gipfeln ohnehin niemand. Die Straßen sind holprig, die Berge steil und meist nur zu Fuß zu bezwingen. Die Langsamkeit aber gibt einem die Möglichkeit, genauer hinzusehen. Die grandiose Landschaft rast nicht vor dem Autofenster dahin, man muss sie Schritt für Schritt erobern. In den Klöstern bleibt Zeit, den Gebeten der Mönche zu lauschen oder mit ihnen in die Meditation zu versinken.
Ladakh ist ein Land, das seine Bewohner und Besucher zur Langsamkeit erzieht. Hier zählen nicht Minuten und Stunden, hier geht es um Größeres – um die sich beständig wiederholende Reise aus Leben, Tod und Wiedergeburt.