Semih Keskin wurde vor dieser Saison Herren-Trainer bei Viktoria Berlin – bisher erfolgreicher Jugendcoach, soll er den Neuanfang beim Drittligaabsteiger begleiten.
Seine Reifeprüfung hatte der junge Mann gleich in doppelter Hinsicht zu bestehen: Als Semih Keskin jedenfalls in der U19 von Türkiyemspor spielte, musste er sich bereits seiner vierten Operation am Knie unterziehen. Anschließend teilte der Arzt ihm mit, dass bei Fortsetzung seiner aktiven Laufbahn ein Knorpelschaden drohe – so musste Keskin letztlich den Traum vom Profifußball begraben. „Das war damals natürlich extrem frustrierend“, erzählt der heute 34-Jährige, der seit vergangenem Sommer Cheftrainer beim Regionalligisten FC Viktoria 1889 ist. „Während die anderen weiter Fußball spielten, bin ich monatelang auf Krücken zur Reha gelaufen – da musste ich einfach erst mal Abstand gewinnen.“ Immerhin: Der Teenager machte „das Beste“ daraus und schloss seine schulische Laufbahn in dieser Zeit mit dem Abitur ab. „Damals hatte ich sicher nicht die Absicht, Trainer zu werden, wollte lieber spielen“, erzählt Keskin – obwohl seine Eltern gewissermaßen „vom Fach“ sind. Vater Hasan genießt im Berliner Fußball einen ausgezeichneten Ruf gerade im Bereich der Nachwuchsarbeit, Mutter Birsen fungiert seit Jahren als Teammanagerin bei der U19 des FC Viktoria 1889.
Aktivenkarriere beendet wegen Verletzung
Kein Wunder also, dass der Sohn bereits im Alter von fünf Jahren beim 1. FC Schöneberg dem Ball nachjagte. Als es dann später bei Türkiyemspor nicht mehr weiterging und der nötige Abstand zum aktiven Sport gegeben war, fragte ihn sein Vater, ob er ihm nicht bei seinem Traineramt assistieren wolle. Damals war Hasan Keskin Coach der U19 des Lichterfelder FC – einem Verein mit der damals größten Jugendabteilung Deutschlands. Der Sohn willigte ein, trieb parallel aber auch sein Studium der Betriebswirtschaft voran. „Den ersten Trainerschein, damals die C-Lizenz, habe ich dann im Jahr 2010 erworben“, erzählt Keskin. Als der LFC dann 2013 mit dem BFC Viktoria fusionierte, blieben Vater und Sohn beim neu gegründeten FC Viktoria 1889 Berlin Lichterfelde-Tempelhof als Trainergespann erhalten. In der Folge führten sie die A-Jugend bis in die Bundesliga, wo dann allerdings im Februar 2016 in ebenso erwartbarer wie akuter Abstiegsgefahr Schluss für das familiäre Duo war. Zur neuen Saison versuchten die Keskins einen Neuanfang im Herrenbereich beim Oberligisten CFC Hertha 06, der jedoch schnell ein Ende fand: Der Vater – impulsiv, aber auch prinzipientreu – erklärte im November 2016 seinen Rücktritt. Gelegenheit für den Sohn, erstmals auf eigenen Füßen zu stehen. Denn Viktoria bot dem damals 28-Jährigen die Stelle als Chefcoach der U19 zur Rückrunde 2016/17 an.
In den ersten anderthalb Jahren schlossen die A-Junioren in der Regionalliga Nordost dabei noch im Mittelfeld ab, dann aber zeigte die kontinuierliche Arbeit Erfolge. In der Saison 2018/19 landeten Keskins Schützlinge auf Rang fünf, die folgende Spielzeit (aufgrund der Corona-Situation nur in einer einfachen Runde ausgetragen) brachte dann sogar den Staffelsieg – wieder hatte ein Keskin also Viktorias U19 in die Bundesliga geführt. Nach dem Saisonabbruch dort im Herbst 2020 und daraus resultierender, schwieriger Umstände schaffte der Trainer dann umso Beachtlicheres: In der Folgesaison (wieder in einfacher Austragung) erreichten die A-Junioren mit Platz sechs das beste Resultat, das einer U19 Viktorias jemals gelang. Parallel hatten die „himmelblauen“ Männer mit der Dritten Liga ebenfalls ihren Höhepunkt erreicht, mussten jedoch am Ende knapp wieder absteigen. Eine Situation, in der sich alle Verantwortlichen zusammensetzten und besprachen, wie es weitergehen könnte. Resultat: Man trennte sich von 20 Spielern aus der Drittligasaison, um einen Neuanfang mit Talenten aus dem eigenen Nachwuchs oder jungen Spielern zu vollziehen, die bereits Erfahrungen sammeln konnten. Die Beantwortung der Frage nach dem neuen Herren-Trainer lag da gewissermaßen auf der Hand. „Semihs Teams haben sich immer durch starken Charakter und große Mentalität ausgezeichnet“, erklärte Rocco Teichmann die Wahl. Keskin betont dabei den wichtigen Aspekt der „gemeinsamen Arbeit“: den intensiven Austausch sowohl mit Sportdirektor Teichmann als auch im Trainerteam mit den Ex-Profis Bernd Nehrig (Assistent, früher unter anderem FC St. Pauli) oder Daniel Haas (Torwartcoach, unter anderem 1. FC Union) sowie dem restlichen Staff inklusive Physiotherapeuten und Betreuern. „Uns war dabei allen klar, dass wir am Anfang viel Geduld haben müssen – auch, wenn wir von außen immer noch als Absteiger aus dem Profibereich gesehen würden.“
Wichtiger Aspekt ist die „gemeinsame Arbeit“
Nach dem ersten Sieg am fünften Spieltag folgte sogleich ein herber Rückschlag, eine 0:5-Niederlage beim Aufsteiger Greifswalder FC. „Diese Schwankungen kennt aber jeder, der mit jungen Spielern arbeitet“, erklärt Keskin im Nachhinein, „wir haben diese Pleite natürlich analysiert, aber im Verein weiter die Ruhe bewahrt.“ Auch, als nach 13 Spieltagen bei elf Punkten mit Rang 15 der bisherige tabellarische Tiefpunkt erreicht war, hieß die Devise weiter: Geduld. Zwei wichtige Siege bei Lichtenberg 47 und gegen Meuselwitz sorgten vor dem Jahreswechsel dann für erste Erleichterung. Keskins Prognose („Diesen Schwung nehmen wir ins neue Jahr mit“) sollte sich bewahrheiten: 2023 kamen bis Ende Februar schon vier weitere Siege hinzu – bei nun 30 Punkten und Platz zehn zeigte sich Viktoria also auf Kurs. Die Tatsache, dass man obendrein noch wichtige Spieler während der bisherigen Saison abgeben musste – Kapitän Jakob Lewald zog es zu Dynamo Dresden, Torwart Marcel Köstenbauer zurück zu Austria Klagenfurt – hat der Trainer dabei eingepreist: „Wir sind darauf eingestellt, und es zeichnet uns ja auch aus, dass Spieler sich bei uns so weiterentwickeln, dass sie höherklassig Interesse wecken“, sieht Keskin das Thema gelassen. Für sich selbst, der als Trainer bislang die Hauptstadt noch nicht verlassen hat, sieht er es genauso: „Viktoria ist inzwischen mein ‚Heimatverein‘, und ich bin hier voll in meiner Aufgabe drin – aber im Fußball kannst Du nichts ausschließen.“ Perspektivisch könnte er sich also auch vorstellen, einmal außerhalb Berlins zu arbeiten. Sein Vater ist mittlerweile auch wieder in den Schoß der „Viktoria-Familie“ zurückgekehrt, trainierte erst die Frauen und aktuell wieder die A-Junioren. Somit hat sich gewissermaßen auch bei den Keskins ein Generationenwechsel vollzogen: Nun arbeitet Hasan also praktisch seinem Sohn zu.