Mit der Verpflichtung von Leonardo Bonucci ist Union Berlin ein Transfer-Coup gelungen. Doch die italienische Verteidiger-Ikone soll weniger den Bekanntheitsgrad des Clubs steigern, sondern vor allem sportlich weiterhelfen.
Leonardo Bonucci war nicht immer ein so furchtloser Abwehrrecke. Als er als Jungprofi von Inter Mailand an den Zweitligisten aus Treviso ausgeliehen wurde und auch dort kaum zum Einsatz kam, geriet der Italiener in heftige Selbstzweifel – und das sah man auch auf dem Fußballplatz. Allein konnte er sich damals nicht aus diesem Tief befreien, er suchte Mental Coach Alberto Ferrarini auf. Dieser hatte recht unkonventionelle Methoden, die er selbst einmal auf seiner Facebook-Seite beschrieb. Er habe Bonucci in seinen Keller beordert, „ins Dunkle“. Dort habe er ihn mit einem Ton, „der alles andere als freundlich oder süß war, auf jede erdenkliche Weise beleidigt“, berichtete Ferrarini: „Wenn er auch nur den geringsten Versuch machte, mich anzusehen, hätte er einen Schlag direkt in den Magen bekommen.“ Dabei sollte Bonucci lernen, sich nur auf sich selbst zu konzentrieren und alles andere auszublenden. „So habe ich angefangen, einen Krieger aus ihm zu machen“, meinte sein Mental Trainer.
Was auch immer der Auslöser war: Bonucci startete nach Anlaufschwierigkeiten mächtig durch und legte eine Weltkarriere hin. Neunmaliger Meister und viermaliger Pokalsieger in Italien, 121 Länderspiele, Europameister, Champions-League-Stammgast – der Verteidiger ist ohne Zweifel ein ganz Großer im Profifußball. Vor nicht allzu langer Zeit galt er gar als einer der besten Innenverteidiger der Welt, der gemeinsam mit Kumpel Giorgio Chiellini sowohl in der „Squadra Azzurra“ als auch bei Juventus Turin ein kaum zu überwindendes Abwehr-Bollwerk bildete. Nachdem für Chiellini im vergangenen Sommer bei Juve Schluss war, bekam nun auch Bonucci bei seinem Herzensclub den Laufpass: Trainer Massimiliano Allegri sortierte die Juve-Ikone aus. Ein schwerer Schlag für den 36-Jährigen, aber längst noch nicht das Ende seiner ruhmreichen Karriere. Bonucci nutzte die Chance für sein allererstes Auslands-Abenteuer. Auch Union Berlin warf seinen Hut in den Ring und erhielt – auch dank der Champions-League-Qualifikation – den Zuschlag.
Unkonventionelles Mental-Coaching
„Es ist für mich etwas Besonderes, erstmals in meiner Karriere den Schritt ins Ausland zu gehen“, wurde Bonucci in der Club-Pressemitteilung zum spektakulären Transfer zitiert: „Bei Union habe ich die Möglichkeit, weiter auf höchstem Niveau zu spielen und die Mannschaft auf ihrem Weg in drei anspruchsvollen Wettbewerben mit meiner Erfahrung zu unterstützen.“ Der Coup brachte Union weltweit in die Sport-Schlagzeilen, doch als Marketing-Gag ist der Transfer keineswegs gedacht. Bonucci soll mit seinem herausragenden Stellungsspiel, seinem robusten Zweikampfverhalten und seinem ausgezeichneten Aufbauspiel vor allem sportlich weiterhelfen. „Wir bekommen einen knallharten Verteidiger mit einer Wahnsinnserfahrung dazu“, schwärmte Trainer Urs Fischer: „Das hat man irgendwie gespürt beim Training, seine Aura auf dem Feld.“
Davon konnten sich auch Fans und Medien beim ersten öffentlichen Training in der Länderspielpause ein Bild machen. Rund 40 Anhänger waren gekommen, doch auch diejenigen, die zu Hause geblieben oder auf der Arbeit waren, wurden informiert. Die „Bild“-Zeitung überlieferte ihren Lesern zum Beispiel ein ganzes „Bonucci-Protokoll“, zu welcher Uhrzeit der Verteidiger-Star was genau gemacht hat, wann es Applaus von den Fans oder Lob vom Trainer gab. Und dass er nach dem Training „mit Sonnenbrille in den schwarzen Porsche“ einstieg, „der ihm von zwei Begleitern vorgefahren wurde“.
Die wichtigste Erkenntnis aus den ersten Trainingseindrücken aber lautet: Dieser Leonardo Bonucci kann tatsächlich eine Verstärkung sein. Zweikampfstark, ausgestattet mit großer Präsenz, passsicher – so präsentierte sich der Kapitän der italienischen Nationalmannschaft. „Er kann ein Spiel lesen, er schaut voraus, er antizipiert“, sagte Fischer und ergänzte: „Er fühlt sich gut. Und was ich gesehen habe, sah auch gut aus.“ Besonders beeindruckt ist der Schweizer von der „Wahnsinnsmentalität“, die der Abwehrrecke in nahezu jeder Trainingssituation zeige. Da er zudem beidfüßig ist, kann er in der von Fischer bevorzugten Dreier-Abwehr-Kette jede Position einnehmen. Womöglich ersetzt er schon in Wolfsburg auf der linken Seite den Portugiesen Diogo Leite, der zuletzt nicht mehr so frisch wirkte. Bonucci gilt auch als Back-up für Abwehrchef Robin Knoche, der bislang als unersetzbar galt. Ein Problem sieht Knoche darin überhaupt nicht – ganz im Gegenteil. Der 31-Jährige schwärmt von seinem neuen Teamkollegen: „Er bringt eine Erfahrung mit, die gewaltig ist.“ Diese werde der Italiener früher oder später auch bei Union gewinnbringend einbringen, glaubt Knoche: „Man muss jedem Neuen Zeit geben, um sich an die Abläufe zu gewöhnen. Wir werden ihm die Zeit auch geben.“
Wer Fischer kennt, weiß, dass der Trainer bei der Startelf-Besetzung keine Experimente macht. Deshalb saß Bonucci bei der jüngsten Heimniederlage gegen RB Leipzig auch 90 Minuten nur auf der Bank. Zwei Trainingseinheiten mit dem Team waren zu wenig. „Die nächsten 14 Tage werden für ihn wichtig sein, um einen bestimmten Rhythmus zu bekommen“, hatte Fischer mit Blick auf die Länderspielpause gesagt. Im nächsten Spiel am 16. September beim VfL Wolfsburg könnte der prominente Neuzugang seine Premiere im Union-Trikot feiern. Das würde auch mit Blick auf den Champions-League-Kracher vier Tage später bei Real Madrid Sinn ergeben.
Keine Experimente in der Startelf
Ein Leonardo Bonucci, der allein in der Königsklasse bereits 84 Spiele bestritten hat, stünde dem unerfahrenen Neuling im berüchtigten Estadio Santiago Bernabéu gegen die Superstars um Toni Kroos, Jude Bellingham und David Alaba gut zu Gesicht. Bei der Kader-Nominierung für die Gruppenphase tauchte sein Name natürlich auf dem Bogen mit auf – anders als zum Beispiel der des Langzeitverletzten András Schäfer oder des neuen Stürmers Mikkel Kaufmann. „Seine Qualitäten hat er über viele Jahre sowohl national als auch international unter Beweis gestellt“, sagte Geschäftsführer Oliver Ruhnert über Bonucci: „Wir sind überzeugt davon, dass er mit seiner Mentalität und Flexibilität unsere Möglichkeiten in der Abwehr erweitert und das Niveau noch einmal steigern wird.“
Seine Verpflichtung birgt jedoch auch ein gewisses Risiko. Die Dreierkette mit Knoche, Leite und Danilho Doekhi ist eingespielt und war in der Vorsaison ein Hauptgrund für den sensationellen vierten Platz. Leonardo Bonucci ist natürlich kein gewöhnlicher Herausforderer des Trios, unter normalen Umständen müsste er regelmäßig spielen. Wenn nicht, sorgt das für Unruhe – sowohl beim Spieler als auch in der Presse. Unruhe, die Fischer im beschaulichen Köpenick gar nicht gebrauchen kann. Schon die vergangenen Wochen mit Transfer-Endspurt, Champions-League-Auslosung und Bonucci-Vorstellung waren ihm zu stressig. „Die letzten Tage waren doch sehr anspruchsvoll. Es wird wichtig sein, dass sich das Ganze jetzt beruhigt“, sagte er. Dann könne auch Bonucci besser integriert werden. „Und dann kann er seine Qualitäten in den Dienst der Mannschaft stellen.“