In Reykjavík gestartet, nimmt die „MS World Explorer" Kurs auf Nordland. Entlang an Islands Küsten, kreuzt das Expeditionsschiff die Westmännerinseln, den Fjord Reyðarfjörður und steuert Färöer und Norwegen an. Bis zum Ende erleben Passagiere atemberaubende Naturschauspiele und malerische Orte.
Mitternacht ist nicht die beste Zeit, in einer unbekannten Stadt zu landen. Außer es passiert in Island. Hier ist es erstens im Sommer bestenfalls noch hell, und zweitens kommt man immer irgendwie von A nach B beziehungsweise findet jemand, der Bescheid weiß. Die Insel, die mehr Feen und Schafe als Menschen zählt, weckt schnell den Eindruck, dass hier jeder jeden kennt. Und im Nu zählt man dazu.
Selbst Hergereiste sind stets nur solange fremd, bis sie den ersten Einwohner treffen, der ihnen erzählt, wo man die besten eingelegten Hammelhoden kriegt, warum man keine Autobahn durch Elfenwohngebiete bauen darf und wie man schnell, bequem und einfach von Keflavík nach Reykjavík gelangt. In diesem Falle ist es Leif, Fahrer eines Luxusbusses. „Ein Schnäppchenparadies ist Island nicht", kommentiert er den Preis von 29 Euro für die 50 Kilometer bis ins Zentrum, immerhin mit Stopp am Zielhotel – in diesem Fall das glamouröse „Tower Suites Reykjavík". Die Luft ist kühl und riecht nach Herbst – auch ohne Laub, denn Bäume gibt es hier so gut wie keine. Bald wissen alle Businsassen alles über Hafnir. Das Fischerdorf, das außer Leif noch 113 andere Bewohner hat, wurde aus dem Holz eines Geisterschiffes gebaut. 1844 starben hier die letzten beiden Riesenalke. Die großen flugunfähigen Vögel, die früher fast alle Inseln des Nordatlantiks bevölkerten, waren die ersten, die man „Pinguine" nannte. Mit den ähnlich aussehenden Frackträgern der Südhalbkugel, die bis heute den geklauten Namen tragen, waren sie aber nicht verwandt.
Ein Opernhaus mit fast 10.000 Glasscheiben
Ornithologisch Interessierte lockt der Vogelfelsen Hafnaberg nach Hafnir. Schiffe, die von Reykjavík in Richtung Süden starten, fahren daran vorbei. So auch jenes, das der Hauptheld dieser Reise sein wird – die „MS World Explorer". Das erste Hochseeschiff von Nicko Cruises, das von Islands Hauptstadt aus zu seiner dritten Kreuzfahrt starten wird, liegt bereits in Miðbakki, dem ältesten und kleinsten Hafen der isländischen Metropole. Während die meisten Kreuzfahrtschiffe ihrer Größe wegen in den neuen Häfen einige Kilometer außerhalb des Zentrums ankern, passt dieses mit 126 Metern Länge ganz locker an den Kai, den nur ein paar Schritte von der Altstadt trennen.
Und so führt nach dem Frühstück der erste Bummel vom Hotel zur „World Explorer", die als Prototyp einer neuen Generation von Expeditionsschiffen im Sommer 2019 die Heimatwerft in Portugal verließ. Im Vergleich zu vielen anderen liegt das Schiff in puncto Umweltfreundlichkeit weit vorn.
Doch vorerst heißt es für den schicken Cruiser, geduldig zwischen Ausflugsschiffchen, Jachten und Segelbooten auszuharren, bis er morgen Abend zurück auf hohe See darf, um das Nordland zu erkunden. Bei der achttägigen Reise wird es um Islands Küsten über Färöer nach Norwegen und dann nach Hamburg gehen.
Vor den Passagieren, die schon angekommen sind, liegen anderthalb Tage Reykjavík – Zeit genug, die nördlichste Hauptstadt der Welt etwas näher kennenzulernen. Die erste Attraktion steht direkt am alten Hafen und heißt Harpa. Die faszinierende Fassade des modernen Opern- und Konzerthauses besteht aus 9.211 Glasscheiben, die freibeweglich sind und wie Fischschuppen in allen Regenbogenfarben schillern.
10 Uhr. Am Parlament beginnt ein Stadtrundgang. Guide Erik, Historiker und Abwehrspieler beim FC ÍH Hafnarfjörður, erklärt zunächst den Grund dafür, warum in Island jeder mindestens drei Sprachen spricht. „Wir lernen es beim Filmeschauen", sagt er. Da nichts synchronisiert wird, sieht und hört man alles original. „Nach 300-mal ‚Toy Story‘ konnte ich Englisch", so der 31-Jährige.
Schon nach zwei Stunden kennt man die wichtigsten Gepflogenheiten auf der Insel, weiß, dass das Alter von Pferden in Wintern angegeben wird, dass am Heiligabend statt eines einzigen gleich 13 Weihnachtsmänner kommen (und Unsinn anstellen), dass man in Reykjavík keinen Schnee schippen muss, weil die Stadt dank Vulkanismus über eine natürliche Bodenheizung verfügt, und dass die komplette nationale „Armee" – die Küstenwache – auf drei Patrouillenboote passt. Oder auf die „World Explorer".
Denn mit 200 entspricht die isländische Heeresstärke exakt der Passagierkapazität des kleinen Cruisers. Neben ihm in Miðbakki liegt die „Thor", das dicke graue Flaggschiff der Inselschützer. Neugierig und sicher etwas neidisch schauen ein paar Uniformierte auf das schmucke Nachbarschiff herüber. Auf dessen Oberdeck schießt man die ersten Selfies. Es ist Samstag, kurz nach drei und Einschiffzeit. Die Expedition beginnt. Erstes Untersuchungsareal: das Schiff.
Station bei den Westmännerinseln
Während es sich viele nun in ihren Kabinen gemütlich machen, zieht es andere trotz Nieselregens auf das Oberdeck. „Hans-Dieter, es geht los", ruft eine Dame im Kommandoton den Gang entlang, das Fernglas vor der Brust. Die Maschinen laufen, der Anker ist gelichtet. Man spürt es nicht, doch sieht es, wer nach draußen schaut: Das Schiff bewegt sich.
Endlich! Vorfreudig und feierlich gerührt steht man an der Reling, tauscht Winksignale mit den Küstenwächtern von der „Thor" und Leuten auf der Hafenstraße. Dann passiert die „World Explorer" den kleinen gelben Leuchtturm, die Harpa-Halle und die Uferpromenade. Nach ein paar Augenblicken ist sie schon so weit entfernt, dass sich Reykjavík noch einmal in seiner ganzen nassgrauen Schönheit zeigen kann. Dahinter, eingehüllt in dichte Wolkenpelze: die Berge Akrafjall und Esja.
Es ist feucht und kalt und mittlerweile auch so diesig, dass der Küstenstreifen nur mit etwas Fantasie im Ganzen sichtbar wird. Und dennoch: Es ist echte Seeluft, die den frisch Eingeschifften um die Nase weht. Sie riecht nach Ozean, nach Norden und nach Abenteuer – und irgendwie gerade auch ganz leicht nach Gebratenem – oder? Ein Herr im roten Anorak schnuppert prüfend an der Tür. „Das bildest du dir ein", belehrt ihn seine Frau. In jedem Fall trifft es sich gut, dass das Restaurant nun offen ist. Denn wer die Welt entdecken will, muss richtig essen. Der Ozean ist nachher auch noch da.
Am frühen Morgen erreicht die „World Explorer" Heimaey, die größte und einzige permanent bewohnte der 14 Westmännerinseln im Süden Islands. Steuerbord ragt Heimaklettur, ein 279 Meter hoher, grasbedeckter Felsblock in den Himmel. Erstarrte Lava, zu dicken Schichten aufgelaufen, bildet auf der Backbordseite eine respektable, bis zu 40 Meter hohe Mauer.
Entstanden war sie 1973, ebenso wie der Vulkan Eldfell. Große Inselteile inklusive 100 Häuser begrub er überraschend unter seiner Asche. Die enormen Lavaströme, die unter anderem die lebenswichtige Hafeneinfahrt zu verschließen drohten, konnte man erfolgreich stoppen. Der Wall, der sich aus ihr gebildet hat, schmälert zwar den Schiffsweg, doch überwiegt sein Nutzen als Schutz des Hafens vor der Meeresbrandung.
Die Einfahrt in den engen Naturhafen ist spektakulär. Denn so wendig das kleine Schiff auch ist, so wenig Platz bleibt ihm doch hier zum Manövrieren. Kapitän Amadeu Albuquerque hat großen Spaß daran. Der 66 Jahre alte Gentleman aus Portugal scheint mit allen Wassern dieser Welt gewaschen. Mit sieben lernte er, ein Segelboot zu steuern. Mit 16 fing sein Seemannsleben an. Seither ist er auf jedem Ozean gefahren, mit Schiffen jeder Art. Das größte war ein 75.000-Tonnen-Liner.
„Die ‚World Explorer‘ ist ein Rettungsboot dagegen", scherzt der Erfahrene mit väterlicher Miene. Auf dem kleinen Schiff fühlt er sich spürbar wohl. „Es ist gemütlich, die Atmosphäre sehr persönlich", meint er freundlich lächelnd. So nah wie hier an Crew und Gästen sein zu können, sei für einen Kreuzfahrtkapitän von heute schon fast Luxus, so Albuquerque.
Zwei Zoo-Wale werden hier ausgewildert
Als die Morgensonne auf das Schiff scheint, ist es bereits verankert. Unter strahlend blauem Himmel zeigt sich Heimaey als ein grünes Paradies. Mittendrin, bedeckt von Wiesen: die Vulkane Helgafell und Eldfell. Die ersten Wanderer der „World Explorer" sind schon unterwegs zu ihnen. Die Feuerberge-Tour kreuzt einen Häuserfriedhof. Zum Gedenken an die Katastrophe von vor 46 Jahren, die ein Menschenleben forderte, hat man einige der zerstörten und verschütteten Gebäude freigelegt. Von den Straßen blieben nur die Schilder. Ruinen, Trampelpfade, zurückeroberte Natur. Und ein wunderbares Panorama mit Ozean und Bergen. Ganz fern am Horizont: der Gletscher Eyjafjallajökull. Über eine Treppe geht es zurück zur Stadt. Auf dem Weg zum nahen Hafen passiert man das nagelneue Besucherzentrum des Beluga-Reservats von „Sea Life Trust". Die Naturschutzstiftung der gleichnamigen britischen Großaquarien-Kette hat es im Juni 2019 in der Klettsvik-Felsenbucht eröffnet. Erste Pfleglinge sind zwei Weiße Wale aus einem Meereszoo in China. Nach Eingewöhnung in einem Schutzpool sollen sie ins offene Gewässer umziehen.
Besonders viel Besucherverkehr herrscht an diesem Vormittag an der Hintertür des Hauptgebäudes. Einheimische mit Pappkartons geben sich die Klinke in die Hand. Was tragen sie da hin und her? Ein blondes Mädchen klärt den neugierigen Deutschen auf. „Lundi!", sagt sie, das isländische Wort für Papageientaucher, und fügt das englische hinzu: „Puffins!"
Im Puffin Rescue Centre, das zum Beluga-Reservat gehört, öffnet die Sechsjährige mithilfe ihrer Mutter die braune Schachtel. Ein taubengroßes graues Federbüschel reckt sein Köpfchen. Der halbwüchsige Papageientaucher ist noch grau, hat weder die leuchtend roten Beine und Augenringe der Erwachsenen noch deren tief orange gefärbten Schnabel. Doch schon in seinem Kindchenschema ist die markante Zeichnung zu erahnen, die für diese Vogelart so typisch ist: das traurig lächelnde Gesicht des Clowns.
„Gefunden haben wir das Kleine ganz in der Nähe unseres Hauses", berichtet die Mama. „Vielleicht war der Wind zu stark", vermutet sie. Auch Schwäche aus Nahrungsmangel oder Orientierungsfehler durch nächtliche Beleuchtung könnten dazu führen, dass sich die jugendlichen Tiere in die Stadt verirren. Freiwillige, vor allem Kinder, helfen, sie vor Gefahren wie Autos oder Katzen zu bewahren, bringen sie ins Rettungszentrum und danach – wenn sie gesund und munter sind – zurück in die Natur.
Ob irgendwo da drüben auf dem hohen Felsplateau das Nest des kleinen Vogels war? Viele „World Explorer"-Gäste schauen unablässig durch das Fernglas, als das Exkursionsboot um die Insel Heimaey kreuzt. Von allen drei bis vier Millionen Papageientauchern Islands leben hier die meisten. „Da! Da!", ruft jemand freudig aufgeregt und zeigt auf eine grüne Fläche mit schwarz-weißen Punkten. Schon aus größerer Entfernung kann man die hübschen Höhlenbrüter gut erkennen. Bald ziehen sie vom Brutrevier zurück auf den Atlantik. Auf diesem ist kurz darauf auch die „World Explorer" wieder unterwegs.
Entlang der isländischen Küste hält sie zunächst Kurs auf Osten und dreht dann ab nach Norden. Der Sonnenuntergang ist an diesem Abend ganz besonders schön – und offenbar auch extra lang. Zumindest fühlt es sich so an, wenn man ganz oben an der Reling steht, den Sternen nah, und es nicht lassen kann, auf den bunten Streif am Horizont zu starren.
Von all dem Rot, Orange und Violett des Abendhimmels sind die Sinne sicher schon verwirrt, denkt man, als plötzlich grüne Schlieren auf den Augen flimmern. Komisch nur, dass es den anderen anscheinend ganz genauso geht. „Aurora borealis", kommentiert ein Passagier das Phänomen so feierlich, als verkünde er den Namen einer weiblichen Berühmtheit. Und tatsächlich legt der Superstar aus Farbgas nun eine Lichtshow hin, die sich gewaschen hat.
Aus dünnen grünen Schleiern werden Bögen oder Bänder, die sich mal akkurat geformt und mal diffus, mal leuchtend hell, mal kaum erkennbar durch das dunkle Nachtblau ziehen. Bis auf gelegentliche rote, gelbe oder lila Kanten beschränkt sich das Spektakel auf die Farbe Neongrün. Höhepunkt ist eine doppelte Girlande, die sich am Ende zur Spirale rollt – oder soll es ein geheimnisvolles Fragezeichen sein? Und ebenso allmählich, wie ihr Auftritt anfing, schwebt Frau Borealis wieder von der Bühne.
Wanderung zum Wasserfall
Am nächsten Vormittag erreicht die „World Explorer" Reyðarfjörður, den größten Fjord im Osten Islands mit bis zu 1.000 Meter hohen Gipfeln. Die Felsenarme breit geöffnet, empfängt er das Schiff, dessen Passagiere überwältigt sind von der rauen Schönheit dieser kargen Landschaft.
Traurigen Ruhm erlangte sie durch die Aluminiumfabrik des US-amerikanischen Konzerns Alcoa. Ihren enormen Strombedarf deckt das eigens dafür gebaute Kárahnjúkar-Kraftwerk. Für das gewaltige Projekt mit Damm und Stausee opferte die Landesregierung ein großes Stück einzigartiger vulkanischer Urnatur, einst Heimat der seltenen isländischen Rentiere. Kurz vor dem Schmelzwerk biegt das Schiff nach rechts ab auf den Eskifjörður, einen Seitenarm des Fjords, und legt im gleichnamigen Fischerstädtchen an.
Der Sonnenschein verführt zum Wandern. Prima Gelegenheit dazu bietet der Wasserfall des Flüsschens Bleiksá, der in unzähligen Kaskaden über die gesamte Talwand plätschert. Aufgrund der vielen Steine wird der Weg zum Teil zur Klettertour. Doch die Mühe lohnt sich. Die Aussicht auf die Berge und den Fjord ist überwältigend. Und dazu gibt es massenweise reife, herrlich süße Heidelbeeren.