Gesellschaftliche Polarisierung wird immer mehr als Problem für demokratischen Zusammenhalt wahrgenommen. Dagegen wird mit vielen Formen von Bürgerbeteiligung experimentiert. Das „Parlament der Menschen“ versucht es basisdemokratisch.

Ein ungewöhnliches Bild kurz vor der Bundestagswahl im Februar, im größten innerstädtischen Park Berlins, direkt neben dem Potsdamer Platz. Einer der höchsten katholischen Würdenträger Deutschlands, Prälat Karl Jüsten, demonstriert direkt neben der Vize-Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Antje Piel, im Bündnis „Zusammen für Demokratie“. Mit dabei sind weitere Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Insgesamt haben sich fast 50 Verbände zusammengeschlossen.
Kirchen, Aktivisten, Gewerkschafter
Ihnen geht es in diesem Augenblick um einen möglichen Rechtsruck bei der damals noch bevorstehenden Bundestagswahl. Generell befürchten die Vertreter von christlichen Kirchen über Gewerkschaften, Klima- und Menschenrechtsgruppen bis hin zur säkularen Türkischen Gemeinde Deutschlands ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft. DGB-Vize Antje Piel bringt stellvertretend für ihre Mitstreiter auf den Punkt, dass es dem Bündnis vor allem um das Stoppen des Gegeneinander-Ausspielens von sozialen Ungleichheiten geht, das immer weiter zunimmt. „Wir müssen wieder in vernünftige Debatten kommen. Wir müssen eine Klarheit darüber haben, was wir auf dem Boden des Rechtsstaates auch weiter an Vielfalt hier organisieren wollen. Unser Bündnis alleine zeigt ja schon: Wir Demokraten sind über alle gesellschaftlichen Schichten beieinander, und das ist auch richtig so.“ Einwurf eines Passanten: Mit den „vernünftigen Debatten“ innerhalb der demokratischen Mitte scheint es ja immer schwerer zu werden, sonst wären so viele unterschiedliche Gruppen gar nicht nötig. Was er nicht als Kritik verstanden wissen möchte, so der Parkbesucher, der mit seinem kleinen Hund, eine klassische Berliner Promenadenmischung, Augenzeuge der bündnisübergreifenden Kundgebung wird.

Fast sinnbildlich für dieses scheinbare Zerwürfnis der demokratischen Gesellschaft will er selbstverständlich nicht fotografiert werden und stellt sich als Karl vor. Als Ausgangspunkt für das Auseinanderdriften sieht Karl selbstverständlich „den ganzen Sozialen Medien Kram“, der eine vernünftige Debatte gar nicht mehr ermöglicht.
Was am Rande solcher Aktionen oder Aufzüge vor allem der alternativen Demokratie-Retter immer wieder auffällt: Nur noch wenige der Beteiligten oder der Umstehenden wollen im Gespräch mit dem Reporter ihren Namen nennen, schon gar nicht fotografiert werden, obwohl sie hier doch durchaus öffentlich für ihre Meinung stehen.
Ausgeloste Bürger diskutieren

„Zusammen für Demokratie“ wird in Kreisen der „Demokratie-Neudenker“ als „bürgerlich“ abgetan. Eben Verbände und Gemeinschaften, die ja schon allein durch ihre Organisations-Struktur gesellschaftlich etabliert sind und damit angeblich in alten Denkschablonen verharren. Solche Kritik kommt auch von der im Frühsommer umfirmierten Klimabewegung Letzte Generation, die sich nun „Neue Generation“ nennt und für eine basisdemokratische Volksdemokratie eintritt. Dabei sollen unter anderem Gesellschaftsräte bindende Empfehlungen und Petitionen erarbeiten und den „Berufs-Parlamenten“ in Bund und Ländern überreichen. Die sollen sich dann damit auseinandersetzen müssen und im Sinne der basisdemokratischen Empfehlungen der Gesellschaftsräte Entscheidungen fällen. Damit sollen vor allem die „profitorientierten Lobby-Gruppen“ nicht nur in Klimafragen, sondern in allen Lebensbereichen, von Autobahnbau bis Waffenlieferungen, gestoppt werden.
Als Auftakt wurde vor dem Bundestag auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes der Republik für das „Parlament der Menschen“ ein Zelt aus Holz und Leinen aufgestellt. Im Zelt-Plenum versammelten sich zwei Tage lang 60 ausgeloste Bürger, die in ihrem Rahmen das zukünftige Wohl Deutschlands berieten. Die erste naheliegende Frage: Nach welchen Kriterien wurden die „60 Teilnehmer*innen“ ausgelost, wie kamen ihre Namen in den Demokratie-Los-Topf, um dann stellvertretend für 84 Millionen Bundesbürger zu beraten? Das konnte auch eine der Hauptmentorinnen der nun „Neuen Generation“, Carla Hinrichs, nicht befriedigend beantworten. Sie war in diesem Verfahren nicht direkt involviert. Das FORUM-Reporterteam fand im weiteren Verlauf der beiden Sitzungstage auch niemanden vom „Orga-Team“, der zum Losverfahren für die Mitgliedschaft im Parlament der Menschen etwas Näheres hätte erläutern können.
Inhaltlich wurde nicht viel beschlossen, aber man musste sich ja auch erstmal kennenlernen. In ihrem „parlamentarischen Arbeitsbericht“ heißt es abschließend dazu: „Als ersten Schritt versuchten die Parlamentsteilnehmenden, eine Frust-Landkarte zu erstellen. Ziel dabei: Sämtliche negativen Gefühle gegenüber der Politik zu benennen, um mögliche Blockaden zu erkennen. In einem zweiten Schritt sollen genau diese Gefühle, Frust, Wut, Trauer und Ablehnung, überwunden und die Energie in etwas Konstruktives umgewandelt werden.“

Unter den Beobachtern ist auch Marco Bülow aus Dortmund. Der 54-Jährige ist mittlerweile parteilos, war vormals Bundestagsabgeordneter der SPD, dann in der restlichen 19. Legislaturperiode noch zwei Jahre als Mitglied von „Die Partei“ im Bundestag vertreten. Er begleitet das neu initiierte „Parlament der Menschen“ mit „sehr positiven Gedanken“, hat aber dann doch leise Zweifel, ob das funktionieren kann und vor allem von der Allgemeinheit ernst genommen werden wird. „Viele kommen aus den Klima-Umwelt-Bewegungen. Da neigt man schnell zur kognitiven Dissonanz, was dann aber eine in alle demokratischen Richtungen orientierte Arbeit mehr als erschwert“, so Bülow im FORUM-Gespräch. Was er meint, ist der Glaube an die Richtigkeit des eigenen Glaubens, auch wenn klare, nachweisliche Fakten zumindest Zweifel nahelegen würden. Man kann es auch Ideologie nennen, aber kognitive Dissonanz klingt natürlich bei Weitem nicht so negativ.
Aktiv gegen den tiefen Frust

Trotzdem hat Marco Bülow Hoffnungen, dass durch das Losverfahren noch viele verschiedene Bürgerinnen und Bürger aus allen gesellschaftlichen Schichten dazu stoßen werden. Im Prinzip sei die Ausrichtung des Parlaments der Menschen richtig, so Bülow. „Wir sitzen hier gut hundert Meter vom Parlament des Profits entfernt. Ich war selber einer dieser Bundestags-Abgeordneten, der im Zweifelsfall immer gegen den Fraktionszwang gestimmt und seinem Gewissen gefolgt ist. Mich haben BürgerInnen gewählt und nicht Lobby-Gruppen. Doch in diesem Bundestag wird generell im Sinne des Kapitals entschieden.“
In dieser Logik steht dann auch Bülows Erklärung, dass die demokratische Debatten-Kultur und auch das Miteinander immer weiter auseinanderdriften. „Die Menschen sehen doch, dass es völlig egal ist, was sie wählen, wie jetzt gerade die Koalitionsverhandlungen gezeigt haben. Die CDU ist gegen die Reform der Schuldenbremse, um dann Rekordschulden zu machen. Die SPD ist gegen eine Reform des Bürgergeldes, jetzt wird es zum Nachteil der Bezieher reformiert.“ Dieser Frust währt jetzt schon seit über 20 Jahren, darum, so Bülow, wird es für die Demokratie immer schwerer. Debatten verkommen immer mehr zum Abbau von Enttäuschungen und nicht zum konstruktiven Miteinander.
Den zufällig umstehenden Touristen auf der Wiese zwischen Parlament der Menschen und Bundestag erschließt sich das alles beim Zuhören nicht so ganz. Sie würden aber immerhin gern erst mal wissen, wie man denn nun Mitglied im „Parlament der Menschen“ werden kann. Sie wollten einfach mitmachen, aber wurden ja eben nicht ausgelost. Was vielleicht auch zeigt: Nicht nur die kritisierten Polit-Profis haben so ihre Probleme mit Transparenz und Kommunikation.