Das ewige Talent Julian Brandt ist beim BVB zum Führungsspieler gereift. Es war die letzte Chance, nicht als Fehleinkauf abgestempelt zu werden – und er hat sie beeindruckend genutzt.
Ging es in den vergangenen Jahren um Julian Brandt im Trikot von Borussia Dortmund, dann hatte das immer den gleichen Tenor: Klasse Fußballer, aber… es war immer so, dass das komplette Potenzial ungenutzt schien. Wer also in den vergangenen Tagen Sebastian Kehl zugehört hat, fragte sich, von welchem Spieler da die Rede war. Doch es ging um den Blondschopf. Brandt habe auch in der Vergangenheit „schon viele gute Spiele gemacht, aber nicht in der Konstanz“, sagte der Sportdirektor von Borussia Dortmund. Der 26 Jahre alte Nationalspieler habe „ein paar Dinge umgestellt“ und „hart an sich gearbeitet“, fuhr Kehl fort, er sei jetzt „viel stabiler, robuster und präsenter“. Exakt diese Worte hätte er auch wählen können, wenn er nach der zuletzt so beeindruckenden Entwicklung des gesamten Teams gefragt worden wäre. Julian Brandt ist demnach so etwas wie der Hauptrepräsentant eines Fortschritts, den der BVB zeigt.
Bislang fehlte die Konstanz
Während die Dortmunder glauben, auf ihrem mühevollen Weg zur Titelreife endlich vorangekommen zu sein, ist Brandt nicht nur ein Typ, der diese Entwicklung entscheidend prägt: An seinem Beispiel lässt sich auch gut zeigen, warum die Mannschaft viele Jahre hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben ist. „Ich hatte viele Trainer, die ich defensiv maximal gebrochen habe“, sagte Brandt neulich in dem Podcast „Kicker meets DAZN“ erstaunlich selbstkritisch. Wobei es nicht nur die Trainer waren, die er in den Wahnsinn trieb, weil er so nachlässig mit seinem Talent umging. Brandt gehörte zu den Ursachen für die Stagnation des schwarz-gelben Projekts. Am vergangenen Wochenende sagte er: „Wir haben eine Euphorie, die langsam entsteht. Alle bringen ihren Teil ein, und das tut dem Kollektiv gut.“ Mit einem Typ wie dem alten Brandt, der seine genialen fußballerischen Aktionen durch Momente der Schläfrigkeit und Schlamperei entwertete, wäre das kaum möglich. Der gebürtige Bremer neigte dazu, in den für ihn weniger interessanten Momenten des Spiels den Fokus zu verlieren, abzuschweifen. Das führte zu seltsamen Fehlpässen und auch dazu, dass in den Videoanalysen manchmal zu sehen war, wie sein zu spätes Umschalten in die Defensive die eigene Abwehr in Schwierigkeiten brachte. Weil Leute wie Raphael Guerreiro, Marco Reus, Emre Can ähnliche Schwächen haben, verloren die Dortmunder entschieden zu viele Spiele, in denen sie eigentlich die bessere Mannschaft hätten sein müssen. Diese Zeit scheint vorbei zu sein, zumindest vorerst. Die Zuversicht ist groß, dass sowohl die Mannschaft als auch Brandt keinen Rückfall erleiden, denn zumindest im Fall des Spielers steckt ein Prozess hinter dem Fortschritt, der schon länger läuft.
Dabei hilft ein Blick in die Vergangenheit. Brandt wechselte im Sommer 2019 nach fünfeinhalb Jahren bei Bayer Leverkusen auf der Suche nach dem nächsten Entwicklungsschritt zu Borussia Dortmund. Diese Zusage sorgte damals für großen Unmut bei den Bayer-Fans. Das lag zum einen daran, dass die Dortmunder von einer Ausstiegsklausel Gebrauch machten und den Blondschopf zum damaligen Schnäppchenpreis von 25 Millionen Euro verpflichteten, zum anderen aber auch an der Wahl des Ziels. Einen Wechsel ins Ausland hätte ihm wohl kaum jemand übel genommen – aber nach just gesicherter Champions League-Qualifikation ein paar Kilometer nördlich zum Ligakonkurrenten ins Ruhrgebiet? Brandt tat sich allerdings schwer in Schwarz-Gelb. Nachhaltig überzeugen konnte er lange nicht. Vor der aktuellen Saison galt er als Flop mit dem Etikett „ewiges Talent“, als Schönwetterfußballer, der defensive Laufwege scheut. Doch inzwischen ist der 26-Jährige zum Leistungsträger avanciert, der nicht nur Edin Terzić begeistert. „Julian macht es herausragend gut, die ganze Saison schon“, sagte der Trainer der Dortmunder unlängst. „Er ist durch seine Torbeteiligungen und seinen großen Einfluss auf das Offensivspiel extrem wichtig für uns. Genauso wichtig ist aber, dass er sich im Bereich Zweikampfführung, Härte und Defensivverhalten deutlich nach vorn entwickelt hat.“ Man könnte auch sagen, dass Brandt in Dortmund – wohl auch durch die schwierigen Phasen und die Arbeit an sich – erwachsen geworden ist. Setzt er seine jüngste Entwicklung fort, ist ihm daher noch einiges beim BVB zuzutrauen. Sein 2024 endender Vertrag beim Vizemeister soll jedenfalls nun doch recht zügig verlängert werden. „Die Entwicklung von Julian sehen wir tagtäglich. Er hat einen Riesenschritt nach vorn gemacht – und darüber freuen wir uns sehr. Die Vertragssituation ist mir natürlich bekannt, und das Thema gehen wir sehr positiv und unaufgeregt an“, sagte Sportdirektor Sebastian Kehl gegenüber „Bild“.
Vertrag soll schnell verlängert werden
Die Verwandlung, die Brandt jüngst an den Tag legte, ist auch äußerlich gut zu erkennen. Brandt hat seine Ernährung umgestellt, er ist jetzt schlanker und drahtiger. „Ich ernähre mich gluten- und histaminfrei. Ich habe dadurch eine bessere Fitness und fühle mich insgesamt einfach besser“, sagte er neulich. Auch seine Hautprobleme plagen ihn jetzt nicht mehr. Vor einem Jahr wurde noch darüber diskutiert, ob es nicht dringend nötig sei, diesen hoch bezahlten Spieler, der sein Potenzial nur sporadisch entfaltete, von der Gehaltsliste zu bekommen. Damals schien es im Zuge der angestrebten Veränderungen sinnvoll, einen stabileren Ersatz für die Offensivreihe zu suchen. Einen anderen Typ, der die jungen Talente stützt, statt ähnlich unreif zu agieren wie ein Teenager. Nun hat sich Brandt selbst zu diesem Spieler entwickelt, und Kehl steht unter dem Druck, den 2024 auslaufenden Vertrag zu verlängern. „Ich bin ein strukturierter Typ“, sagte Brandt jüngst auf die Frage zu seinen Zukunftsplänen. „Ich will so wenig Nebenschauplätze haben wie möglich. Es geht nicht darum, dass ich abwarten will. Ich will es in Ruhe machen.“
Brandt wurde also zum Führungsspieler, den er damals vielleicht selbst an seiner Seite gebraucht hätte. So ist er jetzt schon in der Rolle, mahnende Worte an seine Kollegen zu richten – weil er es sich erlauben kann. „Wir sind momentan vielen Gefahren ausgesetzt: Du hast zum einen dieses ‚Gucken auf andere‘, was ein schwieriges Thema ist“, erklärt Brandt. „Das Zweite ist, dass wir momentan extrem viel Lob bekommen. Das sehe ich auf Dauer als kleine Gefahr, weil es teilweise menschlich ist, sich darauf auszuruhen. Da müssen wir uns extrem von fernhalten.“ Was noch vor Jahreswechsel beinahe undenkbar erschien, ist inzwischen Realität: Plötzlich erhält Borussia Dortmund dank des sportlichen Höhenflugs Lob von allen Seiten. Zwar sei Lob laut Aussage des 26-Jährigen besser als kritisiert zu werden, dennoch müsse man sich intern trotzdem kritisieren – und trotz alledem müsse man genau da weitermachen, wo man aufgehört habe. „Wenn wir jetzt anfangen, egal gegen welchen Tabellenplatz, auch nur einen Meter weniger zu laufen oder einen Pass weniger zu spielen und denken, dass wir die Größten sind, dann geht das ganz schnell nach hinten los. Momentan sehe ich die Gefahr nicht, aber dafür müssen wir hart arbeiten“, stellt Brandt klar. Solche Aussagen wären vor einiger Zeit noch undenkbar gewesen.
„Dürfen keinen Meter weniger laufen“
Die Saison wird wohl nicht mit weiteren 20 Spielen ohne Niederlage zu Ende gehen. Aber in den vergangenen zehn Jahren folgte auf zwei, spätestens drei gute und ergebnisfreundliche Spiele stets die Ernüchterung. Mit neuen Spielern wie Adeyemi, Ryerson oder Schlotterbeck, mit wiedererstarkten Spielern wie Can oder Guerreiro, mit sich Richtung Weltklasse entwickelnden Spielern wie Bellingham und Kobel und mit Top-Talenten wie Reyna, Moukoko oder Bynoe-Gittens scheint eine Mischung gefunden und die Mannschaft mit einem Trainer ausgestattet zu sein, die gemeinsam Großes bewirken können. Denn auch ein Julian Brandt entfaltet endlich sein Potenzial und stößt in die Weltklasse vor.