Bei allem Erfolg ist Philipp Poisel ein Künstler, der ohne Starallüren geblieben ist. Wir erfuhren von dem 41-Jährigen, wofür er sich begeistern kann, warum er auf ein Smartphone verzichtet und weshalb er auf dem Höhepunkt seines Erfolges wieder zur Uni geht.
Herr Poisel, 2023 haben Sie Ihr aktuelles Studioalbum „Neon“ unter der Regie von Produzent Frank Pilsl in der Motorworld in Metzingen komplett aufgeführt, begleitet vom Neon Acoustic Orchestra. Kommt diese Platte live besonders gut zur Geltung?

Auf jeden Fall. Wenn ich ein neues Album abgebe, habe ich noch den Tunnelblick. Erst nach einer Weile kann ich da von außen draufgucken. Wenn ich die Songs einmal losgelassen habe, gehören sie der Welt. Ich habe später oft noch Ideen und halte mich live nicht unbedingt an eine Studioversion. Man kann sich auch anders zeigen.
Für das Livealbum „Neon Acoustic Orchestra“ und Ihre Tour haben Sie alle „Neon“-Songs neu arrangiert und die Band spielt in einer neuen, 13-köpfigen Besetzung. Fühlen Sie sich auf der Bühne wohler als im Studio?
Ich mag die Phase, in der ich allein zu Hause bin. Das fühlt sich immer sehr frei an und man kann mit einem Song jeden Tag neu anfangen. Und im Studio findet die eigentliche Arbeitsphase statt. Dann ist auch Druck da, weil die Plattenfirma auf die Fertigstellung wartet. Wenn man die Aufnahmen dann abgegeben hat, ist man wieder frei. Aber hätte ich kein Label, hätte ich wahrscheinlich noch nie einen Song fertig geschrieben.
Früher spielten Sie bis zu 80 Konzerte pro Jahr. Würden Sie das heute noch wollen?
Klar. Wenn wir das Gefühl hätten, dass die Nachfrage so groß ist, würde ich mich auf jeden Fall darauf einstellen. Ich wäre dazu aber nicht von heute auf morgen in der Lage.
Wie oft erleben Sie vollkommene Konzerte, die zu hundert Prozent gelingen?
Meine Erfahrung ist, dass ich einen sehr subjektiven Eindruck habe. Manchmal bin ich emotional total zerstört und denke, hier können wir nie wieder hinkommen. Aber dann sagt mein Bassist, es sei unser bester Gig überhaupt gewesen. Obwohl wir auf einer Bühne stehen, leben wir offensichtlich in verschiedenen Welten, gehalten von der Illusion, dass wir irgendwie das gleiche machen. Für mich ist ein Gig gut, wenn ich das Gefühl habe, dass das Publikum dabei ist und uns nicht mehr aus den Augen lässt.
Gibt es Tage, an denen Sie das Gefühl haben, jeder Ton ist Schwerstarbeit?
Ja logisch. Das hat manchmal auch mit der Halle zu tun, weil die Akustik jedes Mal anders ist.
Ist das Live-Spielen durch irgendetwas zu ersetzen?
Ohne ein Gegenüber macht die Musik für mich keinen Sinn. Es ist ja eine Nachricht, die man an jemanden sendet. Auch wenn man auf die eigene Stimme hören muss.
Der Begriff „Neon“ ist von dem altgriechischen Wort neos abgeleitet und bedeutet „neu“. Möchten Sie als Künstler immer Dinge tun, die Sie noch nie getan haben?
Das Gefühl, dass etwas sich frisch anfühlt, auch wenn es das in echt gar nicht ist, ist wichtig, um überhaupt leben zu können. Deswegen versuche ich, mich an unterschiedliche Orte zu begeben und unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Im Rückblick hat sich meine Musik schon auch verändert. Im Endeffekt versuche ich, meine Palette zu erweitern, aber die Musik an sich besteht immer aus denselben zwölf Tönen.

Welchen Herausforderungen mussten Sie sich bei dem Orchester-Projekt stellen?
Wir hatten sehr wenig Zeit und konnten nur drei Tage zusammenspielen, bis wir die Platte aufgenommen haben. Es waren auch vier Bläser dabei, und für manche ist es neu, in einem Popkontext zu spielen. Da muss man erst eine gemeinsame Sprache finden, und dann geht es direkt auf die Bühne. Das erzeugt ein großes Momentum. Die Dimension von einem Orchesterkonzert begreift man erst in der Retrospektive.
Sind solche Projekte für Sie Herausforderungen, die viel Nerven und Geduld kosten und Stress verursachen?
Also, ich kann mich für wenige Sachen so begeistern wie für so etwas. Wenn die Arbeit getan ist und es quasi nur noch darum geht, sie zu interpretieren, ist für mich die Leidensphase vorbei. Am Ende bin ich selbst Zuhörer und höre auch zu, was die anderen in der Band machen. Das ist der Zahltag.
Sind Sie – wie die meisten Künstler – ruhe- und rastlos?
Ich brauche als Argument, um auftreten zu können, schon ein neues Set und ein paar neue Lieder. Einfach, um die alten Sachen wieder spielen zu können und in Relation zu stellen. Dann und wann kommt dabei ein Lied heraus, das in einem Atemzug genannt wird mit meinen ersten beiden Platten.
Wie gehen Sie damit um, wenn etwas schiefläuft?
Es ist natürlich nicht einfach, wenn etwas schiefläuft. Aber man muss es zulassen und geduldig sein. Einfach abwarten.
Ist Geduld eine zentrale Eigenschaft für einen Künstler?
Kann ich nicht beurteilen. Ich versuche immer, Strategien zu entwickeln, um manche Sachen hinzubekommen. Phasen, wo es in der Musik überhaupt nicht läuft, versuche ich zu kompensieren, indem ich zum Beispiel angefangen habe zu studieren. Dann habe ich da wieder eine Herausforderung.
Was studieren Sie?
Architektur. Ich will niemandem im Uni-Umfeld zu nahe treten, wenn ich sage, das ist ein Hobby von mir. Aber so war es am Anfang. Mittlerweile kann ich mir schon vorstellen, ein-, zweimal in der Woche in einem Büro zu arbeiten. Das klingt im ersten Moment absurd, aber letztlich habe ich viele meiner Songs geschrieben, als ich noch ganz andere Pläne hatte. Das ist ein Trick, damit man etwas anderes im Kopf hat, und dann kommen einem Ideen für die Songs. So eine Art indirektes Songwriting. Aber Songs sollten ja eigentlich aus dem Leben kommen, deswegen ist für mich die coolste Art von Songwriting im Tourbus.
Was reizt Sie an der Architektur?
Nach dem Abitur dachte ich, das Einzige, was ich kann, ist zeichnen und singen. Und mit dem Singen hat es zunächst nicht geklappt, weil ich da bei der Aufnahmeprüfung gescheitert bin. Und da blieb noch Zeichnen übrig. Früher wollte ich gern Comiczeichner werden. Mit dem Architekturstudium kann ich mir jetzt ein Stück weit diesen Traum erfüllen.

Würden Sie gern Häuser entwerfen?
Ich finde es interessant, wie Menschen in Städten zusammenleben. Auch die sozialen Aspekte. Architektur ist heutzutage das größte Generalstudium mit Fächern wie Geschichte oder Kunst. Ich bin damals wie heute schlecht in Mathe, mal gucken, wie weit ich komme. Dieses Studium macht man eigentlich nicht nebenher; aber es ist gut für die Musik, weil ich sie dann wieder mehr wertschätzen kann.
Haben Sie eine Vision von der Stadt der Zukunft?
Ich bin eher im grüneren Bereich zu verorten, auch was Städte angeht. Ich glaube nicht, dass die Lösung allein in neuen Techniken liegt. Mein Opa ist für mich ein Vorbild. Er hat zu 90 Prozent aus dem eigenen Garten gelebt und vieles wiederverwendet. Mich interessieren Sachen, die erneuerbar sind. Sortenrein bauen heißt zum Beispiel, dass man ein Haus wieder in seine Einzelteile zerlegt und diese beim nächsten Mal wiederbenutzt. Oft leben Menschen eher nach Trends als nach Nachhaltigkeit.
Träumen Sie von einem besseren Morgen und davon, wie man Dinge besser machen kann?
Ja, da gibt es Potenzial. An der Uni sind viele Studierende jünger als ich, aber da gibt es Ideen ohne Ende.
Träumen Sie auch in Ihren melancholisch-traurigen Liedern von einem besseren Morgen?
Ich versuche eher, mit meinen Songs den Moment wertzuschätzen. Das ist die Herausforderung an der Sache. In meiner Musik bin ich eher Beobachter. Ich habe auch das Gefühl, dass ich mit Musik weniger bewegen kann. Da ist die Architektur natürlich konkreter. Das muss sich aber nicht widersprechen. Im frühen Griechenland war Musik sogar ins Architekturstudium integriert. Vielleicht kommen wir ja wieder da hin, dass wir die Welt als eins betrachten.
Künstler hantieren mit Mitteln, die Menschen emotional erreichen, und nehmen so durchaus Einfluss auf die Gesellschaft.
Ja. Es ist aber auch gut, sich das nicht so bewusst zu machen, sonst hat man eine zu große Verantwortung. Wenn es passiert, empfinde ich es immer als Wunder, weil es schwierig ist, zu kontrollieren, ob einem ein Song gelungen ist oder nicht.
Bleibt einem als Künstler nichts anderes übrig, als Optimist zu sein?
Ich zähle mich nicht dazu. Ich würde nicht behaupten, Daueroptimist zu sein.
Hat das etwas mit der Weltenlage zu tun?
Es hat auch mit meiner Sicht auf die Welt zu tun. Mal ist für mich alles in Ordnung, obwohl die Schlagzeilen ganz übel sind – und umgekehrt. Aber das ist eher selten der Fall.
Waren Sie schon immer ein eher melancholischer Mensch?
In der Musik vielleicht schon. Sie ist mein Weg, mit dieser Art von Emotion umzugehen. Für die anderen Emotionen habe ich meine Kumpels. Wenn man sich mit mir verabredet, habe ich nicht die ganze Zeit traurige Themen auf dem Kasten. Ich schreibe einen traurigen Song und bin hinterher gut drauf. Und dann kann man mit mir auch einen draufmachen.
Künstliche Intelligenz wird sowohl in der Architektur als auch in der Musikproduktion immer mehr eingesetzt. Kommt man an dem Thema nicht mehr vorbei?

KI beeinflusst uns alle, genauso wie Technik im Allgemeinen. Ich bin selber sehr anfällig dafür und kann mich in solchen Dingen heillos verlieren. Deshalb habe ich mich bewusst gegen ein Smartphone entschieden. Ich will mich vor Ablenkung schützen. Obwohl die meisten meiner Mitstudierenden in ihren Zwanzigern sind, spielt KI für sie noch keine so große Rolle. Im Moment ist es eher ein Spielzeug.
Heutzutage werden Konzerte über den Bildschirm eines in die Höhe gereckten Smartphones im Videomodus verfolgt. Wie gehen Sie damit um?
Man kann das schwer nachvollziehen, wenn das Smartphone relativ spät in das eigene Leben gekommen ist. Neulich habe ich Leute in der Bahn beobachtet, beide ein Smartphone in der Hand, aber die haben noch eine Art Unterhaltung geführt. Für manche ist das, als liefe ein Radio oder Fernseher im Hintergrund. Es hat für sie nicht die Auswirkung wie für unsereins. Ich persönlich höre aber lieber zu, wenn im Konzert mein Lieblingslied kommt. Mir würde es nicht einfallen, dann ein Smartphone rauszuholen.