Seinen Jugendtraum, Seemann zu werden, konnte der vor 90 Jahren verstorbene Joachim Ringelnatz in vielen seiner lyrischen Werke verarbeiten. Dank der Personifizierung des von ihm erschaffenen Matrosen Kuttel Daddeldu gelang ihm der Aufstieg zu einem der beliebtesten Kabarett-Künstler der Weimarer Republik.
Als Joachim Ringelnatz im Februar 1934 von einer Vortragsreise in der Schweiz nach Berlin zurückgekehrt war, ging es ihm gesundheitlich sehr schlecht. Eine seit längerer Zeit schon schwelende Lungentuberkulose war zum Ausbruch gekommen. Den späteren Aufenthalt in einem Sanatorium in Sommerfeld im Juni 1934 konnte sich der mittellose Schriftsteller, Kabarettist und Maler-Autodidakt nur dank finanzieller Unterstützung durch seinen Freundeskreis leisten. Schon sein letztes, beschwerliches Auslands-Gastspiel in der Schweiz war letztlich purer Geldnot geschuldet, denn die Nazis hatten ihn im Frühjahr 1933 mit einem Auftrittsverbot belegt, seine Bücher wurden verbrannt, seine Bilder der „entarteten Kunst“ zugewiesen.
Früher Tod als Folge einer Tuberkulose
Der Bücherbann war einigermaßen unverständlich, hatte sich Ringelnatz doch niemals explizit politisch in seinen Werken geäußert. Vor allem das Auftrittsverbot hatte ihm die finanzielle Existenzgrundlage entzogen. Zuvor war er von 1920 bis 1933 meist monatelang auf Vortragsreisen gewesen, die ihn auf die Bühnen sämtlicher großer Kabaretts des Reichs und der Nachbarländer, aber häufig auch in gewöhnliche Tingeltangel-Etablissements geführt hatten. Von seiner Schreibtätigkeit und dem gelegentlichen Verkauf eines Bildes konnte er seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten, auch wenn er seit 1923 in zunehmendem Maße auch als Maler mit einem expressionistisch angehauchten Duktus auf den Spuren seiner befreundeten Kollegen Otto Dix oder George Grosz ernstgenommen wurde.
Doch den Großteil seiner Einnahmen verdankte er seinen Vortragsreisen. „In Ringelnatz hat sich noch einmal ein Poeten-Typus verwirklicht, der, alt wie die Dichtkunst selbst, seit eh als Widerpart und Gegenspieler gilt der seriösen Priesterdichter und akkreditierten Tafelverhänger. Er zählt zu jener Zunft der Unzünftigen, die Fahrende Sänger heißen oder Spielleute, Vaganten oder Joculatoren“, schrieb der renommierte deutsche Lyriker Peter Rühmkorf.
Trotz legendärer Verleger wie Kurt Wolff und seit 1927 Ernst Rowohlt war das Verkaufen von Lyrik auch schon in Zeiten der Weimarer Republik ein schwieriges Geschäft. Da konnten auch Ringelnatz’ gelegentliche literarische Ausflüge in Richtung Drama und Prosa kaum helfen, weil er damit keinen nachhaltigen Erfolg erzielte. Gleiches galt für seine 1924 im Band „Nervosipopel“ gesammelten Märchen. Auch die Auflagen seiner fünf zwischen 1911 und 1932 publizierten autobiografischen Bücher blieben ebenso überschaubar wie die seiner zwischen 1910 und 1931 erschienenen fünf Kinderbücher.
Dass der Name Ringelnatz in der Republik dennoch einem breiten Publikum geläufig werden konnte, ist letztlich neben den zahllosen Kabarett-Auftritten der Publikation von rund 600 Ringelnatz-Gedichten in diversen Zeitschriften wie „Simplicissimus“, „Die Weltbühne“ oder „Die literarische Welt“ zwischen 1921 und 1933 geschuldet. Nach der Rückkehr aus dem Sanatorium Anfang Oktober 1934 verstarb Ringelnatz wenig später am 17. November 1934 im Alter von 51 Jahren in seiner Berliner Wohnung. Während seiner Beerdigung drei Tage später wurde im Beisein von gerade mal neun Trauergästen auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin sein Lieblingslied „La Paloma“ gespielt, womit er seine lebenslange Sehnsucht nach einem abenteuerlichen Seefahrer-Dasein nochmals öffentlich bekunden ließ.
Die spätere pekuniäre Notlage kannte der am 7. August 1883 in Wurzen bei Leipzig geborene Hans Gustav Bötticher in seiner Kindheit und Jugend nicht. Nach dem Umzug seiner Familie nach Leipzig im Jahr 1886 wuchs er wohlbehütet in einem kunstsinnigen Umfeld auf. Sein Vater wandelte sich von einem Musterzeichner zu einem Schriftsteller, der ab 1901 zudem „Auerbachs Deutschen Kinderkalender“ herausgab. Seine Mutter entwarf Puppenkleidung und Muster für Perlenstickereien. Dank der schonungslos offenen Bekenntnisse in seinen späteren Autobiografien, beispielsweise dem Titel „Mein Leben bis zum Kriege“ von 1931, kann man tief in die persönlichen Bedrängnisse des Heranwachsenden eintauchen.
Geplatzter Traum vom Seemannsleben
Vor allem sein Äußeres, das von einer kleinen Statur, einer auffallend langen und spitzen Nase, einem vordrängenden Kinn und einer eher mädchenhaften Frisur geprägt war, brachte ihm während der Schulzeit jede Menge Hänseleien ein. Nach seinem Rauswurf aus dem Gymnasium aufgrund eines Streichs, der ihm zudem eine Unterarm-Tätowierung eingebracht hatte, schaffte er nach ersten dilettierenden Gedicht-Publikationen auf den Spuren seines Vaters im Frühjahr 1901 nur mit Ach und Krach die Mittlere Reife an einer Privatschule.
Gleich darauf verkündete er seinen „Herzenswunsch“, als Seemann arbeiten zu wollen. Bis zu seinem Ausscheiden aus diesem Beruf im Juli 1903 aufgrund einer mangelhaften Sehschärfe hatte er an Bord diverser Schiffe schwerste Gängeleien durchleiden müssen. Die Erlebnisse seiner ersten Fahrt auf dem Segelschiff „Elli“ schrieb er sich 1911 in seiner Autobiografie „Was ein Schiffsjungen-Tagebuch erzählt“ von der Seele. Den vorerst endgültigen Abschied von der Seefahrt nahm er 1904 nach Absolvierung seiner einjährigen Dienstzeit bei der Kaiserlichen Marine in Kiel. Danach gelang es ihm nicht, in einem der vielen von ihm ausprobierten bürgerlichen Berufe Fuß zu fassen.
Im Jahr 1908 landete er schließlich in München, versuchte sich dort als Stadtreisender einer Kaffeehandlung, dann als Buchhalter oder Mitarbeiter eines Reisebüros. Nebenbei reichte er bei Publikationen wie „Bellendes Wurstblatt“ oder „Grobian“ seine Gedichte ein. Auf einer seiner Erkundungstouren durch die Stadt entdeckte er schließlich in der Türkenstraße das Lokal „Simplicissimus-Künstlerkneipe“, dem damals wichtigsten Treffpunkt der Münchener Boheme. Genau hier begann Hans Bötticher unter der strengen Obhut der lokalen Wirtshaus-Legende Kathi Kobus seine künstlerische Laufbahn.
Im Weltkrieg auf Minensuchboot
Hier durfte er seine ersten Gedichte vortragen und wurde bald schon von der Chefin gegen einen geringen Obolus zum „Hausdichter“ ernannt. Dabei machte er die Bekanntschaft von Persönlichkeiten wie Frank Wedekind oder Ludwig Thoma. Die Eröffnung eines Zigarrenladens 1909 unter dem volltönenden Namen „Tabakhaus zum Hausdichter“ erwies sich bereits nach wenigen Monaten als Fiasko. Aber in Sachen Schriftstellerei machte Bötticher Fortschritte durch gelegentliche Veröffentlichungen seiner Gedichte in der satirischen Zeitschrift „Simplicissimus“ und durch die Publikation seiner beiden ersten Werke 1910 mit Versen für Kinder: „Kleine Wesen“ sowie „Was Topf und Pfann’ erzählen kann“. Um seine schulischen Wissenslücken auszugleichen, holte er sich kostenlosen Nachhilfeunterricht bei dem Bohemien Baron Thilo von Seebach in Fächern wie Latein, Literatur und Geschichte. Nach einem Zwischenspiel als Bibliothekar, der Veröffentlichung des Gedichtbands „Die Schnupftabakdose. Stumpfsinn in Versen und Bildern“ von 1912 und weiteren Publikationen seiner lyrischen Arbeiten in Zeitschriften wie „Jugend“, „März“ oder „Die Woche“ nahm der Erste Weltkrieg seinen Anfang.
Neue Karriere als reisender Artist
Bötticher meldete sich sogleich freiwillig zur Marine zurück, brachte es bis zum Leutnant und Kommandant eines Minensuchbootes, durfte aber sehr zu seinem eigenen Verdruss an keiner einzigen Schlacht teilnehmen. Alles festgehalten in seiner dritten Autobiografie „Als Mariner im Krieg“ von 1928. Ende 1919 hatte der nach München zurückgekehrte Bötticher erstmals in seinem Tagebuch den Künstlernamen Joachim Ringelnatz verwendet. Diesen verwendete er dann auch gleich bei seinen beiden bis dahin wichtigsten Lyrik-Publikationen „Joachim Ringelnatzens Turngedichte“ und „Kuttel Daddeldu oder das schlüpfrige Leid“ von 1920. Auszüge aus diesen beiden Werken wurden danach zum Standard-Repertoire von Ringelnatz’ Kabarett-Auftritten zunächst im Münchener Lokal „Alter Simpl“ und wenig später im renommierten literarischen Kabinett des Großen Schauspielhauses Berlin namens „Schall und Rauch“.
Dort verkörperte Ringelnatz im Matrosenanzug die von ihm geschaffene Kunstfigur des Seemanns Kuttel Daddelu voller Inbrunst und mir großem Charme. Damit begann die Karriere des „reisenden Artisten“, wie sich Ringelnatz selbst bezeichnete. Die Erlebnisse auf seinen Vortragsreisen durch die Weimarer Republik schlugen sich über die Jahre auch wieder in lyrischen Werken mit zunehmend ernster und besinnlicher werdender Thematik um Liebe und Freundschaft oder Gott und den Tod nieder: etwa „Reisebriefe eines Artisten“ (1927), „Allerdings“ (1928); „Flugzeuggedanken“ (1929), „Gedichte dreier Jahre“ (1932) und „Gedichte, Gedichte von Einstmals und Heute“ (1934). Kaum beachtet verfasste Ringelnatz zudem bereits 1924 mit der kurzen Prosa „...liner Roma…“ den ersten modernen Großstadtroman – ein Jahr vor John Dos Passos „Manhattan Transfer“ und fünf Jahre vor Alfred Döblins „Alexanderplatz“.