Über ein halbes Jahrhundert lang war der Blauflossen-Thunfisch vor Dänemark verschwunden. Jetzt sind die außergewöhnlichen Fische wieder zurück im Öresund. Die Muskelprotze zeigen gewaltige Sprünge. Meeresbiologe Jens Peder Jeppesen nimmt seine Gäste mit auf Thun-Safari.
Katrine Larsen manövriert das Schlauchboot zwischen den Freizeitjachten hindurch, hinaus aus dem Hafen von Helsingör am Öresund, dabei brummeln die Außenbordmotoren sanft. Rechts im Dunst thront Kronborg, das Schloss, auf dem Shakespeare seinen Hamlet spielen ließ. Achtern hält Jens Peder Jeppesen einen Vortrag für die zwölf Gäste an Bord.
„Sicher wart ihr alle schon auf Safari in der afrikanischen Savanne“, sagt er. „Dann wisst ihr: Die Löwen sind da. Aber manchmal zeigen sie sich nicht.“ So sei das auch bei der Thun-Safari im Öresund. „Zwar sind die Bedingungen heute ideal“ – kein Wind, die See glatt, die Strömung an der Oberfläche führt nordwärts ins Kattegat. „Trotzdem haben wir keine Garantie, den Thun zu sehen.“ Aber wer auf Safari geht, will Nervenkitzel. Ein guter Guide weiß das. „Die Blauflossen-Thunfische gehören zu den schnellsten Fischen der Welt“, fährt Jeppesen fort. „Und sie sind schwer. Wenn einer aus Versehen ins Boot springt, kann er euch töten. Wenn das passiert, springt ins Wasser, um euch zu retten!“^
Der größte wog 725 Kilogramm
Die Fische haben einen Umfang wie ein alter Baum: Zwei Meter sind nicht ungewöhnlich. Bis zu 4,5 Meter lang können sie werden. Die Exemplare im Öresund sind wohl mindestens 18 bis 25 Jahre alt und damit zwischen 200 und 500 Kilogramm schwer. Der größte Thun, der je gefangen wurde, wog 725 Kilogramm – fast so viel wie ein VW-Käfer. Auch die Geschwindigkeit ist vergleichbar: Der Thunfisch kann seinen stromlinienförmigen Körper auf 80 Kilometer pro Stunde beschleunigen. Er schwimmt und schwimmt, unablässig, Tag und Nacht, jahrein, jahraus. Gewöhnlich nehmen Fische den Sauerstoff im Wasser durch muskuläre Atembewegungen auf. Dem Thunfisch fehlt dieser Pumpmechanismus. Er muss immer in Bewegung bleiben, damit ein Wasserstrom durch seine Kiemen fließt.
Jens Peder Jeppesen, 56, ist Meeresbiologe und Chef des Öresund-Aquariums, einer Einrichtung der Kopenhagener Universität. Seine Augen schützt er mit einer Plexiglasbrille: Der Fahrtwind auf dem Boot lässt die Augen tränen, nichts soll seinen Blick trüben. Katrine Larsen, 25, ist Jeppesens Kollegin. In den Ohrläppchen trägt die Meeresbiologie-Studentin silberne Muscheln als Stecker, in ihrer Freizeit taucht sie und pflanzt mit Freunden Seegras. „Let’s get lost!“ Diesen Satz hat sie sich auf den Arm tätowieren lassen: „Verlieren wir uns!“ – im Moment, im Leben.
„Überall auf der Welt habe ich Wale beobachtet“, sagt Jeppesen. Aber nichts sei für ihn so großartig, wie die Thunfische in der Meerenge zwischen dem dänischen Seeland und dem schwedischen Schonen zu erleben. „Weil es direkt vor unserer Haustür passiert“, sagt er. „Weil sie weg waren – und zurückgekommen sind.“ Auf alten Schwarz-Weiß-Fotos sieht man sie bei Fischauktionen in Reih und Glied zu Dutzenden. „In den 1950er- und 1960er-Jahren wurden sie massiv überfischt, gerade die größten Exemplare wurden gefangen – und teils als Hundefutter verkauft.“
Ab 1964 war der Thunnus thynnus für ein halbes Jahrhundert verschwunden. „Aber seit fünf, sechs Jahren sind die Fische zurück, es werden immer mehr.“ Zwischen 5.000 und 10.000 Exemplare, schätzt Jeppesen, jagen ab August in der Meerenge. Andere Wissenschaftler gehen von mehreren Zehntausend aus.
„Wo es schäumt, müssen wir hin“
Der Öresund ist eine Art Trichter, der vom Kattegat in die Ostsee führt. An seiner engsten Stelle zwischen dem schwedischen Helsingborg und dem dänischen Helsingör ist er vier Kilometer schmal. Hier müssen alle durchkommen, auch für die Schwärme mit den Millionen Beutefischen der Thunfische ist es der kürzeste Weg zwischen Ost- und Nordsee.
„Die Thunfische tun sich zunächst an den Makrelen und Heringen gütlich, die nach Süden ziehen, aber dann entdecken sie Beute, die den entgegengesetzten Weg nehmen will“, sagt Jeppesen: „Hornhechte!“ Lang gezogene Räuber mit einem schnabelähnlichen Maul. Sie werden auch Maifische genannt, weil sie ab diesem Monat in der Ostsee sind, um zu laichen. Angler fangen sie mit Wollfäden statt einem Haken an der Schnur, ihre feinen Zähnchen verfangen sich darin.
Im September sind die Hornhechte auf ihrer Wanderung zurück ins Winterquartier südlich der Britischen Inseln. „Eine leckere Mahlzeit, die auch noch leicht zu fangen ist“, erklärt Jeppesen. Hornhechte schwimmen in großen Schwärmen nahe an der Oberfläche: „Sie sind der Grund, warum der Thunfisch hier so häufig springt wie nirgendwo sonst.“
Jeppesen fordert seine Gäste auf, den Horizont genau zu beobachten. „Wo es spritzt und schäumt, müssen wir hin!“ Dort, wo die Schwergewichte ihre Bauchklatscher machen. Alle schauen angestrengt. Zehn Minuten. Kein Wasserspritzer weit und breit. Zwanzig Minuten. Immer noch nichts. Die Stimmung ist angespannt. Eine Safari ohne Tiersichtung ist enttäuschend. Dann, plötzlich, Jeppesens Stimme überschlägt sich: „Da springen sie!“ Er gibt Vollgas. Die Motoren heulen, die Gäste klammern sich an die Seile auf dem Rumpf, das Boot rast Richtung schwedische Küste. „Seht ihr sie?“, schreit Jeppesen. Alle recken die Hälse. Himmel und Meer verschmelzen im Dunst.
Dann erreichen wir das Gebiet, in dem Jeppesen die Sprünge gesehen haben will. „Wir waren eineinhalb Kilometer entfernt, es braucht Erfahrung, sie zu erkennen.“ Er deutet auf einige Stellen auf dem Wasser, wo es weniger Wellenstruktur gibt. „Die Thunfische haben so viel Kraft! Sie produzieren mit der Schwanzflosse einen Wirbel, der die Oberfläche glatter macht.“
Schutzmaßnahmen wurden eingeführt
Wieder starren wir aufs Wasser. Und dann passiert es tatsächlich: 100 Meter entfernt. Ein grauer Torpedo katapultiert sich aus dem Wasser, der Halbkreis seiner Flugbahn von einem dichten Schleier aus Gischt umflort. Trotzdem erahnt man die dreieckigen gelben Zacken auf dem Schwanz. Das Maul hat einen leichten Vorbiss, der Fisch sieht sauertöpfisch aus damit. Das Aufplatschen des Schwergewichts ist nicht zu hören – es geht im allgemeinen Jubel unter.
Das Echolot zeigt eine Wassertiefe von 13 Metern an. „Das kann nicht sein“, sagt Jeppesen. „Hier ist es doch um die 30 Meter tief.“ Dann begreift er. „Das habe ich noch nie erlebt! Die Thunfische schwimmen direkt unter unserem Boot. Zwanzig dreißig Stück. So dicht, dass das Echolot sie mit dem Meeresgrund verwechselt!“
Dann wieder ein Schrei aus vielen Kehlen: In 150 Metern Entfernung eine Szene wie in einem surrealen Gemälde. In der Luft schwirren Hunderte Fische. Hornhechte, auch sie springen jetzt! Es ist ein silbernes Flirren, fünfzig, hundert Zentimeter über dem Wasser. Einen Wimpernschlag später erfahren wir den Grund für den Flug der schlanken Silberleiber: Ein Thun springt. Lotrecht.
„Ich schätze, jeder zweite Thun, der ins Wasser zurückfällt, hat einen Hornhecht im Mund“, sagt Jeppesen. Offenbar jagen sie gemeinsam: „Wahrscheinlich springen nur einige Thunfische. Vorstellbar ist, dass sie um einen Schwarm Hornhechte herumschwimmen. Und sie plötzlich angreifen.“ Mit den Sprüngen gehe es ihnen darum, den Schwarm auseinanderzutreiben. So könne die Blauflossen-Bande die Beute besser schnappen, vermutet Jeppesen.
Sicher ist, dass die gut zwei Meter hohen Sprünge des Thuns ein Symbol für seine erstaunliche Rettung sind, und dafür, dass Arten erhalten werden können, wenn der Druck der Öffentlichkeit nur groß genug ist. Bereits in den 1970er-Jahren warnten Wissenschaftler, dass die Nachkommenschaft des Blauflossen-Thunfischs jährlich abnehme. Aber erst zur Jahrtausendwende wurden Schutzmaßnahmen eingeführt: Jährlich sollten nur noch 30.000 Tonnen gefischt werden dürfen. Doch das half wenig.
Weiterhin wurden pro Jahr 50.000 Tonnen und mehr aus dem Meer geholt: Die Kontrollen waren nicht konsequent genug. Die Fische gingen vor allem nach Fernost, wo Händler hohe Preise dafür bezahlen. Bei der Neujahrsauktion 2023 auf dem Tokioter Fischmarkt erlöste ein einzelner, vor der japanischen Küste gefangener Blauflosser 259.000 Euro – oder 1.220 Euro pro Kilogramm.
Erst als der Bestand zu kollabieren drohte, setzte die „International Commission for the Conservation of Atlantic Tuna“ (ICCAT) auf Druck von NGOs, Medien und Politik ab 2007 ernsthafte Beschränkungen durch. Die Quoten wurden auf knapp über 10.000 Tonnen gesetzt, der Fang räumlich und zeitlich beschränkt. Auf den Trawlern fuhren offizielle Beobachter mit. Der Fang von Thun unterhalb des Laichalters wurde verboten. Künftig durften nur noch Exemplare mit mehr als 30 Kilogramm gefischt werden. Dadurch haben mehr Exemplare die Chance, geschlechtsreif zu werden und sich fortzupflanzen.
Der Erfolg ist beeindruckend. 2008 gab es laut Schätzung der Wissenschaftler weniger als 300.000 fortpflanzungsfähige Blauflossen-Thunfische im Atlantik. Zehn Jahre später waren es wieder fast dreimal so viele, nämlich 873.000 Exemplare. Deshalb konnten die Quoten wieder angehoben werden, auf rund 40.000 Tonnen im Jahr 2023.
Die Entwicklung stimmt euphorisch. Doch unweit der springenden Thunfische nimmt eine ökologische Katastrophe ihren Lauf. „Es ist etwas faul im Staate Dänemark“, sagt Shakespeares Held auf dem Schloss von Helsingör. Heute passt der Satz auf die Landwirtschaft. Die Ställe sind groß wie Bierzelte. Hinzu kommen 1,5 Millionen Rinder. Die Gülle muss irgendwohin, also raus auf die Wiesen. Auf den Äckern sorgt zudem Kunstdünger für bessere Erträge. Doch Dänemark hat 7.300 Kilometer Küstenlinie, an der das Agrarland bis zum Wasser reicht. Regen schwemmt Stickstoff aus Kunstdünger und Viehfäkalien hinein. Das treibt vielerorts das Wachstum von Algen an. Wenn sie absterben, sinken sie und bilden Schichten grüner Leichentücher am Meeresgrund: Ihre Zersetzung entzieht dem Wasser Sauerstoff. Die Fische schnappen vergeblich danach und der bodennah lebende Nachwuchs verendet zuerst. So erstickt die industrielle Landwirtschaft die heimische Fauna in den Küstengewässern.
Der Thunfisch selbst ist im skandinavischen Sommer und Herbst nur Gast, so wie seine Beuteschwärme, er kann die algenverseuchten Gebiete meiden und macht sich ab Oktober sowieso wieder auf in seine weiten Jagdgründe im Atlantik. DTU Aqua, das Meeresinstitut der Dänischen Technischen Universität, führt seit der Rückkehr des Thuns jährlich aufwendige Markierungsaktionen mit Dutzenden freiwilligen Helfern durch: Erfahrene Sportfischer fangen die Riesen mit Makrelenködern. Wissenschaftler applizieren anschließend Sender auf dem Thunfischrücken, bevor sie wieder freigelassen werden. Die lichtempfindliche Elektronik misst nicht nur, in welcher Tiefe die Fische tauchen, sondern kann auch die Wanderrouten dokumentieren. Nach einem Jahr löst sich der Sender vom Thunfischrücken, ploppt an die Wasseroberfläche und sendet seinen Datenschatz an einen Satelliten.
„Wir zählten 300 Beobachtungen“
Bei der ersten Aktion vor sieben Jahren zeigte sich, dass die markierten Thunfische recht eigenwillig sind. Einer überquerte zum Beispiel den Atlantik und jagte südlich von Neufundland. Eine anderer stromerte durch die Gewässer westlich der Iberischen Halbinsel, bevor es ihn in die Gegend zwischen den Azoren und Madeira zog. Ein dritter tat das, was die Wissenschaftler von ihm erwarteten: Er zog an Gibraltar vorbei ins Mittelmeer und blieb westlich von Korsika und Sardinien – ein traditionelles Laichgebiet. Bei einer Wassertemperatur von über 20 Grad Celsius geben die Thunfische Millionen von Eiern und Wolken von Spermien ins Wasser ab. Die allermeisten Larven fallen auch Fressfeinden zum Opfer, zum Teil frisst sich die Brut auch gegenseitig auf. Die Chance für einen Thunfisch, erwachsen zu werden, ist geringer als ein Sechser im Lotto: Nur einer von 30 Millionen Jungfischen erreicht die Geschlechtsreife und kann selbst zur Arterhaltung beitragen. Vier bis fünf Jahre dauert diese Entwicklung – was auch zeigt, wie wichtig der Schutz der geschlechtsreifen Tiere ist.
„Das Laichen ist eine anstrengende Sache, die großen Thunfische verlieren dabei 20 bis 40 Kilogramm an Gewicht“, sagt Jeppesen. „Also brauchen sie danach fette Beute.“ Ende Juli machte sich der im Vorjahr markierte Thunfisch aus dem Mittelmeer wieder auf in Richtung Norden, um beim Festbankett im Öresund wieder dabei zu sein.
„Kürzlich hatten wir einen besonders magischen Abend“, erzählt Studentin Katrine Larsen auf dem Thun-Safari-Boot: „Wir zählten 300 Beobachtungen, das Meer schien vor lauter Thunfischen zu kochen.“ Jede Sichtung notieren Jeppesen und Larsen mit Zeitpunkt und Koordinaten per Sprachnachricht in ihren Handys. „Darüber werde ich eine Studienarbeit machen“, sagt Katrine Larsen. „In der Meeresbiologie geht es ja viel um biogeografische Muster. Sehen wir sie bei einem bestimmten Wetter und bestimmten Strömungsverhältnissen an bestimmten Stellen? Noch habe ich keine Hypothese dazu.“
Offenbar, wahrscheinlich, vielleicht: Diese Worte benutzen die Meeresbiologen oft, wenn sie über den Thunnus thynnus berichten. „Im Grund wissen wir nur sehr wenig über ihn“, sagt Jeppesen und lächelt. „Das macht ihn umso spannender.“