Giovanni Giancaspro, Segment Manager für ADAS und automatisiertes Fahren bei TomTom, beseitigt Unklarheiten, die freie Sicht auf die Intelligent Speed Assistance (ISA), die seit Juli für alle neu zugelassenen Fahrzeuge in der Europäischen Union gilt, erschweren.
Herr Giancaspro, seit Juli dieses Jahres schreibt eine EU-Verordnung vor, dass alle bestehenden Fahrzeugserien mit intelligenter Geschwindigkeitsassistenz (ISA) ausgestattet sein müssen. Wie haben sich die Hersteller von Autos, Lieferwagen, Lastwagen und Bussen darauf eingestellt?
Um sich auf ISA vorzubereiten und die neuen Vorschriften zu erfüllen, haben die Hersteller früh damit begonnen, alle neuen Fahrzeugtypen, die seit Juli 2022 zugelassen wurden, mit ISA-Funktionen auszustatten. Fahrzeugtypen, die vor Juli 2022 zugelassen wurden und sich noch in der Produktion befinden, wurden in der Zwischenzeit von den OEMs so angepasst, dass sie ISA-Fähigkeiten an Bord haben.
Piepst es, wenn ich zu schnell fahre? Wie kann ich feststellen, ob mein Auto oder ein Auto, das ich kaufen möchte, mit ISA ausgestattet ist?
Ein ISA-konformes Auto piepst nicht unbedingt, wenn die Höchstgeschwindigkeit überschritten wird. Die neue Verordnung lässt einen gewissen Spielraum, wie der Fahrer in diesem Fall gewarnt werden soll. Die Hersteller können wählen zwischen einer visuellen Warnung in Kombination mit einer akustischen Warnung, wie einem Piepton, einer visuellen Warnung in Kombination mit einer haptischen Warnung oder einer haptischen Warnung allein. In jedem Fall zeigt ein ISA-konformes Fahrzeug dem Fahrer immer die aktuelle Geschwindigkeitsbegrenzung an.
Weiß ISA stets zuverlässig, welche die angemessene Geschwindigkeit ist?
Vereinfacht gesagt verlangt die ISA-Verordnung, dass die Geschwindigkeitsbestimmung auf 80 bis 90 Prozent der zurückgelegten Strecke genau ist. Dies ist eine hohe Genauigkeitsgrenze, aber es kann immer noch Fälle geben, in denen die Geschwindigkeitsermittlung bei einem ISA-konformen Fahrzeug ungenau ist.
Werden wir mit ISA sicherer fahren?
Das Ziel der Regulierungsbehörde ist es sicherlich, die Verkehrssicherheit zu erhöhen, indem die Fahrer über die richtige Geschwindigkeitsbegrenzung informiert werden, also mithilfe visueller und akustischer oder haptischer Warnung.
ISA kann technisch umgangen werden: Wie funktioniert das? Und ist es zulässig, ISA „auszuschalten“? Kann ich die Geschwindigkeitsbremse versehentlich lösen?
Zunächst ist es wichtig zu betonen, dass eine Funktion zur Kontrolle der Geschwindigkeitsbegrenzung, die dazu führt, dass unser Auto automatisch bremst, von den Herstellern eingeführt werden kann, aber von der neuen ISA-Verordnung nicht vorgeschrieben ist. Der Fahrer behält die Kontrolle und kann das ISA-System problemlos außer Kraft setzen. Die Benutzer können das ISA-System während der Fahrt deaktivieren, es muss jedoch beim nächsten Einschalten des Fahrzeugs automatisch wieder aktiviert werden. Falls der Hersteller eine automatische Geschwindigkeitskontrolle, also eine Geschwindigkeitsbremse, eingebaut hat, kann der Fahrer immer noch schneller als die zulässige Geschwindigkeit fahren, zum Beispiel indem er mehr Druck auf das Gaspedal ausübt.
Nebel, Schnee, Hagel, sintflutartiger Regen und Aquaplaning sind für die Verkehrsteilnehmer unangenehm und gefährlich. In solchen Situationen melden die Fahrerassistenzsysteme oft, dass sie nicht funktionieren. Warum gibt es keine „Scheibenwischer“, die Sensoren und Kamerasysteme sauber und zuverlässig halten?
Im Fall von ISA können die Sensoren und Kamerasysteme allein unter Umständen keine vollständige Geschwindigkeitsgenauigkeit garantieren, unter anderem wegen der rauen Witterungsbedingungen. Wir sollten aber auch nicht vergessen, dass die meisten Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht durch Straßenschilder gekennzeichnet sind. Sie werden als „implizite“ Geschwindigkeitsbegrenzungen angegeben, wie die Standardgeschwindigkeit für Autobahnen, außerörtliche Straßen und innerörtliche Straßen. ISA kann Kameras allein zur Erkennung von Geschwindigkeitsbegrenzungen durch Verkehrszeichenerkennung verwenden. Kameras haben jedoch eine begrenzte Reichweite und können, wie Sie bereits erwähnt haben, durch Regen oder Schnee geblendet werden. Das führt dazu, dass sie bei der Erkennung von bedingten und variablen Geschwindigkeitsbegrenzungen eine schlechte Leistung erbringen. Das heißt, bei Tempolimits, die etwa nur für bestimmte Wetterbedingungen oder Fahrzeugtypen gelten. Aus diesem Grund haben sich die meisten OEMs für eine kombinierte Kamera- und Kartenlösung für ISA entschieden, bei der die zugrunde liegende Karte dazu beiträgt, die Kameramessungen zu validieren und die Gesamtgenauigkeit und Zuverlässigkeit des Systems zu erhöhen. Hier kommt TomTom ins Spiel.
Durch die Nutzung digitaler Kartendaten, die verifizierte Daten zu Geschwindigkeitsbegrenzungen enthalten, kann die ISA-Technologie über die Reichweite der Kameras hinausgehen und unter allen Bedingungen funktionieren. Die Kartendaten werden mit den ADAS-Funktionen des Fahrzeugs zusammengeführt, um sich auf wechselnde Geschwindigkeitsbegrenzungen vorzubereiten. So kann das Fahrzeug die Geschwindigkeitsbegrenzung auf einer bestimmten Straße erkennen, den Fahrer warnen, wenn er sie überschreitet und sogar die Geschwindigkeit reduzieren. Das Ergebnis ist nicht nur eine höhere Fahrzeugsicherheit, sondern auch mehr Fahrerkomfort und Energie-Effizienz. TomTom versorgt Erstausrüster mit digitalen Kartendaten, die ihnen dabei helfen, den von der ISA geforderten Genauigkeitsgrad zu erreichen, sodass ihre Fahrerassistenzsysteme den Straßenverlauf besser voraussehen können.
Der Klimawandel und die extremen Wetterbedingungen verschärfen die Probleme mit der Sicht und der Sicherheit auf den Straßen rapide. Werden technische Hilfsmittel wie die intelligente Geschwindigkeitsassistenz (ISA) und digitale ADAS-Kartendaten mit Geschwindigkeitsbegrenzungen in dieser Richtung angepasst und weiterentwickelt?
Wir sehen derzeit keine Sicherheitsfunktionen, die speziell für den Klimawandel entwickelt wurden. Aber die Sicherheit im Straßenverkehr ist ein wichtiger Faktor für Fahrer, OEMs und Regulierungsbehörden. Die Technologie für assistiertes und autonomes Fahren erweitert ständig ihre Präsenz an Bord und das Spektrum der Probleme, die sie lösen kann.
Mit ISA kommt auch eine Blackbox-Pflicht. Welche Daten über unsere Fahrten und unser Fahrverhalten werden aufgezeichnet, und wer darf sie lesen?
Speziell bei ISA muss die Technik weder das Fahrverhalten noch die Fahrtdaten aufzeichnen. Sie muss lediglich die korrekte Geschwindigkeitsbegrenzung an einer bestimmten Stelle auf der Straße ermitteln und sie mit der gefahrenen Geschwindigkeit vergleichen, um zu entscheiden, ob der Fahrer gewarnt werden soll oder nicht. In vielen ISA-Implementierungen erfolgt die Geschwindigkeitsbewertung vollständig im Fahrzeug und stützt sich auf Kameramesswerte, die von der lokalen ECU verarbeitet werden, und auf eine vollständig im Fahrzeug gespeicherte Karte.
Wieviel Erfahrung ist erforderlich, um das Fahren mit Geschwindigkeitsbremsen technisch sicher zu machen?
Die Geschwindigkeitsbremse ist zwar für die ISA nicht zwingend vorgeschrieben, aber die Technologie ist bereits verfügbar und Teil der Konstruktion vieler fortgeschrittener Fahrerassistenzsysteme mit der Kurzbezeichnung ADAS, oder autonomer Fahrsysteme. Geschwindigkeitskontrollfunktionen sind ein wichtiger Teil der allgemeinen Bemühungen zur Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit und werden in Neufahrzeugen zunehmend zum Standard.
Wird seit Juli 2024 in allen Fahrzeugen in der EU standardisierte oder sogar dieselbe Technologie für intelligente Geschwindigkeitsassistenten eingebaut?
Jeder Erstausrüster entwickelt sein eigenes ISA-System, wobei er sich auf verschiedene Zulieferer stützt und eine Kombination aus unterschiedlicher Kamera-, Sensor-, Software- und Kartentechnologie verwendet. Daher können die in den Fahrzeugen installierten ISA-Systeme von Hersteller zu Hersteller sehr unterschiedlich sein. Die Standardisierung der Leistung dieser Systeme wird durch die in der Verordnung festgelegten Standardanforderungen und durch das Standard-Homologationsverfahren, dem alle Fahrzeuge unterliegen, gewährleistet.
Wird die ISA-Verpflichtung den Beginn der Ära des fahrerlosen Fahrens in der EU markieren?
Die EU arbeitet zusammen mit anderen Regulierungsbehörden weltweit an technischen Vorschriften für automatisierte Fahrzeuge, die sich auf alle Automatisierungsstufen konzentrieren. Dies ist wichtig, weil dadurch gleiche Wettbewerbsbedingungen und Qualitätsstandards geschaffen werden, die alle OEMs einhalten müssen.