Im Wald ist alles genau geregelt: Wem welche Fläche gehört und wer wo jagen darf. Trotzdem wächst dem Gehölz die Wildpopulation über den Kopf. Waldbäuerinnen und Jagdpächter zeigen mit den Fingern aufeinander – schuld sein will keiner.
Hopp Hopp“ schallt es durch den Wald, die Glöckchen an den Halsbändern der Hunde klingeln, während sie durch den Wald flitzen. Es ist ein nasser Novembertag, alle fünf Meter hört man Stiefel durch das Laub rascheln. Plötzlich bellen die Hunde. Ein junges Reh springt über den Waldweg, mit einem Satz verschwindet es zwischen den kahlen Bäumen. Fünf Hunde hetzen hinterher. Heute wird gejagt.
Seit einigen Jahren steigt die Wildpopulation in Deutschland drastisch an. Während das Wildbretaufkommen laut Deutschem Jagdverband 2019/20 noch 46.381 Tonnen betrug, lag es 2020/21 bei 48.684 Tonnen. Im Saarland wurden 1979 etwa 4.000 Rehe erlegt. Heute sind es pro Jahr circa 12.000. Waldbauern und -bäuerinnen verzweifeln. Nicht, weil sie die Tiere hassen. Sondern weil das Rehwild die jungen Bäume anknabbert und damit die natürliche Verjüngung von Fichten- und Kiefernmonokulturen hin zu klimare-silienten Mischwäldern aufhält.
Für Försterinnen, Waldbauern und Forstwissenschaftler ist der Fall klar: Es wird zu wenig geschossen. Jägerinnen und Jäger weisen jegliche Schuld von sich. Die Fronten sind verhärtet, die Debatten hitzig. Wo liegt der Fehler?
Bei der Drückjagd im November geht es weniger hitzig zu. Der Ablauf ist klar geregelt. Um 9 Uhr in der Früh werden alle Anwesenden eingewiesen. Jeder und jede ist für einen abgegebenen Schuss selbst verantwortlich. Schießen darf nur, wer sich zuvor einer jährlichen Schießprüfung unterzogen hat. Sebastian Erfurt, Leiter des Fachbereichs Jagd und Fischerei beim Saarforst Landesbetrieb, legt großen Wert darauf, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Da auch Gastjagende von außerhalb teilnehmen, wird noch einmal im Detail erklärt: Nur, wenn alle vier Läufe auf dem Boden sind und das „Stück“ steht, es also korrekt „angesprochen“ werden kann, darf geschossen werden. Kontrolle und Nachsuche müssen sorgfältig dokumentiert werden. Das heißt, kein getroffenes oder gestreiftes Tier darf zurückbleiben oder qualvoll verenden. Das verlangt der Tierschutz.
„Die Trophäenjagd ist das größte Problem“
Die Drückjagd ergänzt die Ansitz- und die Pirschjagd, die im Saarforst-Revier örtlich und zeitlich variieren. Im Winterhalbjahr, wenn das Laub auf dem Boden liegt und die Sicht besser ist, gehen Gruppen von Jagenden in den Wald und scheuchen das Wild mit ihren Jagdhunden auf. Weil diese Art der Jagd größeren Stress für die Tiere bedeutet, folgen darauf meist längere Ruhephasen. Durch die Drückjagd ist es möglich, eine „größere Strecke“ zu machen, also mehr Wild auf einmal zu erlegen. Doch einigen ist das noch immer nicht genug.
Dieter Bonaventura und Udo Lenz sind Vorsitzender und stellvertretender Vorsitzender des Vereins Ökologisch Jagen im Saarland (ÖJiS). In der Theorie stimmt der Verein mit der Jagdmentalität des Saarforsts überein – doch nicht in der Praxis. Manche Jägerinnen und Jäger, die beim Landesbetrieb die Jagd ausübten, jagten schlichtweg nicht so, wie es im Sinne der Naturverjüngung notwendig wäre. „Da sehe ich Saarforst in der Pflicht, eine größere Selektion zu betreiben und mehr Jäger zu bekommen, die das Rehwild intensiver bejagen“, sagt Udo Lenz.
In Deutschland gilt das Revierjagdsystem, wonach das Recht zu jagen an das Grundeigentum gekoppelt ist. Wer eine Fläche sein Eigentum nennt, ist Jagdgenosse. Jagdgenossen mit kleinen Flächen schließen sich zu einer Jagdgenossenschaft mit einer Größe von mindestens 150 Hektar zusammen. Und die verpachtet die Fläche zur Bejagung an einen oder mehrere Jagdpächter oder -pächterinnen. Das wird festgehalten in einem Pachtvertrag. „Sobald die Jagdgenossenschaft den Pachtvertrag unterschrieben hat, gibt sie das Jagdausübungsrecht für eine Zeit x aus der Hand“, erklärt der ÖJiS-Vorsitzende.
Dieter Bonaventura und Udo Lenz sind der Meinung, dass viele Jagende das saarländische Jagdrecht, „den Wildbestand so zu regulieren, dass eine Beeinträchtigung der natürlichen Vielfalt von Flora und Fauna möglichst vermieden wird“, nicht ernst nähmen. „Solange trophäenorientiert gejagt wird, hat der Waldbau keine Chance. Die Trophäenjagd ist das größte Problem“, kritisiert Bonaventura. Auch Lenz ist der Meinung: „Wenn ein Jäger mehr Geld damit verdient, seine Tiere für einen zahlenden Trophäenjäger zu hegen, als wenn er es als Wildbret verkauft, ist das ein Problem.“ Zudem sei die Jagd für viele nur ein Hobby, ein Freizeitvergnügen.
„Die jungen Jägerinnen und Jäger werden sehr stark an die Hand genommen. Dass man da querschießt und nur seine eigenen Ideen verwirklicht, ist in der Praxis eigentlich gar nicht möglich“, meint dagegen Josef Schneider. Er ist Vorsitzender der Vereinigung der Jäger des Saarlandes (VJS). Sie ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und die saarländische Prüfungsbehörde. Die VJS hat im Saarland vier private Jagdschulen, wo jährlich rund 1.000 Jägerinnen und Jäger geprüft werden. Im Saarland gibt es laut Schneider mittlerweile rund 50 Prozent mehr Jagende. Deutschlandweit sei die Anzahl in den vergangenen 30 Jahren um 36 Prozent gestiegen. An Personal mangelt es also nicht. Weshalb steigt die Wildpopulation dann immer weiter an?
Kalte Winter regeln normalerweise die Bestände auf natürliche Weise. Durch die globale Erwärmung bleiben die allerdings zunehmend aus. Auf Kahlflächen setzt die natürliche Sukzession ein: Es gedeiht energiereiche Pflanzenmasse, die für das Rehwild eine Delikatesse ist. Wenn Stauden und Sträucher im Sommer hochwachsen, liegen die Rehe dazwischen und sind kaum zu sehen. „Das heißt, die Population wird sich in den nächsten Jahren noch erhöhen, ohne dass wir überhaupt in der Lage sind, sie zu reduzieren“, sagt Dieter Bonaventura und fährt fort: „Die Jagdgenossenschaften haben in vielen Fällen noch nicht begriffen, was draußen auf der Fläche abgeht.“ Und genau da müsse man ansetzen.
Jagdrecht ist ein Recht, aber keine Pflicht
In einem Pachtvertrag ist schriftlich festgehalten, was und vor allem wie gejagt werden muss, bestätigt Josef Schneider vom VJS. Darüber entscheidet der, dem die Fläche gehört, oder im Falle eines Zusammenschlusses der Jagdvorstand einer Jagdgenossenschaft. Die kann, nachdem eine Pacht abgelaufen ist, einen neuen Vertrag aufsetzen. Aber in den meisten Fällen wird das schlichtweg verschlafen. „Wenn die Jagdgenossen ihre Rechte als Eigentümer einer Fläche nicht wahrnehmen, dann macht die Jagdgenossenschaft in alter Manier weiter, wie es schon seit 100 Jahren läuft“, kritisiert der Vorsitzende des ÖJiS.
„Auf dem Ackerland sind die Schäden durch Wildschweine allgemein anerkannt. Im Wald fehlt bei einem großen Teil der Jägerschaft das Bewusstsein dafür, was ein Schaden ist und was nicht“, erklärt er. Er fordert deshalb, dass verpflichtende Verbissgutachten in einen Pachtvertrag mit aufgenommen werden, so wie es beispielsweise in Bayern und Baden-Württemberg der Fall ist. Dann sollten nicht nur die Hauptbaumarten ersatzpflichtig sein, also die, die fünf Prozent des Ausgangsbestandes ausmachen, sondern auch die Nebenbaumarten. Wildverbiss an diesen Bäumen muss nämlich derjenige zahlen, der auf der Fläche jagt. „Man reguliert den Wildbestand als Pächter schon allein aus eigenem finanziellen Interesse“, bestätigt Josef Schneider. Der Jagdvorstand einer Genossenschaft ist dafür verantwortlich, den Vollzug des Pachtvertrages zu überwachen. In der Praxis bilden die Grundstücke einer Gemeinde meist eine Jagdgenossenschaft. Im Vorstand sitzen häufig nicht diejenigen, die am sachkundigsten sind, sondern die, die Zeit für ein solches Amt haben. Wer aber keine Ahnung von Land- und Forstwirtschaft sowie Wildschäden hat, der kann auch nicht beurteilen, wie auf einer Fläche gejagt werden muss.
„Viele Jäger werden direkt grantig, wenn man ihnen als Jagdgenosse mal ein bisschen auf die Füße tritt“, gibt Udo Lenz zu verstehen. Das Jagdrecht ist ein Recht, aber keine Pflicht. Das bedeutet, solange im Pachtvertrag nicht steht, dass ein Jagdpächter eine bestimmte Anzahl an Tieren töten muss, kann man ihm auch keinen direkten Vorwurf machen, wenn er es nicht tut. Und genau so entsteht ein strukturelles Problem.
„Die Jagd hat sich sehr verändert in den letzten 30 Jahren“, erzählt Josef Schneider. Für viele stünden der Naturbezug und eine nachhaltige Fleischgewinnung im Vordergrund. „Trophäenjagd ist stark in den Hintergrund gerückt“, sagt er. Auch bei Sebastian Erfurt ist davon nichts zu spüren. Bei der Drückjagd im November läuft er als Treiber durch den Wald, das heißt, er schießt selbst nicht. An jedem zweiten Bäumchen bleibt er stehen und zeigt Verbissspuren. Stundenlang kann er über Baumarten und ihre Bedeutung für das Ökosystem sprechen. Ihm geht es an diesem Tag nicht darum, Tiere zu töten. Doch in jeder Herde gibt es ein schwarzes Schaf.
Einer der Gastjäger erklärt, bezahlte Trophäenjagd, beispielsweise in Afrika, fände er maßlos überteuert. Würde sie ihm geschenkt, würde er aber auch an einer solchen Jagd teilnehmen. Eine Giraffe zu schießen sei allerdings völlig absurd. Die brauche er sich nicht ins Wohnzimmer zu hängen, der Hals sei viel zu lang. In seinem Jagdzimmer sammelten sich seit 1987 über 200 Trophäen. So ganz in den Hintergrund ist die Trophäenjagd also doch noch nicht gerückt. Dieter Bonaventura hält sie in vielen Fällen sogar für die treibende Kraft.
Er und sein Kollege Udo Lenz plädieren für eine moderne Form der Jagd. Die beinhalte, dass der Tod eines Tieres nur mit seiner Verwertung zu rechtfertigen sei. Darüber hinaus sollte sie von wissenschaftlichen Erkenntnissen begleitet sein und anhand derer laufend überprüft werden. „Zahl vor Wahl, Wald vor Wild“, lautet Dieter Bonaventuras Leitsatz. „Wald und Wild“, lautet dagegen das Leitbild der Vereinigung der Jäger des Saarlandes. „Wir müssen schon nach den geltenden gesetzlichen Vorschriften dafür sorgen, dass ein den landschaftlichen und landeskulturellen Verhältnissen angepasster artenreicher und gesunder Wildbestand erhalten bleibt“, erklärt Josef Schneider.
Keine genauen Aussagen über Population möglich
Dazu gehörten auch die Hegeausstellungen der Kreisjagdverbände im Zusammenhang mit dem Kreisjägertag, die für den ÖJiS bloße Trophäenschauen sind. „Ein großer Hirsch wird tagelang mit Champagner totgesoffen, aber Wildschäden im Wald will ein großer Teil der Jagdpächter nicht bezahlen“, kritisiert Bonaventura. „Hegeausstellungen sind wichtig. Aber nicht, um darzustellen, was man für einen tollen Bock geschossen hat, sondern um einen Gesamteindruck vom Zustand des Wildes zu erhalten“, hält der Vorsitzende des VJS dagegen. „Wenn der Gehörnzustand gut ist, stimmt alles mit der Rehwildichte. Wenn er nicht gut ist, muss mehr getan werden.“
An dem trüben Novembertag hängen gegen 13 Uhr sieben Rehe mit aufgeschlitztem Bauch und dem Kopf nach unten an zwei Gerüsten. Die Drückjagd ist damit erfolgreich beendet. Eine Mindestabschusszahl gab es nicht. Und auch zur Population in diesem Jagdgebiet kann Sebastian Erfurt keine genaue Aussage treffen. Laut Dieter Bonaventura sei das ohne Befliegung oder Zählung auch gar nicht möglich. Um eine Überjagung brauche man sich allerdings keine Gedanken zu machen. Er sagt: „Wenn die Baumarten wachsen, die wir brauchen, dann stimmt die Population. Der Wald zeigt, ob die Jagd stimmt.“