Dem vor 250 Jahren geborenen William Turner gelang in der Epoche der Romantik der Aufstieg vom Wunderkind und Shootingstar der Kunstszene zum größten britischen Maler. Mit seinem von vielen Zeitgenossen nicht mehr verstandenen Spätwerk inspirierte er die Impressionisten und nahm den abstrakten Expressionismus vorweg.

Die Deutschen hatten ihren Caspar David Friedrich, die Briten ihren William Turner. Das Geburtsdatum der beiden wichtigsten Vertreter der Kunst während der Epoche der Romantik lag gerade mal gut ein Jahr auseinander. Aber in ihrem Werk waren die beiden Heroen so etwas wie Antipoden und genossen auch bei ihren Zeitgenossen eine sehr unterschiedliche Wertschätzung. Während Friedrichs von kontemplativer Stille und meditativer Naturbetrachtung geprägte Schöpfungen zum Zeitpunkt seines Todes 1740 schon fast in Vergessenheit geraten waren, blieb Turner auch nach dessen Ableben 1851 sprichwörtlich in aller Munde. Mit seinem Werk hob er die Landschaftsmalerei in bislang unbekannte Höhen, bei dem er die vier klassischen antiken Elemente Erde, Wasser, Luft und als Einziger auch das Feuer zum durch Dynamik geprägten Sujet gemacht hatte und sie schließlich durch Transformation in Farbexplosionen und Auflösung ihrer Konturen in die Darstellung reinen Lichts und des Atmosphärischen verwandelte. Turner wurde zum britischen Nationalmaler erhoben und gilt heute unbestritten als größter britischer Maler.
Der Künstler, der dank seines exzessiven Schaffens ein Riesenwerk von mehr als 550 Ölgemälden, rund 2.000 Aquarellen und 30.000 weiteren Arbeiten auf Papier hinterlassen hat, die sich größtenteils im Besitz des englisches Staates und vor allem der Londoner Tate Britain befinden, war sich dank eines ausgeprägten Selbstbewusstseins seiner Ausnahmeposition unter allen lebenden Künstlern wohl bewusst. Die Nachwelt teilt noch immer diese Einschätzung, was sich auf Auktionen in Rekordpreisen für Werke aus Privatbeständen widerspiegelt. Für das 1839 fertiggestellte Ölgemälde „Modern Rome – Campo Vaccino“, bei dem sich das Forum Romanum in dunstigem Licht auflöst, zahlte das J. Paul Getty Museum im Jahr 2010 stolze 44,9 Millionen US-Dollar.
Malerischer Bruch mit allen Konventionen

Seinen Ruhm hatte er als ungewöhnliches Selbstvermarktungsgenie vom Beginn seiner Karriere an ganz geschickt gesteuert. Durch die frühe Zusammenarbeit mit Kupferstechern und Verlegern wurden seine Motive und sein Name schnell bekannt und machten ihn schon mit Anfang 20 finanziell unabhängig. Schon 1804 hatte er so viel Vermögen angehäuft, dass er den damals absolut neuartigen Schritt der Eröffnung einer eigenen, 1818 grundlegend erweiterten Londoner Galerie gehen konnte. Dort konnte er Kunden ständig bis zu 30 Werke vorführen, während sich seine Kollegen im Wesentlichen auf die jährliche Ausstellung in der Royal Academy beschränken mussten, wo die Bilder an den Wänden regelrecht zusammengepfercht wurden. Turner beschäftigte sogar einen eigenen Agenten namens Thomas Griffith, der in der Galerie potenziellen Interessenten Mustermotive für Auftragsproduktionen von Aquarellen oder Ölgemälden zeigte. Die Basis dieser Entwürfe waren die zahllosen Skizzenbücher, in denen Turner die visuellen Eindrücke von Natur oder Landschaften seiner vielen Reisen in England oder auch auf dem Kontinent minutiös festhielt. Das Klischee des Hunger leidenden Künstlers traf auf Turner, der wenig über sein Privatleben preisgab, kaum Wert auf sein Äußeres legte, nie verheiratet war und dem Angeln als seinem Lieblingshobby frönte, keinesfalls zu. Laut der Tate Britain war er nicht nur durch seine Kunst, sondern „durch kluge Investitionen in Aktien und Immobilien“ steinreich geworden.

Die finanzielle Unabhängigkeit erlaubte Turner denn auch den endgültigen Bruch mit den malerischen Konventionen seiner Zeit, was seinen Anfang in Turners Italien-Reise 1819/1820 nahm, als er sich von den Farb- und Lichtspiegelungen an der Küste verzaubern ließ. Allerdings gab es auch zuvor schon erste Kritiken an seiner Maltechnik, die die auf eine möglichst naturgetreue bildliche Darstellung eingestellten Sehgewohnheiten seiner Zeitgenossen ins Wanken brachte. So brandmarkte der englische Essayist William Hazlitt bereits 1816 Turners Werke als viel zu abstrakt, „Bilder von nichts und sehr ähnlich“, „alles ist ohne Formen und leer“. Der britische Sammler und Kunstmäzen Sir George Beaumont tat Turners Farbgestaltung als „vergleichsweise Kleckse“ ab.
Noch weitaus gehässiger war eine spätere zeitgenössische Karikatur, bei der Turner mit einem Wischmopp ausstaffiert, gelbe Farbe aus einem Eimer schöpfend und anschließend auf die Leinwand schmierend präsentiert wurde. Auch Vergleiche seiner Bilder mit Hummersalat, Seifenlauge oder Tünche waren an der Tagesordnung. Eines von Turners berühmtesten Spätwerken, „Das Sklavenschiff“ von 1840, wurde in einer Rezension als „Inhalt eines Spucknapfs“ und als „grobe Beleidigung der Natur“ verurteilt. Turner ließ sich davon nicht beirren, zumal er mit John Ruskin, dem berühmtesten britischen Kunstkritiker des 19. Jahrhunderts, einen glühenden Verehrer und Verteidiger an seiner Seite hatte, der Turner im ersten, 1843 veröffentlichten Band seiner „Modern Painters“ ein Denkmal setzte und ihn als „den größten Künstler aller Zeiten“ bezeichnete.
„Atmosphere is my style“, so sein Motto

Turner war als „der letzte Großmeister der Landschafts- und Panoramamalerei“, so die „Neue Zürcher Zeitung“, seiner Epoche weit voraus – stilistisch mit seinem großflächigen, verwischenden, zuweilen auch auf den Spachtel zurückgreifenden und eruptiven Malduktus, der später ein Kennzeichen der Expressionisten werden sollte. „Seine Zeit war noch nicht reif für die Entgrenzungen seiner Malerei. Das wusste er und nahm es gelassen hin. Viele der anderen Großen, die nach ihm kamen, haben von seiner Kunst gelernt und mit deren Virtuosität gewetteifert. Für jeden, der im 19. Jahrhundert die Malerei ins Zentrum seiner Kunst stellte, musste Turner zum Angelpunkt werden“, schrieb die „Neue Zürcher Zeitung“. Niemand malte damals auch nur annähernd so fortschrittlich-revolutionär, was auch die Impressionisten Claude Monet und Camille Pissarro bei ihrem Londoner Aufenthalt 1870/1871 zur Kenntnis nahmen. Auch wenn Turner im Unterschied zu den Impressionisten fast nie en plein air gemalt hat, sondern im Freien nur seine Skizzenbücher als Vorlage für die späteren Arbeiten im Atelier füllte.

Niemand anderem gelang es wie ihm, „ein Minimum an Gegenständlichem mit einem Maximum an Atmosphärischem zu verbinden“, so die „Zeit“. „Bei keinem sonst ist in Farbräuschen und Lichtexplosionen die Annäherung an das Nichts so weit vorangetrieben worden wie bei diesem Exzentriker“, schrieb die „Welt“. Thematisch fanden in Turners Landschaftsbildern und Marinestücken gelegentlich auch Katastrophen Eingang, beispielsweise bei dem 1835 entstandenen Ölgemälde „The Burning of the Houses of Lords and Commons“. Auch den technischen Fortschritt im Zuge der industriellen Revolution mit den dampfbetriebenen Beförderungsmitteln hielt er unter Beibehaltung seines ewigen Mottos „Atmosphere is my style“ in seinem Werk fest, beispielsweise in „Snow Storm – Steam-Boat off a Harbours Mouth“ (1842) oder im Ölgemälde „Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway“ (1844).
Joseph Mallord William Turner wurde am 23. April 1775 im Londoner Stadtteil Covent Garden als Sohn eines Barbiers und Perückenmachers geboren. Er besaß ein ungewöhnliches zeichnerisches Talent, weshalb der Vater erste Werke des Zwölfjährigen in seinem Laden verkaufen konnte. Schon mit 14 Jahren nahm er eine Ausbildung als Architekturzeichner auf und wurde gleichzeitig für ein Studium an den Royal Academy Schools angenommen, wo er sich vor allem im Kopieren alter Meister üben musste. Landschaftsmalerei, die damals in England weit im Schatten der Historienmalerei stand, wurde an der Akademie nicht unterrichtet. Deshalb vertiefte sich Turner auf frühen Reisen auf den Pfaden seines Vorbildes Claude Lorrain selbst in die Natur und Landschaft und entwickelte dabei neben seiner Beschäftigung mit Grafik und Kupferstich vor allem eine Meisterschaft in der Aquarelltechnik, wobei er transparente Farbschichten auf nasses Papier auftrug.

Letzte Ruhestätte in St. Pauls Cathedral
Turner wurde nach regelmäßigen Ausstellungen in der Akademie schnell als Wunderkind gefeiert und 1802 als jüngster Künstler mit dem Titel eines Royal Academians ausgezeichnet. Sein erstes Ölgemälde „Fishermen at Sea“ stellte er 1796 vor. Bald schon galt der Shootingstar als gefragtester Landschaftsmaler neben seinem Kollegen John Constable. Zwischen 1811 und 1828 lehrte er an der Royal Academy das Fachgebiet Perspektive, wobei er in seinem Atelier selbst keinen einzigen Schüler haben sollte. In seinem Spätwerk, beispielsweise in Bildern wie „The Fighting Temeraire tugged to her last Berth to be broken up“ von 1838 oder „Peace – Burial at Sea“ von 1842, ließ er die akademischen Vorgaben der Landschaftsmalerei und des Seestücks weit hinter sich. Ende 1849 verschlechterte sich Turners Gesundheitszustand zusehends, im Oktober 1851 wurde er bettlägerig. Am Morgen des 19. Dezember 1851 starb er im Alter von 76 Jahren in seinem Haus in Chelsea und wurde in der Krypta der St. Pauls Cathedral beigesetzt.