Am 28. Januar ist Welt-Lepra-Tag. Veränderungen der Haut sind typisch für die chronische Infektionskrankheit. Seit fast 60 Jahren unterstützt eine Würzburger Organisation Betroffene in Nigeria.
Langsam bewegt sich Matthew Ivom den Feldweg entlang. Ab und an sieht man noch Spuren der abklingenden Regenzeit, denen er humpelnd ausweicht. Schon wieder muss er eine große Pfütze umgehen. Nicht leicht für den ehemaligen Lepra-Patienten: Seine Füße sind deformiert und es haben sich wieder offene Wunden gebildet, eine Infektion darf er auf keinen Fall riskieren. Der Weg von der Lepra-Klinik des nahen St.-Patrick-Krankenhauses „Mile 4“ nach Hause ist nicht weit. Matthew Ivom und seine Frau wohnen schon lange auf dem Klinikgelände. Denn auch sie ist eine Betroffene. Zum Glück hat er heute schnelle Hilfe bei der Wundversorgung bekommen. Alles kann man eben doch nicht zu Hause selbst erledigen, und die Nähe zur Klinik ist ein großer Vorteil. Die Lepra- sowie die Tuberkulose-Station des Krankenhauses liegen in einer idyllischen und gepflegten Anlage eng beieinander, aber in größerer Entfernung zum Hauptgebäude. Das verwirrt zuerst, doch erkennt Dr. Okechukwu Ezeakile von RedAid Nigeria daran den Geist der Vergangenheit: „Lepra- und Tuberkulose-Patienten wurden schon immer ausgegrenzt, und bis heute hat sich nicht viel daran geändert.“
Jährlich mehr als 2.000 neue Fälle
Gemeinsam mit ihrer nigerianischen Partnerorganisation RedAid Nigeria unterstützt die DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe mit Sitz in Würzburg das Tuberkulose- und Lepra-Kontrollprogramm des nationalen Gesundheitsministeriums. Nigeria gehört zwar zu den Ländern, die schon vor über zwei Jahrzehnten die Eliminierung der Lepra verkündet haben. Doch die Realität sieht anders aus: Jährlich werden mehr als 2.000 neue Fälle gemeldet. Matthew Ivom ist nur einer der Betroffenen.
Die Tragödie des damaligen Bauarbeiters begann bereits 1990, als er noch ein junger Mann war. Erste Anzeichen waren Fieber und Hautveränderungen. Die Eltern wollten ihn zu einem Schamanen bringen, dem traditionellen Heiler des Dorfes. Doch er weigerte sich. Hatte nicht sein Kollege gesagt, dass die Flecken typisch für eine Lepra-Erkrankung seien und er lieber gleich in das Referenzkrankenhaus gehen solle? Mit dem Familienfrieden war es schlagartig vorbei. „Ich war ungehorsam. Meine Eltern wollten mich nicht mehr, und ich musste gehen“, sagt der heute 50-Jährige, beteuert aber, dass er seiner Familie für diese grausame Entscheidung von damals vergeben hat.
Es folgten viele Jahre mit langwierigen Behandlungen, die Füße veränderten sich. „Eine schlimme Zeit“, gibt er heute unumwunden zu. Er fand eine Bleibe auf dem Gelände des katholischen Krankenhauses, verlor den Job und seine große Liebe. „Auch ihre Eltern drohten, sie zu verstoßen, wenn sie mich heiratet. Wir waren füreinander bestimmt, das wussten wir. Sie wollte sich das Leben nehmen, doch ich konnte sie davon abhalten und ging. Das war das Einzige, was ich für sie tun konnte“, sagt er leise. Viel später wurde er mit einer Lepra-Patientin glücklich, die noch heute an seiner Seite ist. Das Paar bekam Kinder, und die Nähe zur Lepra-Station gibt beiden bis heute ein Gefühl der Sicherheit. Ivom macht sich nützlich und repariert die orthopädischen Sandalen seiner Mitpatienten. Bis heute hat er keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern. Doch mittlerweile kann er damit leben, auch die Albträume der Vergangenheit sind vorüber. Seine Frau hat ihm durch ihren ähnlichen Lebens- und Leidensweg Kraft und Zuversicht gegeben.
Trifft vor allem die Ärmsten der Armen
Das katholische Krankenhaus St. Patrick „Mile 4“ in Abakiliki im Südosten Nigerias begann seine Lepra-Arbeit im Jahr 1946. „Ab 1960 widmete es sich auch zunehmend den Tuberkulose-Kranken“, erklärt Verwaltungsleiterin und Ordensschwester Charity Munonye. Sie gehört den Medizinischen Missionarinnen Marias an, einer Ordensgemeinschaft innerhalb der römisch-katholischen Kirche mit Schwerpunkten in Afrika und Südamerika. „Wir sind der DAHW sehr dankbar für den jahrzehntelangen Einsatz für uns.“ Seit rund drei Jahren führt die nationale Partnerorganisation RedAid Nigeria die Zusammenarbeit weiter. „Sie fördert in erster Linie unsere Tätigkeiten in den weit entlegenen Dörfern, wo unser Gesundheitspersonal Lepra-Arbeit macht. Dabei werden immer wieder neue Fälle entdeckt.“ Rund zehn Besuche monatlich unternimmt das Team auf Motorrädern, da kaum Straßen in die unwegsamen Gegenden führen. „Die besonders schwer von Lepra Betroffenen kommen in unser Krankenhaus, die anderen werden in ihren Gemeinden weiterbehandelt. Auch Aufklärungsveranstaltungen rund um das Erkennen der Krankheit werden regelmäßig vor Ort durchgeführt.“
Darüber hinaus sprechen die mobilen Krankenpfleger mit den betroffenen Familien, um Stigmatisierung möglichst zu vermeiden. „Die Patienten werden gesellschaftlich benachteiligt, da sie Amputationen haben, ihnen Finger, Beine oder Arme fehlen. Man betrachtet sie deshalb als unsauber. Dagegen geht unser Team mit seinem ‚heilenden Charisma‘ vor. Letztendlich kann die Krankheit jeden treffen, aber vor allem eben die Ärmsten der Armen“, berichtet Charity Munonye.
Pflegedienstleiterin Georgenia Ndulaka erzählt von einer jungen Frau, die schwanger in das Krankenhaus kam. Sie hatte bereits Deformierungen an Händen und Füßen. In der angrenzenden Geburtsklinik brachte sie ihre Tochter zur Welt. „Wir alle kümmerten uns um das Baby. Mutter und Kind blieben fünf Jahre und bekamen nicht ein einziges Mal Besuch von ihrer Familie. Wir versorgten die durch die Lepra entstandenen offenen Wunden immer wieder.“ Das Gesundheitsteam nahm schließlich Kontakt zur Familie der jungen Frau auf. „Es war ein Wunder, denn es geschah etwas, das wir nicht mehr für möglich gehalten hatten: Die Eltern nahmen ihre Tochter und die Enkelin wieder in den Familienkreis auf.“
Es gibt also auch Geschichten, die sich zum Guten wenden – auch die von Ebere Awoke. Die heute 44-Jährige hatte typische Lepra-Flecken im Gesicht, an den Armen und Beinen. Schon länger wusste sie, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie verlor das Gefühl in ihren Gliedmaßen und stürzte oft. Schließlich kam sie in das bekannte Referenzkrankenhaus. Insgesamt 14 Monate blieb sie in Behandlung. Zwischendurch kehrte sie nach Hause zurück, doch die Pigmentstörungen im Gesicht ließen sie zur Außenseiterin werden. „Es gab keine Treffen mit Freundinnen mehr, alle glaubten, ich habe eine böse Krankheit“, sagt sie. Zum Glück hielt die Familie zu ihr. „Heiraten wollte mich keiner mehr, das war schlimm“, ergänzt sie. Mit einem Leidensgenossen fand sie ihr Ehe-Glück und bekam vier Kinder. „Er hatte mehrere Amputationen und Deformationen“, sagt sie. Seit zwei Jahren ist Ebere Awoke verwitwet. Sie hat sich ausgesöhnt mit ihrer Krankheit, möchte nicht mit Bitterkeit zurückblicken. „Das Leben geht weiter. Heute bin ich zur Wundversorgung da, die die Krankheit immer noch erfordert.“ In der Werkstatt des Krankenhauses werden gerade ihre Sandalen repariert. Matthew Ivom wartet schon auf sie, denn man hilft sich gerne gegenseitig.
„Dieses Gefühl von Verlassenwerden“
Die heute 65-jährige Mary Nwankwo trauert ihrer ersten großen Liebe immer noch nach. Besuche bei einem Dorf-Heiler, zu dem ihre Eltern sie nach Ausbruch der Krankheit brachten, halfen nichts. Auch die Kräuterwickel konnten die Flecken auf ihrem Körper nicht unsichtbar machen. Wie bei den anderen auch endete ihre Suche nach Genesung im St. Patrick „Mile 4“. Der Verlobte verließ sie, obwohl die Vermählung schon geplant war. Erst viel später heiratete sie wie Ebere Awoke einen Mitpatienten. Es dauerte Jahre, bis sie geheilt wurde, die Lepra brach immer wieder aus und verletzte weitere Körperteile. Heute ist Mary Nwankwo gekommen, um eine offene Stelle am Bein versorgen zu lassen und Bekannte zum Plaudern zu treffen.
Philip Edda erinnert sich daran, wie er mitten auf dem Dorfplatz plötzlich alleine da stand. Waren vorher noch Freunde und Nachbarn versammelt, gingen sie, als er kam. „Das war schwer. Dieses Gefühl von Verlassenwerden“, erinnert sich der 56-Jährige. „Die Flecken, meine offene Wunde, all das wollten die Leute nicht sehen.“ Der Arzt riet ihm schließlich zur Amputation des rechten Beines unterhalb des Knies. Nach Hause wollte er nicht mehr, so wohnte er mehrere Jahre auf dem Krankenhausgelände und lernte dort seine Frau kennen. Starke Depressionen machten für ihn die Tage unerträglich, doch dann geschah etwas, an das er sich heute noch erinnert: „Die Eingebung, dass doch so viele meiner Leidensgenossen starben, aber ich lebe. Das ist doch ein Grund zur Freude.“ Das hört auch seine Frau, die an der Kochstelle steht. Die beiden haben sich im Krankenhaus kennengelernt. Jetzt kommt sie auf ihn zu und umarmt ihn spontan.