Walter Hülsen war ein Nichts im Berliner Kulturbetrieb der 30er-, 40er- und 50er-Jahre. Dem pensionierten Pädagogen Manfred Hahn war es gerade deshalb wichtig herauszufinden, wer er war.

Eigentlich war Manfred Hahn einem Möbelstück auf der Spur – gefunden hat er einen Menschen. Manfred Hahn ist Pädagoge, einer mit Doktor-Titel. Er hat an der Universität Hannover im Fachbereich Pädagogik mit einem filmwissenschaftlichen Thema promoviert – über „Horrorfilm und Jugendschutz“. „Ich habe darin die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des modernen Horrorfilms mit den klassisch-gotischen Vorgängern untersucht und Jugendmedienfachleute zur damaligen Gewalt- und Horrorfilmdiskussion befragt“, erklärt er.
Das ist lange her. Manfred Hahn ist 73 Jahre alt und längst in Rente. Es gibt aber Dinge, die ihn auch im Ruhestand nicht zur Ruhe kommen lassen. Zum Beispiel die Geschichte mit dem Sofa, das in den Räumen der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) in Wiesbaden steht.
Das Sofa aus der Reichsfilmkammer
Manfred Hahn hat dort einmal gearbeitet. Und jemand hat ihm erzählt, dass das Sofa früher in der Berliner Reichsfilmkammer gestanden habe. Es ging auch das Gerücht um, dass Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels auf dem Sofa gesessen habe, wenn er sich Filme ansah, um zu entscheiden, ob sie gezeigt werden dürfen oder nicht. Diese Geschichte sei aber nicht belegt, sagt Manfred Hahn. Was man ihm erzählt hat: Das Sofa sei nach dem Krieg von einem ehemaligen Mitarbeiter der Reichsfilmkammer zur FSK nach Wiesbaden mitgebracht worden.
Manfred Hahn mag solche Geschichten – und wenn es Ungereimtheiten oder Lücken in diesen Geschichten gibt, geht er ihnen gerne auf den Grund. So ist er also seit einigen Jahren auf der Suche nach Beweisen für diese Sofa-Geschichte. Bisher ohne Erfolg. Es gebe leider wenig Fotos aus dem Inneren der Reichsfilmkammer. Jedenfalls hat er bisher noch keins gefunden, auf dem das Wiesbadener Sofa zu sehen ist.
Weil er in den Archiven nicht weitergekommen ist, hat sich Manfred Hahn auch auf Flohmärkten umgesehen und Händler gezielt auf Material aus der Reichsfilmkammer angesprochen. Im August 2022 hat er auf dem Flohmarkt am Fehrbelliner Platz einen Schuhkarton entdeckt. In dem Karton waren Fotos und ein Ausweis der Fachschaft Film der Reichsfilmkammer. Die Fotos zeigten nicht das Sofa, sondern den Mann, auf den auch der Mitgliedsausweis ausgestellt war: Walter Hülsen.
Der junge Mann, den die Fotos zeigen, war Film-Tänzer. So steht es im am 26. Januar 1939 ausgestellten Mitglieds-ausweis. In Sachen Sofa war Manfred Hahn im August 2022 zwar nicht weitergekommen, aber da war plötzlich eine neue Geschichte, die ihn interessierte – und eine Frage, die ihn beschäftigte: Wer war dieser Walter Hülsen?

Auf einem der Fotos ist ein Stempel eines Fotografen. Der Mann, der das Bild gemacht hat, arbeitete für den Friedrichstadtpalast. Dort hat Manfred Hahn jemanden ausfindig gemacht, der ihm Programmhefte aus den 40er- und 50er-Jahren – inzwischen digital abgespeichert – zukommen ließ. „Da tauchte im Kleingedruckten immer wieder auch der Name Walter Hülsen auf. Er hat dort in 20, vielleicht auch 25 Programmen getanzt“, erzählt Manfred Hahn.
„Das war ein Einstieg“, sagt er. Aber das wars dann auch erst mal. Eine Anfrage beim deutschen Tanzarchiv in Köln ergab keinen Treffer. Auch andere Archive hatten nichts zu Walter Hülsen. „Der Mann existierte nicht. Aber da stand doch Film-Tänzer!“, wunderte sich Hahn. Film war doch zu dieser Zeit etwas ganz Besonderes, ein junges Medium, dem viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Da musste es doch Aufzeichnungen geben.
„Ein ganz armes Schwein“
Manfred Hahn suchte weiter. Fragte bei anderen Berliner Theatern nach, in der Kinemathek, bei der Akademie der Künste und einigen anderen Institutionen. Ohne Erfolg. Walter Hülsen blieb ein Phantom. Bis ihm jemand den Tipp gab, im Bundesarchiv vorstellig zu werden. Dorthin seien irgendwann mal Akten aus der Filmwirtschaft übergeben worden. Und wirklich: 55 Aktenblätter waren dort unter dem Namen Walter Hülsen abgelegt.
Aus dem Phantom wurde für Manfred Hahn „ein ganz armes Schwein“. Zu diesem Schluss kam der pensionierte Pädagoge jedenfalls, nachdem er die Akte Hülsen gelesen hatte. Walter Hülsen wurde am 13. Juni 1913 in Hegelingen im Kreis Goldap in Ostpreußen geboren. Seine drei älteren Brüder sind in Stalingrad gestorben. Walter Hülsen machte die Mittlere Reife in Königsberg, dann eine Lehre als Versicherungskaufmann. Parallel beginnt er eine Ausbildung zum Tänzer am Königsberger Opernhaus.
In Königsberg tanzt er auch zwischen Oktober 1933 und April 1934. Dann zieht er nach Berlin. Vielleicht, weil es ihm in Ostpreußen zu eng wurde. Vielleicht, weil dort seine Homo-sexualität zum Problem wurde und sich der junge Mann in der Großstadt mehr Toleranz erwartete? Das bleibt Spekulation. Aus den Akten geht nur hervor, dass er ab dem 20. September 1934 in der Argentinischen Allee in Zehlendorf gemeldet und „Ersatztänzer“ im Theater des Volkes war.

Offenbar wollte Walter Hülsen zum Film. Im November 1934 lehnte die Reichsfachschaft Film seine Aufnahme aber ab, weil sie der Meinung war, dass er „seine Eignung als Tänzer nicht erweisen konnte“. Also weiter kleine Auftritte im Theater – als „Hirt“ in den „Heiteren Tänzen“ in der Volksoper zum Beispiel. Zwischen Februar 1936 und Mai 1937 tanzte Walter Hülsen in der Deutschlandhalle, im Rose-Theater, im Scala-Varieté und im Zirkus.
Ab Juni 1937 bekommt Hülsen dann zwar immer wieder Auftritte in UFA-Filmen, in Abspännen taucht sein Name allerdings nie auf. Er ist kein Solotänzer, nur anonymer Teil einer Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern, erklärt Manfred Hahn diese Namenlosigkeit. Immerhin: Im Juni 1937 stellt Walter Hülsen einen Mitgliedsantrag bei der Reichsfilmkammer. Er ist jetzt eine Nummer: 8696.
Der später ausgestellte Mitgliedsausweis bringt ihm aber keine guten Anstellungen und kein Geld. Er schreibt an die Hilfsorganisation „Künstlerdank“ mit der Bitte um finanzielle Unterstützung. Er braucht dringend einen Wintermantel, da er sich bei einem Engagement in der Deutschlandhalle eine Nierenentzündung zugezogen hat. „Es ist interessant, wie er von der Goebbels-Künstler-Wohlfahrtsorganisation bei der Bitte um eine kleine finanzielle Unterstützung abgekanzelt wurde“, sagt Manfred Hahn und bezieht sich auf einen Vermerk, vorgenommen vom Reichspropagandaamt. „Die tänzerische Tätigkeit, die sich durchweg in einem kleinen Rahmen bewegt, läßt wenig auf künstlerische Leistungen schließen und ist auch das jugendliche Alter nicht dazu angetan, die Bewilligung einer Spende zu verantworten“, heißt es dort. Hülsen wird daraufhin von der Hilfsorganisation „Künstlerdank“ mitgeteilt, dass er kein Geld bekommt, „da nach den Richtlinien der Spende von uns in erster Linie alte und verdiente Kollegen berücksichtigt werden“.
Anfang 1939 absolviert Walter Hülsen zwar eine militärische Ausbildung in einem Reserve-Infanterie-Regiment in Frankfurt/Oder, kommt aber bald nach Berlin zurück, weil er wegen eines Herzleidens für „nicht wehrfähig“ erklärt wird. In Berlin, hat Manfred Hahn recherchiert, hatte der junge Mann nie eine eigene Wohnung. Er wohnte immer zur Untermiete. Es waren wohl auch wohlhabendere Frauen, die dem jungen, mittellosen Tänzer ein Dach über dem Kopf anboten. Walter Hülsen war allerdings homosexuell. Das war im Berlin der 1930er- und 40er-Jahre ein Problem. Er verlor deswegen nicht nur eine kleine Stelle an der deutschen Oper, sondern war auch drei Monate in Haft.
Dass der Tänzer in Filmen wie „Jud Süss“, „Rothschilds“, „Friedrich Schiller“, „Nacht in Venedig“, „Leichte Muse“, „Große Liebe“, „Karneval in Rom“ und einigen weiteren Produktionen mitspielte, weiß Manfred Hahn nicht aus den Abspännen dieser Filme. Auch dort taucht Walter Hülsen nicht auf. In der Akte des Bundesarchivs gibt es aber eine „Beschäftigungsliste“, in der die sehr bescheidenen Gagen von Walter Hülsen aufgelistet sind.
„Wegen der sexuellen Orientierung gemobbt“

Auch an den Theatern verdiente er nicht viel. Und manchmal wurde er um seinen Lohn betrogen. Kollegen haben dazu offenbar ihren Beitrag geleistet. So heißt es zum Beispiel in einer „Meldung“ zur „Maskenball“-Vorstellung am 1. November 1942: „Herr Hülsen (Ballett) tanzte im letzten Bild als einziger wenig geschminkt und ohne Perücke.“ Außerdem habe er es gewagt, „auch noch mit dem 1. Paar zu tanzen“. „Er wurde manchmal einfach entlassen, bekam kein Geld und bettelte um seine Bezahlung. Er war überhaupt schlecht bezahlt und wurde von Kollegen wegen seiner sexuellen Orientierung gemobbt“, fasst Manfred Hahn das, was er in den Akten gelesen hat, zusammen.
Nach dem Krieg tanzt Walter Hülsen als Gruppentänzer im Friedrichstadtpalast. Er versucht sich auch als Choreograf, macht sich aber auch da keinen Namen. Ende 1963 verliert sich seine Spur. „Er ist wohl aus Berlin weggezogen“, sagt Manfred Hahn. Es sei unmöglich herauszufinden, wohin der Mann gegangen ist. Am Anfang, erinnert er sich, sei dieser Tänzer „wie ein Skelett gewesen“. Durch seine Recherchen habe er versucht, wieder einen vollständigen Menschen aus ihm zu machen. „Ich weiß nicht, wann Walter Hülsen gestorben ist“, sagt Manfred Hahn. Aber es sei ihm wichtig zu erzählen, dass er gelebt hat, dieser eine von den vielen namenlosen und gestrandeten Künstlern in Berlin. Manfred Hahn hat Walter Hülsen gefunden. Die Suche nach der Geschichte des Sofas hat er deswegen aber nicht aufgegeben.