Mit einem neuen Leitungsteam starten die Sophiensaele in Berlin-Mitte in die Spielzeit – dabei stehen innovative, genreübergreifende Formate im Mittelpunkt.
Eine lang gestreckte, weiß gedeckte Tafel empfängt, wo sonst die Zuschauertribüne und die Spielfläche des Festsaals den weiten Raum füllen. So unerwartet feierlich lud die neue Leitung der Sophiensaele zu ihrer ersten Pressekonferenz ein, mit Schmalzstullen, Keksen und, versteht sich, alkoholfreien Getränken. Um die Saison 2023/24 ging es, wie sie das frisch berufene Duo aus Jens Hillje und Andrea Niederbuchner gemeinsam geplant hat und nun auch zu realisieren beginnt. Beide sind einschlägig erfahren im Bereich Theater und Freie Szene, was sie durchaus für die verantwortungsvolle Aufgabe prädestiniert. Jens Hillje, seit 1990 als Schauspieler, Autor und Regisseur tätig, arbeitete nach dem Studium der angewandten Kulturwissenschaften in verschiedenen Bereichen am Deutschen Theater Berlin, der Schaubühne, dem Ballhaus Naunynstraße und als Co-Intendant am Maxim Gorki Theater. Er kuratierte Ausstellungen, gründete Festivals und erhielt 2019 den Goldenen Löwen der Biennale in Venedig für sein Lebenswerk – erstaunlich früh. Seine „bessere Leitungs-Hälfte“ Andrea Niederbuchner, Kulturmanagerin, Kuratorin und Produzentin, war nach Abschluss des Studiengangs Kulturraum sowie Sprachen- und Wirtschaftsstudien von 2013 bis 2022 an der Organisation und Profilierung des Berliner Festivals „Tanz im August“ beteiligt. Auch dem Tanzkongress 2019 verhalf sie mit zu einer Neukonzeption. Die Schnittstelle von Tanz, Performance und Bildender Kunst sieht sie als ihren Arbeitsschwerpunkt.
Groß angelegtes Eröffnungsprogramm
All dies Wissen dürfte den Sophiensaelen, einer der wichtigen Produktions- und Aufführungsstätten der freien Darstellenden Künste in Berlin, nun zugutekommen. Seit 1996 haben dort, wo einst Clara Zetkin, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und der später von den Nazis ermordete Erich Mühsam revolutionäre Reden gehalten hatten, die performativen Künste eine Heimat gefunden. Das 1905 eingeweihte, unter Denkmalschutz stehende, über 90 Räume umfassende Gebäudeensemble war als Veranstaltungs- und Bildungshaus des Berliner Handwerkervereins gegründet worden, später wurde es von der KPD genutzt, war in der NS-Diktatur Arbeitsplatz für Zwangsarbeiter, zu DDR-Zeiten schließlich Theaterwerkstatt. Bis 1996 mit sensationeller Resonanz die Kunst Einzug hielt.
Als Kernaufgabe sehen die neuen Leiter des Hauses, Hillje und Niederbuchner, die Förderung künstlerischer Entwicklungen und führen damit fort, was die vorherigen Intendanzen geleistet haben. Darunter versteht das Duo die programmatische Mischung aus etablierter Kunst und Nachwuchsprojekten, aus lokalen und internationalen Positionen. Ebenso gehören Künstler und Künstlerinnen, „die jenseits von Genregrenzen inter- und transdisziplinär arbeiten und neue Möglichkeiten des Performativen erkunden“, dazu, wie es im künstlerischen Profil heißt. Künftig dürfe man in den Sophiensaelen „innovative Formen zwischen Tanz, Performance, Theater, Bildender Kunst, Diskurs, Text und Raum“ erwarten – ein enorm breites Angebot also.
Wurde der Gebäudekomplex schon 2011 behutsam teilsaniert, so sind weitere Sanierungsarbeiten ausgelaufen. Am 7. Dezember leiten die Sophiensaele mit einem groß angelegten Programm auf all ihren Spielplätzen die Saison 2023/24 ein. „Trust the Process“ ist sie überschrieben, denn das Prozesshafte sei Wesen von Kunst und verdiene unser Vertrauen. Was also konkret erwartet die Besucher? In der Kantine präsentieren Isabel Lewis & Dirk Bell täglich bis zum Festivalende am 17. Dezember einen Mix aus Installation, Performance, Workshop und Konzert. Die Gäste sind, so liest man, zum Verweilen, Zuhören, Essen, Tanzen und Gespräch eingeladen. Die dominikanisch-amerikanische Künstlerin Isabel Lewis experimentiert im Bereich zeitgenössischer Kunst; Dirk Bell stellt Zeichnungen, Malerei und Skulptur auch international aus.
„Radical Hope – Eye to Eye“ nennt Stef Van Looveren aus Belgien ein immersives Live-Erlebnis aus mehreren raumgreifenden Installationen im Festsaal, mit Schlamm, Erde, Wasser und Pflanzen als erotisch-opulenter Spielwiese für sieben Körper zu tanzbaren Clubsounds.
Förderung fiel niedriger aus als beantragt
m Hochzeitssaal als drittem Spielort sucht die kubanisch-amerikanische Künstlerin Coco Fusco den politisch aktuellen Brückenschlag zur griechischen Antike. In ihrem Stück „Antigone Is Not Available Right Now“ ist sie selbst ein Literaturagent, der entscheidet, welche Anfragenden mit Antigone, dem Sinnbild des Aufbegehrens gegen autoritäre Willkür, in Verbindung treten dürfen. Ebenfalls den Hochzeitssaal bespielt der syrisch-deutsche Performance- und Videokünstler Enad Marouf. Sein Text „In My Hand a Word“ umreißt eine Figur, die ihre Hände als Metapher der eigenen Identität betrachtet. Im Zentrum steht aus queerer Perspektive der Verlust von Familie, Heimat und Beziehungen. Objekte, Frequenzen und Figuren treffen im performativen Konzert der multidisziplinären Künstlerin Leyla Yenirce zusammen: Im Festsaal vermittelt sie mit „Code. Noise-Performance mit Stimme“ eine eindringliche leibliche Erfahrung über das gesprochene Wort hinaus.
Den Schlusspunkt unter den opulenten Eröffnungsmarathon setzen zwei Aufführungen am 17. Dezember. In „Rebellenkarussell“ von Simone Dede Ayivi kann man im Hochzeitssaal dabei zusehen, wie in einem installativen Umfeld die letzte Episode einer Reihe über Afrofuturismus entsteht: Vorkoloniale Kultur und Mythologie rücken rebellische Zeitreisende in futuristische Welten.
Was auf- und anregend klingt, steht für die Zukunft finanziell indes auf tönernen Füßen. Zwar hatten die Sophiensaele beim Kultursenat ein Budget von 3,2 Millionen Euro inklusive der 240.000 Euro für die Tanztage Berlin beantragt, was einen jährlichen Mehrbedarf von einer Million Euro bedeutet, doch die Jury empfahl in Zeiten knapper Kassen lediglich eine Erhöhung von knapp 128.000 Euro. Die betriebliche Deckungslücke von 900.000 Euro konnte durch Nachverhandlungen zur Übernahme der gestiegenen Mietkosten und einen einmaligen Zuschuss seitens des Hauptstadtkulturfonds für die Tanztage 2024 auf 550.000 Euro für 2024, auf 670.000 Euro dann für 2025 reduziert werden. Die voraussichtlichen Fördersummen von 2,37 Millionen Euro für 2024 respektive 2,57 Millionen Euro für 2025 bleiben nicht folgenlos. Statt des benötigten Produktionsetats von 300.000 Euro stehen nur 100.000 Euro zur Verfügung: etwa 100 Vorstellungen weniger wird es dann geben müssen. Und ob ab 2025 die beliebten Tanztage als Podium für den künstlerischen Nachwuchs überhaupt noch stattfinden können, ist fraglich. Die Sophiensaele eröffnen – hinein in eine ungewisse Zukunft.