Es sollte ein starkes Signal sein, vermittelt durch starke Bilder. Die EU-Kommissionspräsidentin präsentiert bei einem Besuch auf Lampedusa europäische Solidarität in der Flüchtlingsfrage. In Deutschland wird zugleich heftig um eine Begrenzung des Zuzugs gestritten.
EU-Kommissionsprädentin Ursula von der Leyen reist eigens zum Brennpunkt. Auf der Insel Lampedusa trifft sie sich mit Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, will signalisieren: Diesmal steht Europa zusammen und ist bereit entschlossen zu handeln. Gleichzeitig heißt es in von der Leyens deutscher Heimat: Wir sind am Limit. Nichts geht mehr. Deutschland will vorerst keine weiteren Migranten aus Italien aufnehmen. Der freiwillige EU-Solidaritätsmechanismus zur Übernahme von Geflüchteten soll ausgesetzt bleiben, weil sich Italien seinerseits nicht an die Rücknahmepflicht hält.
Europäische Solidarität? Während die Bilder aus Lampedusa die Diskussion bestimmen, sind andere Bilder fast schon in Vergessenheit geraten, als Hunderte Menschen Mitte Juli vor der Küste Griechenlands ums Leben kamen. Drei Monate später stellt von der Leyen nun einen Zehn-Punkte-Plan vor.
Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni hatte da schon drastisch verschärfte Maßnahmen angekündigt, Italiens Kurs in der Flüchtlingsfrage war ohnehin schon ziemlich robust. Nun sollen die Dauer der Abschiebhaft auf 18 Monate erhöht, Abschiebungen erleichtert, und Einrichtungen zur Unterbringung irregulär eingereister Migranten „in abgelegenen, möglichst dünn besiedelten Gebieten“ errichtet werden.
Hunderte kamen bereits ums Leben
Es ist eine Reaktion auf die Situation in Lampedusa, wo binnen weniger Tage rund 10.000 Geflüchtete angekommen sein sollen. In ganz Italien sind in diesem Jahr bislang knapp 130 000 Menschen angekommen, doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die rechtsgerichtete Regierung Meloni steht unter massivem Druck, und Italien fühlt sich seit Jahren, wie andere Mittelmeer-Anrainer auch, vom Rest der EU im Stich gelassen. Mit dem Dublin-Abkommen hatte die EU versucht, den Umgang mit Geflüchteten zu regulieren. Es war von vornherein eine Fehlkonstruktion in dem Punkt, dass das Land für Asylanträge zuständig ist, in dem ein Flüchtling zuerst europäischen Boden betreten hat. Das sind naturgemäß geografisch vor allem die Mittelmeer-Anrainer. Ein vielfach diskutierter solidarischer Ausgleich kam nicht zustande.
Bei der großen Zahl von Flüchtlingen 2015 war dann endgültig klar, dass „Dublin“ nicht funktioniert. Es war eine Vereinbarung zu einer Zeit, als die Situation noch relativ entspannt war. Folgeverordnungen (Dublin II und III) brachten auch keine durchgreifende Verbesserung.
Wie schwer sich die EU tut, führen die Mitgliedsstaaten ein ums andere Mal vor, und das nun schon seit acht Jahren. Keine der bislang beschlossenen – und versuchten – Maßnahmen haben etwas grundlegend an der Situation verändert.
Auch im neuen Zehn-Punkte-Plan der Kommissionspräsidentin lässt sich nichts finden, was wirklich neu wäre und damit die Erwartung nähren könnte, dass dieser erneute Anlauf wesentlich zur Verbesserung beitragen wird. „Wir werden entscheiden, wer in die Europäische Union kommt – und unter welchen Umständen. Und nicht die Schleuser.“ Das ist bislang nur ein starkes Versprechen, das von der Leyen mit ihrem Plan gibt.
Die europäische Grenzbehörde Frontex soll sich stärker an der Rückführung von Geflüchteten beteiligen, die in der EU keinen Anspruch auf Asyl haben, sowie die Überwachung auf See und aus der Luft verstärken, um Menschenschmuggel zu unterbinden. Gleichzeitig werde die EU die Möglichkeiten legaler Einwanderung verbessern, versprach von der Leyen. „Je besser wir bei der legalen Migration sind, umso strenger können wir mit der illegalen Migration umgehen.“
In Deutschland klagen die Kommunen schon lange massiv über die Situation. Die zusätzliche Unterbringung und Integration von Geflüchteten aus der Ukraine hat quer durch die Republik dazu geführt, dass die Möglichkeiten weitgehend ausgeschöpft sind. Bis Juli sind rund 1,1 Millionen Menschen, die vor dem Krieg geflüchtet sind, in Deutschland aufgenommen worden.
Und jetzt nimmt der Druck durch die deutlich steigende Zahl von Menschen , die einerseits über das Mittelmeer nach Europa kommen, andererseits aber auch über neue Balkanrouten versuchen, nach Deutschland zu gelangen, weiter zu. Nach Angaben des Mediendienstes Integration sind zwischen Januar und August 2023 knapp 205.000 Asylanträge gestellt worden, im vergangenen Jahr waren es insgesamt rund 218.000. Die meisten Schutzsuchenden kamen aus Syrien, Afghanistan, der Türkei und dem Irak.
Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck sprach sich vor diesem Hintergrund für eine „neue Entschlossenheit“ in der europäischen Flüchtlingspolitik aus. In der ZDF-Sendung „Berlin direkt“ sagte er, die Politik müsse entdecken, „dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausgereicht haben, um den Kontrollverlust, der offensichtlich eingetreten ist, zu beheben“. Die neue Entschlossenheit müsse der Bevölkerung in Europa den Eindruck vermitteln, dass die Regierungen handlungswillig und -fähig seien. „Und dazu bedarf es offenkundig auch der Debatte neuer Wege und nicht nur das Drehen an Stellschrauben.“
Was das ehemalige Staatsoberhaupt zwar deutlich, aber doch mit einer gewissen sprachlichen Zurückhaltung formuliert, ist in der täglichen parteipolitischen Auseinandersetzung zum Thema Nummer eins geworden. Dass der bayrische Ministerpräsident Markus Söder mitten in der heißen Phase seines Landtagswahlkampfs das Thema Obergrenze neu belebt, ist nicht überraschend. Allerdings steht er damit nicht mehr allein da. Auch von der kommunalen Ebene wird die Forderung immer häufiger formuliert. Und die CDU-Opposition verschärft den Ton in der Auseinandersetzung mit der Regierung. Jens Spahn, Fraktionsvize der Union, betont: „Wir sind an der Grenze dessen, was geht. Und diese Zahlen müssen deutlich, sehr deutlich in sehr kurzer Zeit runter“, und setzt sich dann bewusst von Ex-Kanzlerin Merkel, in deren Kabinett er als Minister saß, ab: „Wir schaffen das nicht mehr.“
Migrantenroute über Belarus
Die Union fordert unter anderem eine deutliche Erweiterung der Liste so genannter „sicherer Herkunftsländer“, beispielsweise Georgien, Moldau, Indien sowie die Maghreb-Staaten Tunesien, Marokko und Algerien, um Asylverfahren beschleunigt durchzuführen, und will an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz stationäre Grenzkontrollen mit ergänzender flexibler Schleierfahndung etablieren. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will nun ebenfalls stationäre Grenzkontrollen – die nach Ansicht der Polizei wenig effektiv seien -, außerdem eine stärkere Steuerung über Migrationsabkommen erreichen und warnt zugleich davor, zu glauben oder den Eindruck zu erwecken, dass es einfache Lösungen gebe. Erst recht nicht, weil sich ein zusätzliches Problem aufbaut. Thüringens Innenminister Georg Maier betonte unlängst gegenüber der Funke-Mediengruppe: „Hinter den wachsenden Migrationszahlen über Osteuropa steht eine gezielte Kampagne von Russland und Belarus. Die Autokraten in Moskau und Minsk wollen Deutschland destabilisieren – und sie nutzen dafür auch Migration als Druckmittel.“ Und sein Kollege aus Sachsen, Armin Schuster, spricht von einer „veritablen Migrationskrise“.
Offenbar gibt es so etwas wie eine neue Balkan-Route, die über Polen nach Deutschland führt. Dazu kommt Russland, das zusammen mit Belarus weiterhin Migranten in Richtung Europäische Union schickt. Eine Reihe von Recherchen deutet darauf hin, dass professionelle Schleuserbanden die neuen Routen nutzen. Offenbar kann die Route mit Flug und Visa für Russland oder Belarus und anschließender Schleusung nach Polen (letztendlich mit Ziel Deutschland) regelrecht gebucht werden, heißt es aus Sicherheitskreisen. Demnach soll sich dort eine Schleuserindustrie entwickelt haben, bei der Kriminelle und staatliche Behörden regelmäßig Hand in Hand arbeiten. Keine beruhigenden Aussichten – erst recht nicht für die arg strapazierten deutsche Kommunen.