Das Potsdamer Museum Barberini zeigt bis Ende September gut 100 Werke des Impressionisten Camille Pissarro. Danach geht die hochkarätige Ausstellung nach Denver/Colorado.
Von allen Impressionisten“, sagt Christoph Heinrich, „ist Pissarro der, den ich am liebsten kennengelernt hätte“. Heinrich ist Direktor des Denver Art Museum – und Camille Pissarro ist für ihn „ein cooler Typ, ein wundervoller Familienvater, der Leim, der die Impressionisten zusammengehalten hat, also auch ein Diplomat“. Seine Kollegin Ortrud Westheider, die Direktorin des Museums Barberini in Potsdam, schwärmt von Camille Pissarro als einem „großen Netzwerker“ und dem „Konsequentesten unter den Impressionisten“. Westheider und Heinrich wollen diesen Ausnahmekünstler, der sie beide so begeistert, einem breiten Publikum vorstellen – die eine in Deutschland, der andere in Colorado. Gemeinsam haben die Teams der beiden Museen gut 100 Werke des Künstlers zusammengetragen. Zunächst werden sie in Potsdam gezeigt. „Mit offenem Blick. Der Impressionist Pissarro“ heißt die Ausstellung, die im Museum Barberini bis zum 28. September zu sehen ist. Zu dem Titel sei man gekommen, weil Pissarro Dinge gemalt hat, „die seine Zeitgenossen nicht für bildwürdig hielten“, erklärt die Barberini-Kuratorin und -Sammlungsleiterin Nerina Santorius bei der Präsentation der Ausstellung. Pissarro hat zum Beispiel eine Staub aufwirbelnde Schafsherde gemalt und, wie Santorius es formuliert, „dem Alltäglichen das Schöne entlockt“. Pissarro sei es sogar „gelungen, Industrielandschaften eine poetische Qualität abzugewinnen“. Es sei neben seiner Maltechnik vor allem dieses Erkennen der Schönheit gewesen, die andere nicht im Blick hatten.
Zentrale Figur der Impressionisten
Camille Pissarro gilt als Gründungsfigur der impressionistischen Bewegung in Frankreich. Dabei hatte er einen dänischen Pass, und seine künstlerischen Anfänge lagen in der Karibik und in Südamerika. „Diese Wurzeln verbanden sich mit einem malerischen Interesse an ländlichen Alltagsszenen und Sympathien für den Anarchismus. Pissarros Motive sind oft schlicht, ihr Ton leise. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich der Reiz ihrer aufmerksam beobachteten Details und sorgsam abgestimmten Harmonien, der aus der respektvollen, von Idealismus geprägten Haltung des Künstlers, seiner Offenheit und Experimentierfreude erwächst“, erklärt das Museum.
Die Themenvielfalt seiner Bilder umfasst Landschaften und Gärten, Familienporträts, Szenen des bäuerlichen Lebens oder urbane Motive wie die Häfen der Normandie oder die belebten Straßen von Paris. Ausgehend von den sieben Gemälden Pissarros der Sammlung Hasso Plattner, also dem Bestand des Barberini, gibt die aktuelle Ausstellung mit Werken aus 50 internationalen Sammlungen einen Überblick über Pissarros gesamtes Schaffen und zeigt zugleich die sozial-utopischen Ideen seiner Kunst. „Sein Herz schlug links“, erklärt Christoph Heinrich – und: „Damals war das mit dem Begriff des Anarchismus verbunden. Heute würde man sagen, dass er ein Sozialist war.“ Dementsprechend habe Camille Pissarro „großen Respekt für die Arbeiter seiner Zeit gehabt, für die Fabrikarbeiter, vor allem aber für die Landarbeiter – er stellt sie sehr unsentimental dar, sehr realistisch und mit einer großen Würde“, sagt Heinrich.

Neben dem Denver Art Museum als Kooperationspartner der Schau konnten zahlreiche renommierte US-Sammlungen als Leihgeber gewonnen werden, darunter das Art Institute of Chicago, das J. Paul Getty Museum Los Angeles, das Clark Art Institute Williamstown, das Philadelphia Museum of Art, die National Gallery Washington und das Metropolitan Museum of Art in New York. Zu den weiteren internationalen Leihgebern gehören das Van-Gogh-Museum Amsterdam, das Musée d’Orsay Paris, Ordrupgaard Kopenhagen, das Szépművészeti Múzeum Budapest, das Courtauld und die National Gallery London sowie die Gallery of Ontario Toronto.
Dass das gelungen ist, lag sicher auch an der Zusammenarbeit mit dem Museum in Denver. Aber für Christoph Heinrich hat dieser Erfolg auch mit dem Potsdamer Museum selbst zu tun. Das Barberini wurde zwar erst 2017 eröffnet, aber es sei „nach knapp zehn Jahren durch seine Sammlung und seine Ausstellungen bereits zu einer internationalen Größe geworden“, bescheinigt der Mann aus Colorado.
„Mit Camille Pissarro wird ein Außenstehender zur zentralen Figur der Impressionisten. Er, dessen erste Studien unter freiem Himmel in der Karibik und in Venezuela stattfanden, bringt eine von akademischen Normen unabhängige Perspektive in den Kreis der Pariser Künstler, für den er die Rolle eines entscheidenden Vernetzers einnimmt: Er arbeitet mit Claude Monet im Pariser Umland, bringt die Gruppe mit Paul Cézanne zusammen, setzt sich für das Werk von Mary Cassatt ein. Er öffnet sich für die Anliegen der Neoimpressionisten und stellt – anders als Monet und Renoir – auch mit den Jüngeren aus“, erklärt das Kuratorenteam.
Suche nach einer zeitgemäßen Ästhetik
Geboren 1830 in Charlotte Amalie auf den damaligen dänischen Antillen, verbringt Pissarro seine Kindheit in einem multikulturellen Umfeld. Als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie mit französisch-portugiesischen Wurzeln, der zeitlebens die dänische Staatsbürgerschaft behält, gehört er zur europäischen Minderheit aus Kolonialbeamten und Plantagenbesitzern. Nach dem Ende seiner schulischen Ausbildung in Frankreich reist Pissarro mit dem dänischen Maler Fritz Melbye zwei Jahre durch Venezuela.
Eine Vorliebe für Darstellungen ländlicher Natur und einfacher Lebensformen schlägt sich bereits in den frühen, auf dieser Reise entstehenden Werken nieder. 1855 siedelt Camille Pissarro nach Frankreich über. Auf der Suche nach einer neuen, zeitgemäßen Ästhetik schreibt er sich an der privaten Académie Suisse in Paris ein, wo er Gleichgesinnte trifft, darunter Claude Monet und Paul Cézanne. In Pissarros Gemälden aus seinen frühen Pariser Jahren macht sich ein neuartiges Interesse am unmittelbaren Erleben alltäglicher Umwelt bemerkbar. Jean-Baptiste Camille Corot erweist sich als wichtiger Mentor für den jungen Künstler. In den 1860er-Jahren arbeitet Pissarro in der Tradition der Schule von Barbizon, malt im Wald von Fontainebleau. 1870 flieht die Familie (Pissarro war hingebungsvoller Vater von acht Kindern, von denen fünf das Erwachsenenalter erreichten) vor dem Deutsch-Französischen Krieg aus Paris. In London begegnet Pissarro seinem späteren Kunsthändler Paul Durand-Ruel und studiert die Werke von John Constable und William Turner – eine entscheidende Erfahrung auf seiner Suche nach einerseits wirklichkeitsnaher, andererseits atmosphärischer Landschaftsmalerei. Bei der Rückkehr der Familie nach Frankreich erfährt Pissarro von der Zerstörung eines Großteils seiner Werke durch Soldaten. Trotz des Verlustes von über 1.000 Arbeiten und der lediglich vereinzelten Anerkennung durch den Pariser Salon hält Pissarro an seiner künstlerischen Tätigkeit fest. Er schließt sich mit Malerkollegen wie Monet, Renoir und Sisley zusammen und initiiert mit ihnen 1874 die erste Impressionisten-Ausstellung. Bis 1884 folgen sieben weitere Ausstellungen. Als einziger ist Pissarro bei allen acht Schauen vertreten, für die er als aktiver Netzwerker eine wichtige Rolle einnimmt, die locker verbundene Gruppe zuammenhält, Kontakte pflegt, neue Teilnehmer vorschlägt.
„Das Übertragen einer Sinnesempfindung auf die Leinwand, charakteristisch für den Impressionismus, ist für Pissarro nur ein Teil seiner künstlerischen Herangehensweise. Vielmehr verändert und bearbeitet der Künstler seine Landschaftsmotive häufig im Einklang mit seiner sozialen Agenda. Alltägliche Szenen aus Industrievorstädten und der französischen Provinz zeugen von der Sensibilität des Malers für die Umbrüche in der Moderne. Pissarro arbeitet an einem neuen Landschaftsbild und strebt kompositorische Ausgewogenheit und Harmonie an“, heißt es in der Erklärung zur Ausstellung. Dass so viele der in der Ausstellung vereinten Werke aus den USA kommen, sei kein Zufall, sagt Christoph Heinrich. Dort seien die Werke besser als in Europa verkauft worden. „Der Erfolg der Impressionisten lief über Amerika“, versichert der Direktor des Denver Art Museum – obwohl vielen Käuferinnen und Käufern vermutlich gar nicht klar war, was für ein cooler Typ dieser Pissarro war.