Warum ein Vertrauensverlust in den Rechtsstaat die Demokratie schwächt
Von Erwin Pelzig bis Frank-Walter Steinmeier sorgen sich wertebewusste Staatsbürger um den Fortbestand der Demokratie – in Deutschland, in Europa und weltweit. Selbst in der Heimat von „Magna Charta“ und des „Habeas-Corpus-Act“ haben Extremisten etliche Sitze im Unterhaus erobert. In Ungarn, Italien und den Niederlanden bestimmen inzwischen rechte Ränder die Regierungspolitik, und in Österreich hat die FPÖ 16 Jahre nach dem Tod von Jörg Haider bei den Nationalratswahlen mit 13 Prozent Zugewinn ihr bestes Ergebnis seit 1945 erzielt. Überall scheint die Sehnsucht nach autoritärer Herrschaft ausgebrochen.
Als Ursachen nennen uns Soziologen und Politikwissenschaftler die Alltagsängste der Menschen aufgrund undurchsichtiger und unbefriedigender Entscheidungen der Herrschenden, die hereingebrochene Völkerwanderung, den Zerfall von Infrastrukturen, die Inflation, soziale Schieflagen, eingestürzte Brücken und mangelnde Bildung mit real zunehmender Verblödung. Die Politiker von Parteien der demokratischen Mitte hierzulande verkünden nach erschütternden Wahlergebnissen nicht nur Rücktritte, sondern als Allheilmittel. Es heißt dann: „Wir müssen mit den Leuten reden, unsere Politik erklären.“ Man muss kein Politikwissenschaftler sein, um zu wissen, dass eine von den Menschen als schlecht empfundene Politik auch durch Erklärungsversuche nicht an Zustimmung gewinnt.
Ursprünglich sollte die Demokratie in der Antike „die Macht des Volkes über das Volk“ dokumentieren. Daraus ergaben sich im Laufe der Jahrhunderte kuriose Entwicklungen. Die Definition und die Vorstellungen von Demokratie wandelten sich. Immer ging es um individuelle Freiheit, um soziale Gerechtigkeit und um einen Kulturstaat, der für Bildung sorgt. So kam im 20. Jahrhundert Winston Churchill schließlich zu dem Schluss, dass die Demokratie von allen schlechten Staatsformen die beste sei.
Mit diesem Geschenk der Demokratie kamen die westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs 1945 nach Deutschland. Die drei Westmächte trafen eine Entscheidung: Mit Konrad Adenauer und dem Parlamentarischen Rat öffneten sie dem besetzten Land die Tür zur Völkergemeinschaft. Toleranz, Diskussionskultur, Integration nach innen mit leicht verdaulicher Popkultur von Caterina Valente, Udo Jürgens oder Nicole, nach außen mit sicherer Westbindung und klarer Gegnerschaft zur Sowjetunion. Eine einfache, für jeden verständliche Konstellation.
Der Kabarettist Erwin Pelzig macht sich heutzutage – ohne Adenauer und Valente – wenigstens die Mühe nachzufragen: „Welche Art Demokratie wollt Ihr denn?“ Denn ja, es gibt zig verschiedene Arten von Demokratie: die US-amerikanische, die britische, die französische und eben auch die deutsche. Auf dem Papier, wenn wir das Grundgesetz akribisch lesen, ist die deutsche Variation von Demokratie fraglos die klügste und beste – erschaffen nach den zwölfjährigen Erfahrungen einer beispiellosen Gewaltherrschaft, die mehr als 60 Millionen Tote gekostet hatte.
Alles futsch? Alles vergessen? Durch politische Unfähigkeit in die Tonne versenkt? Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier nennt triftige Gründe, weshalb Menschen sich von der Demokratie abwenden. Demnach sind in unserem Land derzeit eine Million Strafverfahren unerledigt. Das reicht von Betrug und Stalking bis zu Morddrohungen und Gewaltverbrechen. Strafanträge bleiben unbeantwortet oder Ermittlungen werden mit oder ohne hinreichende Begründung eingestellt. Warum? Der Deutsche Richterbund kennt den Grund: Es fehlen in Deutschland 2.000 Juristen. Fachkräftemangel, der auch durch Zuwanderung nicht zu beheben ist.
Die Folge ist zwangsläufig ein herber Vertrauensverlust in den Rechtsstaat. Papier meint: Wenn in Teilen der Kriminalität nicht mehr ermittelt werde, sei dies eine schwere Verletzung des Grundgesetzes. Als Reaktion wenden sich die Menschen jenen zu, die Besserung versprechen, aber zunächst gar nicht in der Lage sind, Änderungen herbeizuführen. Hier fängt der Populismus an. Hinter einer Million unerledigter Verfahren stehen zahllose Bürger, Wähler – von ihnen kommt die Quittung bei freien und geheimen Wahlen, die ein Kernstück der Demokratie sind.