Trekking durch die menschenleere Weite des kirgisischen Tian-Shan-Gebirges ist herausfordernd. Bezaubernd „die schönste Liebesgeschichte der Welt“. Erholsam das Jurtencamp am Song-Köl-See.

Es gibt Menschen, die füllen mit ihrer Aura ganze Räume. Aisuluu ist so jemand. Das kirgisische Mädchen, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt, betritt die Jurte und erobert mit seinem schüchternen Lächeln im Handumdrehen die Herzen der Wanderer. Dabei redet sie kaum ein Wort beim Servieren des Tees. Wie auch? Aisuluu spricht Russisch, die Umgangssprache in Kirgistan, und natürlich Kirgisisch. Um etwas Englisch zu lernen, hilft sie ihrer Tante in den Schulferien im Jurtencamp aus. Und dies mit unendlich viel Freude, obwohl drei Tagesritte entfernt von Freunden und Familie im heimatlichen Dorf, dem Ail.
Doch in diesem Camp trifft sie Wanderer aus einer anderen Welt, aus dem unendlich fernen Europa, die ihre anstrengende Trekkingtour mit ein paar erholsamen Tagen am Song-Köl-See auf 3.000 Meter ausklingen lassen. So sehr Aisuluu ihre Heimat, die Familie und die alten Traditionen der Dorfgemeinschaft liebt und ein Teil von all dem ist, so sehr zieht es sie in die Ferne, will, wie die Gestirne über ihrem Ail, die ganze Welt sehen und dem Mond lauschen, der zur Erde spricht. Im Kirgisischen bedeutet „Ai“ Mond und „suluu“ hübsch.
Auf der Suche nach dem Glück wird der hübsche Mond vermutlich ein paar althergebrachte Konventionen brechen müssen. Vielleicht ein bisschen so, wie es einst ihre heimliche Heldin, die schöne Dshamilja, aus der gleichnamigen Novelle des kirgisischen Nationaldichters Tschingis Aitmatow tun musste. Doch später mehr zur „schönsten Liebesgeschichte der Welt“.
Wanderer aus verschiedenen Nationen
Aisuluus Tag beginnt noch vor Sonnenaufgang, unbemerkt von den tief schlafenden Touristen in ihren behaglichen Jurten, wenn es die Quecksilbersäule draußen auf bescheidene drei Grad schafft. Dann reinigt sie die Gemeinschaftstoiletten und Duschen, beseitigt die Hinterlassenschaften der Pferde und Kühe, die nachts grasend durchs Lager streifen. Sie hilft das reichliche Frühstück vorzubereiten: backt Fladenbrot, schneidet Wurst und Käse, füllt hausgemachte Marmeladen und Gebirgshonig in Schalen, richtet große Teller mit unglaublich süßen, getrockneten Aprikosen und knackigen Nüssen an, gießt Ayran in Karaffen, heizt den Samowar.
Gegen 9 Uhr kommen sie dann endlich, ihre Gäste, mit denen sie schon einige Brocken Englisch sprechen kann. Österreicher und Deutsche dieses Mal. Manchmal auch Schweizer, Norweger, Niederländer, Italiener, ein Schmelztiegel der Kulturen. Nach dem Frühstück räumt und wäscht sie ab.
Und was tun die Urlauber? Sie machen es sich auf den Bänken vor ihren Jurten bequem und lassen sich seelenruhig von der wärmenden Sonne verwöhnen. Einer eingeschworenen Sitzgemeinschaft von merkwürdigen Hochalmguckern gleich. Merkwürdig, weil diese Wanderer einfach nichts tun außer genüsslich das Frühstück verdauen. Sie wollen nicht einmal an ihrer aktiven Erholung arbeiten. Warum auch? Das haben sie ja schon zur Genüge beim Trekking getan.

Die Tour war bis dahin nämlich alles andere als ein Zuckerschlecken. Zehn Tage zuvor empfängt Bischkek die Naturliebhaber mit brütender Hitze. 42 Grad misst die Hauptstadt. Im Schatten. Die Luft trotz vieler Parks zum Schneiden zwischen realsozialistischen Mietskasernen und realkapitalistischen Glasbetonklötzen. Aus endlosen Blechkolonnen mischen sich bläulich wabernde Abgaswolken mit dem beißenden Smog mindestens eines Kohlekraftwerks. Nach Tagen unberührter Wildnis kann die Moderne da unten im Tal rückblickend nur als zivilisatorische Bankrotterklärung gewertet werden. Denn der wahre Luxus einer kirgisischen Trekkingtour besteht in all dem, was es alles nicht gibt. Und davon gibt es unendlich viel.
Am Tag zwei geht es mit einem musealen Russentruck ins Abenteuer. „In den Bergen hat es über Nacht geregnet“, erklärt Aida Altymyschowa in perfektem Deutsch mit rollendem russischem Akzent. „Für einen dreiachsigen SIL kein Problem, für unsere Mercedes Sprinter schon. Wir müssen umdisponieren.“ Aida leitet seit Jahren Outdoor-Touren im Tian Shan mit Reiseveranstaltern wie Weltweitwandern und kennt die Tücken im Gelände nur zu gut.
Im letzten Bergdorf für die nächsten Tage treffen die Abenteurer auf eine siebenköpfige Mannschaft und ihre Pferde. Die Begrüßung ist herzlich, es liegt eine erwartungsfrohe Spannung in der klaren Luft. Ohne die jungen Kirgisen wären die Tagesetappen mit bis zu 1.000 Höhenmetern einfach nicht zu schaffen. Die Vollblüter tragen das schwere Gepäck, die Zelte, die mobile Küche, die Lebensmittel.
Mit leichtem Tagesrucksack geht es endlich los. Der Anstieg ist moderat, die Natur zeigt sich einladend mit lichten Mischwäldern und sattgrünen Wiesen entlang glasklarer Bäche, die hin und wieder auf einem umgefallenen Baumstamm überquert oder barfuß durchwatet werden müssen. „Nicht jedermanns Sache“, weiß Aida. „Ihr könnt gern aufsatteln, wenn euch die Puste ausgeht.“ Und das passiert gerade Städtern vom flachen Land öfter mal. In der Dauer liegt bekanntlich die Last und mit zunehmender Höhe wird die Luft merklich dünner. Deshalb bleiben immer zwei Vierbeiner bei den Wanderern. Das hilft, die kleine Gruppe zusammenzuhalten, physisch und psychisch.
Schroffe Gebirgslandschaft

Der erste Trekkingtag mit mehreren 2.800 Meter hohen wolkenverhangenen Pässen in schroffer Gebirgslandschaft hatte es in sich. Abends gibt es Beschbarmak, Nudeln mit reichlich Rindfleisch, das kirgisische Nationalgericht, wahlweise mit knackigem Gemüse für den europäischen Gaumen, ja sogar eine vegetarische Variante.
So richtig nachempfinden kann man das vermutlich nicht im Hochgebirge. Die klassische Küche der Viehzüchter in einer Landschaft oberhalb der Baumgrenze, in der außer Gras nichts wächst, reduziert sich im Wesentlichen auf das, was die Natur hergibt: Pferde-, Lamm- und Rindfleisch und die Milchprodukte der Nutztiere. Auch dass Europäer zu Fuß gehen, wo sie doch reiten könnten, mutet schon etwas seltsam an. „Die Flügel eines Kirgisen sind sein Pferd“, sagt ein altes Sprichwort, das noch immer gilt bei den Nomaden.
„Gerade jugendlichen Wanderern erscheinen die ersten Tage ohne Handyempfang schier endlos“, erzählt Aida. „Kein Whatsapp, kein Facebook, kein Instagram. Eine echte Geduldsprobe, wo es doch so viel zu posten gäbe!“ Die weglose Landschaft etwa mit ihren grasbewachsenen Hügeln bis zum Horizont, die auf Menschen schrecklich monoton wirken kann und sich trotz alledem – einem Paradoxon gleich – tief ins Gedächtnis brennt.
Ein Tag später, hinter dem Kol-Kogur-Pass, wandelt sich das Bild schlagartig. Das leuchtende Grün weicht vegetationslosen, gedeckten Brauntönen. Eine Wasserscheide im Tian Shan. Hin und wieder zeigt sich ein flinkes Murmeltier, hoch am Himmel kreist ein Steinadler und wartet auf seine Chance.

Dann der Skazka Canyon. In der „Märchenschlucht“ leuchten bizarre Lehmformationen in fast unwirklichen Rottönen. Sonne, Wind und Regen haben über die Jahrtausende eine mystisch wirkende Märchenlandschaft mit schwindelerregenden schiefen Wänden, Zinnen, geheimnisvollen Winkeln und Durchbrüchen erschaffen. Manche glauben im Spiel von Licht und Schatten gar versteinerte Drachen und Riesen zu erkennen.
Ganz anders das Nachtlager am Kol-Kogur-See, den 500 Meter steil abfallende, fahlgraue Felswände flankieren. Am wärmenden Lagerfeuer erzählt Aida die ergreifende Geschichte von Dshamilja und der unbändigen Kraft der Liebe: 1943, Kirgistan, damals Teil des Sowjetimperiums, befindet sich im zweiten Jahr des Großen Vaterländischen Krieges. Bis auf Alte und Kriegsversehrte dienen alle Männer des Ails im Krieg. Frauen und Kinder müssen nun das Getreide einfahren und die Väter, Brüder und Ehemänner in den Schützengräben versorgen. So auch die lebensfrohe Dshamilja, die kurz zuvor mit einem Mann aus ihrem Dorf verheiratet worden war, der ihr fremd geblieben ist.
Kirgistan ist heute ein anderes Land
Sie lernt den Frontheimkehrer Danijar kennen, einen scheuen Sonderling mit zerschossenem Bein. Sein sehnsuchtsvoller, mystischer Gesang verzaubert ihr Herz. Eine verbotene Liebe, ein absoluter Tabubruch in der muslimischen Dorfgemeinschaft. Schlimmer noch, es ist Krieg, Dshamiljas Ehemann liegt irgendwo verletzt in einem Lazarett fern der Heimat.
Der bis dato völlig unbekannte, nicht einmal 30-jährige Veterinärmediziner und Literaturstudent Tschingis Aitmatow hievte mit dieser einen Novelle das kleine zentralasiatische Land ins Schaufenster der Weltliteratur.

„Ich schwöre, es ist die schönste Liebesgeschichte der Welt“, schwärmte der französische Dichter und Schriftsteller Louis Aragon 1958, der die poetische Stimme aus der kirgisischen Steppe ins Französische übersetzte und zu den Menschen hinter den Eisernen Vorhang brachte, „in dieses hochmütige Paris von Villon, Hugo und Baudelaire, das alles schon mal gesehen, gelesen und erlebt hat.“ Außer Dshamilja.
Aisuluu kann sich nicht erinnern, wie oft sie dieses Büchlein schon gelesen hat. Einmal habe sie die ganze Erzählung bei Vollmond im Garten verschlungen. Hier im Jurtencamp am Song-Köl-See bliebe ihr für so etwas leider keine Zeit. Ob sie sich nicht hin und wieder einsam fühle, fernab ihres Ais, getrennt von ihren Freunden und Verwandten? Mit leuchtenden Augen zitiert Aisuluu ihre literarische Heldin: „Eigentlich sind wir alle eine Familie. So ist es bei uns üblich seit der Nomadenzeit, als unsere Vorfahren gemeinsam Jurten aufschlugen und das Vieh hüteten.“
Dshamilja und Danijar entschieden sich damals für die Liebe, für einen Aufbruch ins Ungewisse. Für die junge Bäuerin bedeutete dies Abschiednehmen von ihrem Ail, von ihrer Familie. Für immer.
Trotz aller Traditionen ist das Kirgistan von heute ein anderes Land. Die Chancen stehen gut für Aisuluu, den hübschen Mond.