Deutschland liefert der Ukraine Geld und Waffen, lehnt aber viele Asylanträge von russischen Kriegsdienstverweigerern ab. Non-Profit-Organisationen kümmern sich um sie.
Ohne Soldaten kein Krieg. Demnach müsste Westeuropa russische Kriegsdienstverweigerer mit offenen Armen empfangen. Doch weit gefehlt. Deutschland lehnt wie andere EU-Länder die meisten Asylanträge russischer Kriegsdienstverweigerer ab.
So wie den von Danil zum Beispiel. Er kam kurz vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine mit einem Besuchervisum nach Deutschland. An seiner Jacke trägt er die weiß-blau-weiße Widerstands-Fahne für ein freies Russland.
Nach Kriegsbeginn beantragte der 31-Jährige Asyl. An dem „verbrecherischen Krieg“ wolle er nicht teilnehmen, nicht töten und nicht getötet werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat seinen Asylantrag abgelehnt. Jetzt wartet Danil auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über seine Klage gegen die Ablehnung. Die Zeit nutzt er, um Deutsch zu lernen. Dann will er eine Ausbildung machen, möglichst in einem technischen Beruf. Nach Russland werde er auf keinen Fall zurückkehren, sagt er.
Auch der Russe Wladimir (27) ist vor dem Krieg nach Deutschland geflohen. Wie Danil hat er lange vor dem Überfall auf die Ukraine als Wehrpflichtiger ein Jahr in der russischen Armee gedient. Für ihn wie für Danil „ein sinnloses, verlorenes Jahr“. Die meisten Offiziere, sagt der eher stille, nachdenkliche junge Mann, seien „verbitterte verunsicherte Menschen“, die ihre Wut an den jungen Rekruten ausließen. Die meiste Zeit im Militär musste er mit sinnlosen Tätigkeiten totschlagen. Ein Kommandant habe ihm und seinen Kameraden befohlen, einen verschneiten Platz mit Zahnbürsten zu räumen, berichtet er.
„Soll ich auf Oma schießen?“
Nun wartet Wladimir ebenfalls auf einen Bescheid vom BAMF. Gegen eine Ablehnung will er auf jeden Fall klagen. Nach Russland kann auch er nicht zurück. Verwandte und ehemalige Freunde hätten ihn als „Verräter“ fallen gelassen. In der Heimat drohen ihm Gefängnis und der Einsatz an der Front. Kurz nach dem Einmarsch in die Ukraine hat das Putin-Regime den Straftatbestand „Diskreditierung der Streitkräfte“ eingeführt. Ende Januar verurteilte ein Gericht eine 72-Jährige zu fünf Jahren Lagerhaft, weil sie zwei Social-Media-Posts gegen den Krieg gepostet hat. Kurz zuvor bekam ein 63-jähriger Mann wegen des gleichen „Vergehens“ sieben Jahre.
Trotz solcher Strafen protestieren Menschen in Russland – nicht gegen das Regime, sondern für bessere Bedingungen im Krieg: Die Bewegung „Put Domoij“ (Weg nach Hause) organisiert Widerstand auf ihrem Telegram-Kanal. Frauen beschweren sich öffentlich über die zum Teil erbärmlichen Verhältnisse, unter denen ihre Männer in der Armee dienen müssen. Binnen weniger Tage unterschrieben rund 200.000 Menschen für die Präsidentschaftskandidatur des Kriegsgegners Boris Nadeschdin. Er will im März bei den Präsidentschaftswahlen gegen Wladimir Putin antreten. Ob er zugelassen wird, ist noch unklar.
Den Krieg lehnt auch Flüchtling Wladimir ab, „egal warum und egal gegen wen“. Er sieht sich als „geborenen Pazifisten“, der dafür kämpfe, dass die Menschen ihre Konflikte „mit Worten austragen.“ Auch für die Ukraine würde er nicht zu den Waffen greifen. Dort lebt seine Oma mitten im Kriegsgebiet. „Soll ich auf sie schießen?“
Mehr Glück als Danil und Wladimir hat Artyom. Als Anwalt hat er schon vor dem Krieg in Russland für Oppositionelle gearbeitet. So erhielt er als politisch Engagierter ein humanitäres Visum des Auswärtigen Amtes. Das garantiert ihm ein Aufenthaltsrecht in Deutschland, zumindest bis Mai 2026. „Kein Land unterstützt russische Oppositionelle so wie Deutschland“, sagt der 26-Jährige. Er schätzt, dass bis zu 15.000 wehrpflichtige Russen in Deutschland Zuflucht gefunden haben.
In Russland werde es für Kriegsgegner immer schwieriger. Früher mussten die Militärbehörden Wehrpflichtige finden und ihnen den Einberufungsbescheid nachweislich zustellen, damit er wirksam wurde. Ab diesem Jahr reicht die Veröffentlichung des Einberufungsbescheids in einer Datenbank. Auch wer sich dort nicht einlogge, gelte als eingezogen. In Artikel 59 der russischen Verfassung sei, so Artyom, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und ein ziviler Ersatzdienst garantiert. Doch es fehle ein Ausführungsgesetz. So zögen die Militärbehörden auch Verweigerer ein.
In Deutschland setzt sich Artyom als Sprecher der Organisation Stop Army für russische Kriegsdienstverweigerer ein, stellt Informationsvideos auf Youtube, betreibt einen Telegram-Kanal, sammelt Geld, berät Kriegsgegner und vermittelt Rechtsanwälte. Tatsächlich hat ein Pazifist durch alle russischen Instanzen schon Recht bekommen. Der Oberste Gerichtshof habe entschieden, dass er nach Artikel 59 der Verfassung Zivildienst leisten dürfe. Er hatte schon vor Kriegsbeginn den Dienst an der Waffe verweigert.
Den Krieg nennt Artyom, der fließend Englisch spricht, „insane“, wahnsinnig. Das Putin-Regime zerstöre nicht nur die Ukraine. Es führe auch Krieg gegen die eigenen Leute. In diesem Jahrhundert werde es keine normalen Beziehungen mehr zwischen seinem Land und dem Rest der Welt mehr geben.
Krieg gegen die eigenen Leute
Schätzungen zufolge sind bis zu einer Viertelmillion Russen seit Beginn des Ukraine-Krieges aus ihrer Heimat geflohen. Nur wenige von ihnen haben es nach Westeuropa geschafft. Politiker*innen fast aller Parteien erklären wie auch Bundeskanzler Scholz immer wieder, dass russische Kriegsdienstverweigerer in Deutschland willkommen seien. Russische Soldaten sollten die Waffen niederlegen. Das Asylverfahren stehe ihnen offen, heißt es in einem Beschluss des Bundestages vom April 2022.
Doch von rund 3.500 Asylanträgen russischer Kriegsgegner hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAMF bis September 2023 nur 90 anerkannt. Dies ergab eine Anfrage der Linken im Bundestag.
Für 2023 meldete das BAMF für Asylanträge russischer Staatsbürger im wehrpflichtigen Alter eine Anerkennungsquote von acht Prozent. Die Behörde erfasst allerdings nur Alter und Herkunft der Asylsuchenden, nicht jedoch ihre Gründe. Eine valide Aussage, wie viele Deserteure oder Kriegsdienstverweigerer einen Asylantrag gestellt haben, sei, so das BAMF „nicht möglich“. Über jeden Asylantrag entscheide die Behörde individuell.
Anerkannt werden im Asylverfahren nur Geflüchtete, die eine persönliche Verfolgung, also „konkrete Verfolgungshandlungen und Verfolgungsgründe“ nachweisen. Dafür reicht dem BAMF nicht, dass ein junger Mann möglicherweise zum Militärdienst einberufen und an die Front in der Ukraine geschickt werde. Russland habe im Zuge der Mobilmachung im Herbst 300.000 von etwa 20 Millionen Wehrfähigen eingezogen. Daher sei es nicht „hinreichend wahrscheinlich“, dass die Einberufung einen einzelnen Asylbewerber treffe. Noch im Januar 2023 hat das BAMF den Asylantrag eines Russen abgelehnt, weil „eine Mobilmachung (von Wehrpflichtigen) nicht wahrscheinlich“ sei. Acht Monate später begann die erste Teil-Mobilmachung.
Rudi Friedrich von der Kriegsdienstverweigerer-Organisation Connection e. V. kritisiert vor allem, dass die Behörde nicht berücksichtige, was abgelehnten Asylbewerbern in Russland droht: Als „Verräter“ würden sie ins Gefängnis gesteckt oder direkt an die Front geschickt.
Noch mehr Ablehnung erfahren russische Kriegsdienstverweigerer in anderen europäischen Ländern. „Warum sollen wir die aufnehmen?“, fragte etwa der damalige lettische Außenminister (und heutige Staatspräsident) Edgars Rinkēvičs auf Russisch in einem Interview der Deutschen Welle. Die Geflüchteten sollten „in Russland gegen den Krieg protestieren, wenn sie damit nicht einverstanden sind.“ Für Lettland seien sie ein „Sicherheitsrisiko“.