Ilkay Gündogan ist neuer Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Endlich möchte man sagen. Denn der Weg dorthin war beschwerlich und ungewöhnlich.
Dass Ilkay Gündogan Deutschlands größter Fußball-Star ist, gab es kürzlich wieder Schwarz auf Weiß. Bei der Wahl zum „Weltfußballer des Jahres“ belegte er Platz 14, vor Spielern wie Karim Benzema oder Harry Kane. Und nicht wenige glauben, dass er dadurch noch nicht genug gewürdigt sei. Denn schließlich war Gündogan der Kapitän des Champions-League-Siegers und englischen Meisters, ja sogar Triple-Siegers Manchester City. Und der Lieblingsspieler von Trainer-Ikone Pep Guardiola.
Und nun ist er auch Kapitän der deutschen Nationalmannschaft. Installiert, obwohl er nie beim FC Bayern München gespielt hat, vom vorvorletzten Bayern-Trainer und bestätigt vom vorletzten Münchener Coach, womit er quasi drei Bayern-Stars mit älteren Ansprüchen vorgezogen wurde. Aber der Reihe nach.
In der englischen Premier League, die gemeinhin als stärkste Liga der Welt geadelt wird, ist Gündogan mit fünf Meistertiteln und insgesamt acht Erfolgen im FA-Cup, dem Ligapokal und dem Supercup längst der erfolgreichste Deutsche. Der gebürtige Gelsenkirchener wurde als erst dritter Deutscher dauerhafter Kapitän bei einem englischen Erstligisten. Als Erster führte er seinen Club mit der Binde am Arm zum Titel.
Und wer seinen Club-Coach Guardiola hört, bekommt eine Ahnung davon, dass Gündogan bei alledem der entscheidende Faktor war. Immer wieder schwärmte Guardiola in allerhöchstem Maße von Gündogan, für dessen Verpflichtung für 27 Millionen Euro von Borussia Dortmund er sich 2016 persönlich starkmachte, weil er als Trainer des FC Bayern immer wieder gesehen hatte, wie besonders er ist. „Es ist unglaublich, wie gut er ist. Er ist außergewöhnlich, eine der besten Verpflichtungen der Clubgeschichte“, sagte Guardiola schon im Jahr 2021. In dieser Saison folgte eine Hymne nach der anderen. „Er kann alles“, sagte der katalanische Meistercoach nach einem 2:1 gegen Leeds mit zwei Gündogan-Toren: „Er muss nicht zwei Tore schießen, um zu wissen, wie sehr ich diesen Spieler mag.“ Er sei „ein unglaublicher Fußballer“, wiederholte er kurz darauf: „Er ist so intelligent und schlau, es ist ein Vergnügen. Unter anderem deshalb wurde er auch zum Kapitän gewählt.“ Und nach dem Triple erklärte Guardiola schließlich: „Welch‘ eine Saison er hatte! Er spielt in großen Spielen so, als ob sie Freundschaftsspiele wären. Er kann mit dem Druck umgehen.“
Lange Zeit unter dem Radar
Man kann sich angesichts solcher Zitate kaum vorstellen, wieso Gündogan in der Nationalmannschaft nie so richtig angekommen wirkte. Weshalb die deutschen Fans immer mindestens eine Handvoll anderer Spieler lobten, bevor sein Name fiel. Das hing aber auch mit einer unglücklichen Historie im DFB-Team zusammen, vor allem bei Turnieren. Schon 2011, zwei Wochen vor seinem 21. Geburtstag und kurz nach seinem Wechsel vom 1. FC Nürnberg nach Dortmund, gab er sein Debüt. Bei der EM 2012 war er dabei, kam aber nicht zum Einsatz. Die WM 2014 und damit den Weltmeister-Titel verpasste er ebenso wie die EM 2016 verletzungsbedingt. Bei der unglückseligen WM 2018 kam er ganze 59 Minuten zum Einsatz, als Einwechselspieler für Sebastian Rudy – was heute reichlich absurd klingt. Bei der EM 2021 kam er in allen Vorrundenspielen zum Einsatz, beim Achtelfinal-Aus gegen seine Wahl-Heimat England aber seltsamerweise nicht. Und bei der WM 2022 in Katar sehen es viele als Anfang vom Ende an, dass Bundestrainer Hansi Flick im ersten Gruppenspiel gegen Japan den Torschützen Gündogan beim Stande von 1:0 vom Platz holte. Das 1:2 gegen die Asiaten konnte das DFB-Team nicht mehr wettmachen und schied zum zweiten Mal in Folge in der Vorrunde aus.
Es war also viel Pech im Spiel. Aber es ist auch in einer seltsamen gegenseitigen Wechselwirkung Fakt, dass Gündogan im Nationalteam selten die starken Leistungen zeigte wie im Verein. Ob das so war, weil er nie so recht seinen Platz fand, oder ob ihm genau dies wegen der schwankenden Leistungen nicht gelang, ist eine spannende Frage. Obwohl auf seiner Position normalerweise nicht allzu viel gewechselt wird, stand Gündogan in seinen ohnehin nur 67 Länderspielen in zwölf Jahren vor seiner Ernennung zum Kapitän ganze 22 Mal über 90 Minuten auf dem Platz.
Viele Kleinigkeiten spielten dabei eine Rolle. Zum einen kam er eben öfter aus Verletzungen, zum anderen war seine Vielseitigkeit – Gündogan kann als Sechser, Achter oder Zehner agieren – meist eher Fluch statt Segen, auch weil Spieler zum Beispiel vom FC Bayern eine größere Lobby zu haben schienen. Gündogan ist auch nicht der Lautsprecher, der sich darüber lautstark beklagt. Hinzu kamen unglückliche Vorfälle wie das gemeinsame Foto mit Mesut Özil und dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan 2018, auf dem auch zu sehen war, dass Gündogan sein überreichtes Trikot mit der persönlichen Widmung „für meinen verehrten Präsidenten, hochachtungsvoll“ unterzeichnet hatte. Während es für Özil der Anfang vom Ende im DFB-Team und streng genommen auch in der Karriere war, weil er sich immer weiter hineinritt, schaffte der intelligente, eloquente und feinfühlige Gündogan zumindest den Weg aus dieser unangenehmen Angelegenheit.
Und war am 10. Juni auf dem bisherigen Gipfel seiner Karriere angekommen, als er nach dem 1:0 im Champions-League-Finale gegen Inter Mailand um 23.17 Uhr als Erster den Henkelpott in den Istanbuler Nachthimmel recken durfte. „Man kann sich vorstellen, wenn man das dritte Finale spielt, zwei verloren hat, das erste vor zehn Jahren, dann jagt einen das auch mental“, sagte er: „Ich werde auch nicht jünger, so gibt es nicht so viele Möglichkeiten mehr, diesen Henkelpott zu gewinnen. Und das nun im Heimatland meiner Eltern. Familie, Freunde, alle sind im Stadion – besser geht’s nicht.“
Wegen Guardiola und weil er dem Champions-League-Sieg so hinterherhechelte, war er einst nach Manchester gegangen, das gab er offen zu. Nach der Final-Niederlage 2013 mit Dortmund gegen den FC Bayern, als er beim 1:2 den zwischenzeitlichen Ausgleich erzielte, sei dieses Ziel „zur Besessenheit geworden. Bei jeder Entscheidung, die ich in meiner Karriere seitdem getroffen habe, ging es darum, diese Trophäe zu holen. Deshalb bin ich zu City gekommen.“ 2021 verlor er mit Manchester erneut gegen Chelsea mit Trainer Thomas Tuchel 0:1, ein Jahr später setzte ihn Guardiola in beiden Halbfinal-Spielen gegen Real Madrid überraschend auf die Bank. City schied aus, Real holte den Pokal.
Von Guardiola geprägt
Das Verhältnis zum Trainer wurde dadurch aber nicht nachhaltig getrübt. „Bevor ich zu Man City kam, dachte ich, ich kenne alles“, sagte Gündogan kürzlich in einem ESPN-Interview: „Aber wenn ich jetzt hier stehe, nach sieben Jahren in Peps Schule, würde ich sagen, dass ich nichts über Fußball wusste. Sein Einfluss auf die Mannschaft und mich persönlich war immens.“
Guardiola wollte ihn auch unbedingt halten, dennoch ging Gündogan im Sommer zum FC Barcelona. Die Mission war mit dem Titel in der Königsklasse erfüllt, für Barca hatte er schon als Kind geschwärmt, zudem war er in diesem Sommer ablösefrei. Guardiola habe da „am Ende nicht wirklich viel tun können“, sagte Gündogan. Seinen Trainer informierte er aber als Ersten. Dies sei „einer der schwierigsten Anrufe, die ich tätigen musste.“ Ohne Guardiola sei das alles schließlich „nicht möglich gewesen“. Im Gegensatz zu den Bundestrainern Joachim Löw und Hansi Flick hatte er ihm auch immer vollends vertraut.
Der Gewinn der Champions League als Kapitän war es sicher auch, der den letzten Anstoß gab für das Kapitänsamt bei der Nationalmannschaft. Doch wieder schien das Timing nicht zu passen. Die Ernennung schien eine Verzweiflungstat von Flick zu sein, der nur ein Spiel später beurlaubt wurde. Flick hatte dabei den nicht immer nominierten Thomas Müller, vor allem aber Joshua Kimmich übergangen, denn normalerweise geht das Kapitänsamt an den Spieler mit den meisten Länderspielen. Zudem stand die Rückkehr des jahrelangen Kapitäns Manuel Neuer bevor. Und dann kam auch noch Julian Nagelsmann als Nachfolger. Dessen Vertraute in der Zeit als Flick-Nachfolger beim FC Bayern waren vor allem Kimmich und Leon Goretzka, Gündogans Haupt-Konkurrenten auf seiner bevorzugten Position im zentralen, defensiven Mittelfeld.
Er gab deshalb selbst zu, dass er nicht wusste, ob er Kapitän bleiben würde. „Es hat ja angefangen mit Hansi. Wenn dann ein neuer Trainer kommt, weiß man natürlich nie, wo er seine eigenen Ideen hat“, sagte der 32-Jährige: „Vielleicht möchte er anderes Personal in gewissen Rollen sehen, nicht nur im Kapitänsamt, sondern auch auf dem Platz. Dementsprechend war alles ein bisschen ungewiss im Vorfeld.“
Doch Nagelsmann stellte schnell klar: Gündogan bleibt Kapitän. Und nach dessen starken Auftritten auf der US-Reise bekräftigte der Bundestrainer sogar, dass er dies auch bis zur Heim-EM bleiben werde. Egal, ob und wie Neuer zurückkommt, hätte man in Klammern hinzufügen können. Er empfinde das als „große Ehre und großes Privileg“, sagte Gündogan. Er wolle „in allererster Linie mit Leistung vorweggehen“. So wie er es in Manchester jahrelang gemacht hat. Was hier mancher vielleicht nicht so mitbekam.
Bleibt abzuwarten, ob Gündogan nun dauerhaft seinen Platz findet – und mit einer erfolgreichen EM in Deutschland auch seine unglückliche Turnier-Historie vergessen lassen kann.