Paul Gauguin gilt gemeinsam mit Paul Cézanne und Vincent van Gogh als Vaterfigur der modernen Kunst. Im Laufe seiner Suche nach dem Urtümlichen und Primitiven hat er eine Abkehr von der wirklichkeitsgetreuen Malweise eingeleitet. Vor 175 Jahren wurde der Maler geboren.
Was sich am Abend des 23. Dezembers 1888 im „Gelben Haus“ des südfranzösischen Städtchens Arles genau zugetragen hat, ist bis heute Gegenstand zahlreicher Spekulationen. Sicher scheint nur zu sein, dass die beiden Protagonisten, die Maler Vincent van Gogh und Paul Gauguin, die seit neun Wochen gemeinsam in dem als neues Zentrum einer fortschrittlichen Künstlerkolonie angedachten Domizil des Niederländers gewohnt hatten, wieder mal in einen heftigen Streit geraten waren. Worum es dabei gegangen war, ist bis heute unklar. Fakt scheint aber zu sein, dass neben verbalen Attacken auch ein Rasiermesser beteiligt war. Und im Laufe der Nacht soll Vincent van Gogh sein rechtes Ohrläppchen verloren haben.
Lange war man in der Kunstwissenschaft von einer Selbstverstümmelung als Folge seines aufgewühlten Zustandes oder einer plötzlich eingetretenen Depression ausgegangen. Inzwischen wird jedoch nicht mehr gänzlich ausgeschlossen, dass Paul Gauguin womöglich seine Hände mit im Spiel hatte. Das wäre ein ziemlich unschönes Ende der wohl berühmtesten Künstler-WG der Geschichte gewesen, der gleich zwei Vertreter des Triumvirats der Pioniere der modernen Kunst angehörten. Als solche schätzt unter anderem das New Yorker Museum of Modern Art die beiden ein – neben Paul Cézanne als Dritten im Bunde.
Ein Leben wie eine Räuberpistole
Einem Abenteurer wie Paul Gauguin wäre eine solche Schandtat durchaus zuzutrauen gewesen. Sein ganzes Leben glich einer Räuberpistole und hätte auch als perfekte Vorlage für einen Roman oder einen Kinofilm dienen können. Von einem in privilegiertem Luxus aufgewachsenen Kind wurde er zum die Weltmeere befahrenden Seebären, vom erfolgreichen Börsenmakler zu einem oft mittellosen und größtenteils vergeblich um seine Anerkennung in der Kunstwelt ringenden Maler – dessen Vorliebe für minderjährige Mädchen, vor allem während seines Aufenthalts in der Südsee, ihm heute den durchaus berechtigten Vorwurf pädophiler Neigungen eingebracht hat.
Der bürgerliche Teil seiner ungewöhnlichen Biografie reichte bis ins Jahr 1883, als er sich endgültig zum Künstlerdasein berufen fand. Eugène Henri Paul Gauguin wurde am 7. Juni 1848 in Paris geboren, verbrachte aber die Jahre 1849 bis 1855 wohlbehütet in Peru, wohin die Familie nach Niederschlagung der Februar-Revolution 1848 zu gutsituierten Verwandten der Mutter geflohen war. Nach dem Besuch einer Internatsschule in Orléans und einer Marineschule in Paris begann er 1865 zunächst als Schiffsjunge, danach als Offiziersanwärter eine Laufbahn bei der Handelsmarine, um zwischen 1868 und 1870 bei der Kriegsmarine zu dienen. 1871 wurde er Anlagenberater beim Pariser Bankhaus Bertin, wo er sich schnell zu einem erfolgreichen Börsenmakler entwickelte. Das ermöglichte ihm 1873 die Eheschließung mit der gebürtigen Dänin Mette-Sophie Gad, mit der er bis 1883 fünf Kinder zeugte.
Seine aufkeimende Passion für die Kunst dokumentierte sich erstmals 1872 durch seinen Besuch der privaten Pariser Académie Colarossi. In Galerien begann er, Werke aufstrebender Künstler zu erwerben, eröffnete 1876 sein erstes eigenes Atelier am Montparnasse, nahm an Gemeinschaftsausstellungen der Impressionisten teil und suchte Kontakt zu etablierten Malern. Zu seinem bevorzugten Lehrmeister sollte Camille Pissarro werden.
Infolge des Pariser Börsencrashs 1882 verlor Gauguin seinen Job und versuchte sich danach ein Jahr lang als Versicherungsmakler über Wasser zu halten, bevor er sich endgültig der Kunst zuwandte. Da er damals noch keinen eigenen Stil gefunden hatte und seine zu der seinerzeit fortschrittlichsten Kunstrichtung des Impressionismus zählenden Werke mit vielen bekannteren Künstlern konkurrieren mussten, fand er für seine frühen Bilder kaum Interessenten. Aus finanziellen Nöten sah er sich daher Anfang 1884 zum Umzug mit seiner Familie aus Paris nach Rouen veranlasst, um schon wenig später nach Kopenhagen zur Familie seiner Ehefrau weiterzureisen. Doch seine Ehe galt bald als endgültig zerrüttet.
Nach der Rückkehr nach Paris im Jahr 1885 war Gauguin gezwungen, eine Arbeit als Plakatkleber aufzunehmen. Ein Jahr später stand der für ihn künstlerisch entscheidende erste Aufenthalt in der Bretagne an. Im dortigen Kleinstädtchen Pont-Aven hatten sich schon ab 1864 die ersten Künstler niedergelassen, angelockt vom Ruf eines bretonischen Arkadiens, wo die Gemeinschaft noch ländlich geprägt war und der Alltag in gottesfürchtiger Frömmigkeit, vermischt mit Ritualen der keltischen Kultur, abzulaufen pflegte. Genau nach einem solchen Umfeld hatte sich Gauguin gesehnt, um gemeinsam mit Kollegen wie Emile Bernard, Paul Sérusier oder Charles Laval eine neue Kunstrichtung zu entdecken. Diese setzte sowohl einen Kontrapunkt zu den als verstaubt angesehenen klassischen Lehren der Akademien als auch zum Impressionismus in seiner damals dominanten Spielart des Pointillismus à la Georges Seurat.
Traumwelt Tahitis in illustriertem Buch
In der Auseinandersetzung mit dem Urtümlichen der lokalen Volkskunst gelang Gauguin die Entwicklung seines eigenen Stils, der als „Synthetismus“ in die Kunstgeschichte einging. Er stellte dabei durch die Verarbeitung von Inspirationen aus der japanischen Holzschnittkunst und mit als „Primitivismus“ bezeichneten Anleihen aus kulturellen Traditionen vorkolonialer indigener Völker so etwas wie die künstlerische Vermählung des sogenannten Cloisonismus mit dem Symbolismus dar. Allein schon durch den bewussten Verzicht auf jegliche Perspektive, Schattierungen oder fein abgestimmte Farbnuancen wandte sich Gauguin in seinem Synthetismus gänzlich von der akkuraten und detailreichen Darstellung der Wirklichkeit seiner künstlerischen Zeitgenossen ab.
Er wollte das Übersinnliche, Visionäre und Emotionale mit auf die Leinwand bannen, weshalb er seine Motive nicht direkt aus der Natur, sondern aus der eigenen Gedächtnis-Reflexion übernahm. Mit seinen breiten, oft hart kontrastierenden Farbflächen, die ähnlich wie beim Cloisonismus der mittelalterlichen Glasmalereien mit ihren Bleiruten oder auch den Emaille-Arbeiten mit ihren Metallstegen durch dunkle Pinselstriche konturiert wurden, entwickelte Gauguin eine zweidimensionale, von dekorativen Elementen geprägte Formensprache, die als ein Vorläufer der späteren Abstraktion angesehen werden kann. Als Paradebeispiele gelten Gauguins „Vision nach der Predigt“ von 1888 und „Der gelbe Christus“ von 1889, beide in Pont-Aven gemalt, wohin es ihn bis 1894 viermal verschlagen sollte.
Da selbst die Bretagne seinem Traumbild des Urwüchsigen noch nicht komplett entsprach, brach er 1887 auf nach Panama und Martinique, wo er neben Malochen beim Bau des Panamakanals vor allem mit Krankheiten zu kämpfen hatte und deshalb noch im gleichen Jahr wieder nach Frankreich zurückkehrte. Aus Schaden nicht klug geworden, machte sich Gauguin 1891 auf in Richtung Tahiti, wo er in seinen Bildern wie dem Opus „La Orana Maria“ 1891 eine exotische Welt mit lokalen Motiven entwarf, die es in der Realität zu seiner großen Enttäuschung durch den Einfluss der französischen Kolonialherrschaft gar nicht mehr gab (bzw. so wohl auch nwvie gegeben hatte). Seine Erlebnisse und seine persönliche Tahiti-Traumwelt hielt er in einem 1897 unter dem Titel „Noa Noa“ erschienenen, vom ihm selbst illustrierten Buch fest. 1893 ging es per Schiff wieder nach Frankreich, wo ihn eine kleine Erbschaft kurzzeitig finanziell etwas durchatmen ließ. 1895 schiffte er sich wieder gen Tahiti ein und schuf 1897 sein monumentales Hauptwerk mit dem Titel „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?“.
Selbstmordversuch mit Arsen scheiterte
Kurz nach der Fertigstellung unternahm Gauguin einen Suizidversuch mit Arsen. Er kam danach wieder einigermaßen auf die Beine und produzierte eine ganze Serie von farbenfrohen Werken mit lokalen Schönheiten oder mythologischen Motiven aus der polynesischen Kultur. Im Jahr 1900 schloss er einen Vertrag mit dem prominenten Pariser Kunsthändler Ambroise Vollard ab, der ihm für kontinuierliche Bilderlieferungen regelmäßige Zahlungen zukommen ließ. Gauguins letzte Lebensstation wurde dann ab 1891 die Marquesa-Insel Hiva Oa in Französisch-Polynesien, wo er bis zu seinem Tod am 8. Mai 1903 im Alter von 54 Jahren eine Vielzahl bedeutender Südsee-Gemälde schuf.
Erst nach seinem Ableben stieg der Künstler, der sich neben der Malerei auch mit Keramikarbeiten und Holzschnitzerei beschäftigt hatte, dank des von Händlern geschickt aufgebauten „Mythos Gauguin“ zu einem gefeierten Star auf, den Pablo Picasso oder auch die deutschen Expressionisten zu ihrem Vorbild kürten. Gauguins 1892 entstandenes Werk „Nafea faa ipoipo“ mit zwei Frauenfiguren inmitten einer Südseelandschaft wird als das teuerste Bild der Kunstgeschichte gehandelt, weil es 2015 für kolportierte 300 Millionen Dollar seinen Besitzer gewechselt haben soll.