Nach Eintracht Braunschweig hat Torsten Lieberknecht mit Darmstadt 98 nun den zweiten Außenseiter in die Fußball-Bundesliga geführt. Das gelang, weil er in vielen Dingen anders ist als seine Kollegen.
Glaubt man Fußballspielern und vor allem Trainern, dann denken sie nie über das nach, was gerade um sie herum passiert. Sie denken nur von Spiel zu Spiel, schauen nie auf die Tabelle, verspüren nie Druck, sehen nie nach den Ergebnissen anderer und rechnen auch nie insgeheim, ob sie aufsteigen oder wie sie die Klasse halten können. In einigen wenigen Einzelsituationen stimmen diese Aussagen sogar. Meist ist es jedoch ein Spiel. Medien und Fans nehmen es hin, obwohl sie genau wissen, dass das Plattitüden oder gar Ausflüchte sind.
„Hier sitzt der Tabellenerste“
Torsten Lieberknecht hat es so anders gar nicht gemacht. Er hat zu Saisonbeginn tiefgestapelt, obwohl er mit Darmstadt 98 schon im letzten Jahr fast aufgestiegen wäre, wenn die Großclubs Schalke, Bremen und Hamburg nicht mit starken Saisonfinals vorbeigezogen wären. Und als Lieberknecht vor dem Spiel gegen Magdeburg auf der Pressekonferenz saß, versprühte er die vermeintlich pure Überzeugung. „Hier sitzt der Tabellenerste mit vier Punkten Vorsprung“, sagte er vor dem vorletzten Saisonspiel. „Wir haben es in der eigenen Hand, und wir wollen aufsteigen. Und wir werden es schaffen, davon bin ich überzeugt.“
Das war ein bisschen geflunkert. Oder einfach das Pfeifen im Walde. Und es ist ungewöhnlich, dass Lieberknecht das nachher zugab. Als der vierte Bundesliga-Aufstieg der Darmstädter durch das 1:0 gegen Magdeburg feststand, wirkte der Trainer fast apathisch. Die Angst vor dem Scheitern war natürlich greifbar gewesen und als sensibler Mensch für ihn besonders. Und deshalb war das erstmal eine Erleichterung, ein Durchpusten. Aber da war im ersten Moment keine Kraft, groß zu feiern. „Ich bin einfach leer in meiner Gedankenwelt“, sagte Lieberknecht wenige Minuten nach dem Aufstieg. Und für alle Fälle fügte er sachlich hinzu: „Ich freue mich natürlich wahnsinnig.“
Und dann gab er mit Blick auf die beiden zuvor vergebenen Matchbälle zu: „Ich weiß nicht, ob wir die Energie noch einmal hätten aufbringen können, wenn wir es heute nicht geschafft hätten.“ Normalerweise ziehen die Trainer es durch. Wenn sie vorher sagen, dass sie zu 120 Prozent an ihr Team glauben, dann stellen sie sich nachher hin und posaunen heraus, dass sie es ja immer gewusst haben. Sie sacken wohl erst ab, wenn die Wohnungs- oder Hoteltür ins Schloss fällt. Aber kaum einer stellt sich hin und erklärt allen, vor denen er zwei, drei Tage vorher geredet hat, dass seine Aussagen da einfach Mittel zum Zweck waren. So sagte er nun auch über den Aufstieg entgegen aller Beteuerungen während der Saison: „Wir wollten das schon die ganze Zeit, haben es aber immer etwas anders ausgedrückt.“
Ja, aber warum eigentlich? Es hat doch im Vorfeld eigentlich jeder so verstanden. Und deshalb ist es tatsächlich eher menschlich und ehrlich statt unprofessionell oder ungeschickt, wenn jemand das nachher öffentlich erklärt. Lieberknecht könnte sich höchstens fragen, ob seine Spieler ihm in Zukunft noch glauben, dass er so bedingungslos an sie glaubt, wie er es öffentlich erklärt. Aber – da ist er selbstbewusst und erfahren genug – das wird er schon hinbekommen.
Und so zeigt dieses Beispiel unter dem Strich, welch ungewöhnlicher Mensch und Trainer Torsten Lieberknecht ist. Und das ist der langjährige Zimmergenosse von Jürgen Klopp zu gemeinsamen Spielerzeiten in Mainz noch wegen ganz anderer Dinge. Das ZDF hat einige davon einmal gesammelt für ein Porträt mit dem Titel „Der Macher mit dem großen Herzen“, in dem es zum Beispiel heißt: „Auftritte bei Fan-Talks, Stippvisiten auf runden Geburtstagen von Anhängern, Café-Besuche: Die Selbstverständlichkeit, mit der Lieberknecht die Nähe zu den Fans annimmt, sucht im immer anonymer und digitaler werdenden Fußballgeschäft ihresgleichen.“
Selbstbewusst und erfahren genug
Des Weiteren lasse der Trainer seinem Heimatclub FV 1921 Haßloch in der Pfalz jedes Weihnachten Sportpräsente zukommen. Er habe mit seiner Familie tatsächlich eine Frau aus der Ukraine mitsamt ihrem Sohn aufgenommen, nachdem er zuvor öffentlich gesagt hatte: „Bei der Familie Lieberknecht stehen die Türen offen für jeden Flüchtling, der Hilfe braucht.“
Solche Dinge würden viele seiner Kollegen nie sagen, weil sie sich daran messen lassen müssen. Für Lieberknecht ist das kein Problem. Einer wie er darf auch Sätze sagen wie seinen vielleicht bemerkenswertesten im April in einem Interview mit der „FAZ“: „Die Fans haben das Recht, mit uns in Kontakt zu kommen, weil wir als Trainer und Spieler in ihrem Verein erst mal Gast sind.“ Es gibt Fans, die gerne einmal klarstellen, dass die Spieler IHR Trikot tragen und nicht umgekehrt. Dass ein Protagonist aus dem Geschäft das sagt, ist ungewohnt. Weil es einen unter Druck setzt, die Aussagen mit Leben zu füllen. Doch Lieberknecht erklärte: „Ich bin ein Trainer, der den Club wirklich aufsaugt, der ihn fühlt. Der mitgestaltet und der zugänglich ist. Der nicht nur ein reiner Arbeiter in einem Fußballclub ist. Ich bin mir bewusst, dass ein Verein etwas Emotionales ist. Wo du viele Menschen abholen musst. Die wichtigste Stimme eines Fußballclubs sind die Fans. Sie verbinden riesengroße Emotionen, Freude oder Tragik mit ihrem Club. Ich kann mich da komplett hineinversetzen, weil ich das auch so spüre.“ Und die Fans spüren, dass er das spürt. Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb kürzlich über ihn: „Lieberknecht, 49, wurde schon oft als freundlich, ehrlich und bodenständig beschrieben, und all das stimmt ja auch. Nicht zuletzt ist dieser Mann mit dem treuherzigen Blick aber ein Menschenfänger, der jedem Tribünenhocker und jedem Routinier im Halb-Ruhestand das Gefühl vermitteln kann, fürs Große und Ganze genauso wichtig zu sein wie jemand aus der ersten Elf.“
Zumindest hat er nun zum zweiten Mal als Trainer eine solche Verbindung zwischen Trainer, Fans und Mannschaft hinbekommen. Bei Eintracht Braunschweig, wo der frühere U21-Nationalspieler nach Stationen in Kaiserslautern, Mannheim, Mainz und Saarbrücken seine Spieler-Karriere beendete und als U19-Coach seine Trainer-Laufbahn begann, arbeitete er zehn Jahre lang und führte die Niedersachsen aus der 3. Liga in die Bundesliga, erstmals nach 28 Jahren. Trotz des direkten Wiederabstiegs durfte er bleiben und als sein Team in die 3. Liga abstieg, blieb er bis zum letzten Spieltag. Und trotz des unerwarteten Absturzes feierten ihn die Fans. „Treue lässt ihn unsterblich werden“, stand auf einem Plakat.
Letzter Aufstieg in die Bundesliga 2015
Die Zeit in Duisburg zwischen Oktober 2018 und November 2020 gilt vielerorts als unerfolgreich, doch auch das stimmt nur bedingt. Zwar konnte Lieberknecht den Abstieg aus der 2. Liga nicht verhindern. Doch nicht nur in Duisburg sind sich fast alle sicher, dass der direkte Wiederaufstieg gelungen wäre, wenn Corona nicht für eine Saison-Unterbrechung gesorgt hätte. Denn zu diesem Zeitpunkt war der MSV Tabellenführer gewesen. Nach der Zwangspause lief dann aber nicht mehr viel. Die Duisburger beendeten die Saison als Fünfter, die finanziellen Sorgen lasteten auf dem Verein noch mehr als auf manch anderem und nach nur acht Punkten aus acht Spielen musste Lieberknecht schnell in der neuen Saison gehen.
Und fand sein Glück wieder in Darmstadt. Diesmal saugte sein Team Kraft aus dem knapp verpassten Aufstieg nur wegen der schlechteren Tordifferenz. Weil es unter anderen Umständen geschah, in einem anderen Umfeld. Aber es geschah in einem Verein, der etatmäßig im Tabellen-Mittelfeld steht. Und mit einer Mannschaft, in der gerade mal sechs Spieler überhaupt Bundesliga-Erfahrung hatten, drei davon kamen nur auf eine einstellige Zahl an Spielen. Die Aufstiegs-Party geriet entsprechend ausgelassen. „Ich bin total verwirrt. Ich wusste eben nicht mehr, wie Marvin Mehlem heißt“, gestand zum Beispiel Siegtor-Schütze Phillip Tietz. Und Manager Carsten Wehlmann, in seinen fünf Amtsjahren der zweite Baumeister des Erfolges, gab sogar einen offiziellen Party-Befehl: „Jetzt werden wir es erst einmal richtig laufen lassen.“
Und obwohl die Lilien 2015 schon mal aufgestiegen waren und sogar einmal die Klasse hielten, und obwohl sie schon im Vorjahr so nah dran waren, hatte aufgrund der Umstände kaum jemand damit gerechnet. „Für uns ist das wie für andere die Champions League“, sagte Präsident Rüdiger Fritsch: „So fühlen wir uns auch. Ich frage mich, was die ganzen Leute vor der Tür vorm Stadion wollen. Offensichtlich ist was Großes passiert.“ Es sei aber nicht ganz so glücklich passiert wie vor acht Jahren, erklärte der Vereins-Boss: „Damals, das war Ostern und Weihnachten auf einmal, jetzt haben wir uns peu à peu nach vorne gearbeitet.“ Das Stadion ist nun renoviert, neben dem Trainingsgelände wurde ein modernes Funktionsgebäude gebaut.
Außenseiter werden sie trotzdem in fast jedem Spiel sein. Doch für diese Situationen wird Torsten Lieberknecht schon etwas einfallen.