Bürgerräte sollen der zunehmenden Politikverdrossenheit entgegenwirken. Eine Berliner Initiative hat nun ein Pilotprojekt mit sogenannten Wahlkreisräten ins Leben gerufen. Ziel ist, das Projekt in allen Wahlkreisen der Stadt auf die Beine zu stellen.
Bürgerräte liegen im Trend. Erst vor wenigen Tagen beschlossen Politiker wieder einmal, einen solchen Rat einzusetzen. Einem gemeinsamen Antrag der Ampel-Koalition und der Linken stimmten in namentlicher Abstimmung 402 Abgeordnete zu. 251 Parlamentarier votierten gegen die Vorlage, zwölf enthielten sich. Nach dem Bundestagsbeschluss vom 10. Mai sollen Bürgerinnen und Bürger zum Thema Ernährung beraten. 160 ausgeloste Frauen und Männer werden voraussichtlich ab September unter anderem Fragen um Umwelt- und Klimaverträglichkeit, Haltungsbedingungen von Nutztieren, Produktion von Produkten, transparente Lebensmittelkennzeichnung und Lebensmittelverschwendung diskutieren.
Auch die AfD stellte einen Antrag auf mehr Bürgerbeteiligung in puncto Politik. Doch ihr Antrag mit dem Titel „Mehr Demokratie wagen – Echte Bürgerbeteiligung durch bundesweite Volksentscheide statt deliberative Bürgerräte“ fand keine Mehrheit im Bundestag. Diese Vorlage der Oppositionspartei wurde mit 592 Nein-Stimmen bei 69 Ja-Stimmen abgelehnt.
Seit einiger Zeit gibt es jetzt auch eine Berliner Initiative, die Bürgerräte auch auf Wahlkreisebene einsetzen will. Das Projekt nennt sich „Hallo Bundestag – Wahlkreisräte für die Demokratie“. Der Verein „Demokratie Innovation“ hat die Aktion initiiert. „Das ist eine zivilgesellschaftliche Initiative. Wir sind partei- und lobbyunabhängig“, sagt die Projektleiterin Juliane Baruck im Gespräch. Ein Wahlkreisrat ist zugleich ein Pilotprojekt und ein langfristig angelegter Bürgerrat auf der Ebene von Wahlkreisen. Mit im Boot sind die Berliner Politiker und Wahlkreisabgeordneten Canan Bayram (B90/Die Grünen) und Thomas Heilmann (CDU).
„Wir sind partei- und lobbyabhängig“
Quer durch alle Bevölkerungsschichten werden Menschen für den sogenannten Wahlkreistag ausgelost. Wer sich nicht zurückmeldet, wird noch persönlich kontaktiert und ermutigt, teilzunehmen. Damit wird versucht, auch diejenigen Menschen mitzunehmen, die sich bisher eher weniger politisches Gehör verschaffen. „Sie liefern oft einen sehr wichtigen Input in den Beteiligungsverfahren, da sich ihre Perspektiven am stärksten von denen unterscheiden, die in Politik und aktiver Bürgerschaft bereits vertreten sind“, sagt Juliane Baruck.
Mitgenommen würden dadurch auch diejenigen Menschen, die oftmals nicht wahlberechtigt sind, weil sie noch minderjährig sind oder keine deutsche Staatsbürgerschaft haben. „In vielen Verfahren hat sich gezeigt, dass diese Personen, die gerade nicht der ‚politischen Bubble‘ angehören und häufig politikverdrossen sind, im Nachhinein dankbar für die Teilnahme waren“, erläutert die Projektleiterin. Eines der Ziele sei auch, dass die Perspektiven junger und künftiger Generationen mit aufgenommen werden. Daher lost die Initiative auch Menschen ab zwölf Jahren für den Wahlkreistag aus.
Die Wahlkreise sollen eine Struktur bieten, um Bundespolitik auf lokaler Ebene verständlich zu machen, zu reflektieren und im direkten Austausch mit der Politik zu diskutieren, erläutert Juliane Baruck. Durch den Kontakt zwischen den Menschen im Wahlkreis und dem Wahlkreisabgeordneten sollen auch Ressentiments abgebaut werden – sowohl seitens der Politiker als auch seitens der Bürger. Die Akteure versprechen sich, durch diese Initiative das Verhältnis zwischen Abgeordneten und Menschen im Wahlkreis nachhaltig zu verändern. Zentrales langfristiges Ziel sei es, das Vertrauen der Menschen in die Politik und der Politik in die Menschen zu stärken, um so der Politikverdrossenheit entgegenzuwirken und „Selbstwirksamkeitserfahrungen in der repräsentativen Demokratie“ zu ermöglichen. Ein weiteres Ziel sei, das Projekt in allen Wahlkreisen der Stadt zu installieren.
Bundespolitik soll auf lokaler Ebene verständlich werden
An dem konkreten Wahlkreistag kommen schließlich etwa 35 Bewohner des Wahlkreises zusammen, um an einem Tag ein politisches Thema zu diskutieren und ein Feedback dazu zu erarbeiten. Ein Tag als Format sei niedrigschwelliger als die Treffen klassischer Bürgerräte, die oft über mehrere Wochen hintereinander zusammenkommen müssten, erläutert Juliane Baruck. So könne man etwa alleinerziehende Mütter oder Selbstständige eher mit ins Boot für diese Form der Bürgerbeteiligung holen.
Hélène Landemore, Politologin an der Yale-Universität, hat einen ganz anderen Ansatz. Sie hält das System der repräsentativen Demokratie in ihrem Kern nicht für demokratisch. Die Wissenschaftlerin plädiert in einem Interview mit dem Wochenmagazin „Zeit“ für die Auslosung von Bürgerinnen und Bürgern. Aus Landemores Sicht hätten diese „ganz andere Interessen“ als gewählte Politiker. Die ausgelosten Bürger sollten jeweils nur eine Wahlperiode im Amt bleiben.
Deren Sichtweise müsste möglichst vielfältig sein, um gute politische Ergebnisse zu erzielen, sagt die Politikprofessorin. „Wir brauchen Frauen im Raum, Minderheiten, Menschen mit Behinderungen. Sie werden Dinge sehen, die unsere heutige politische Elite niemals sieht.“