Immer mehr Lebewesen sind in ihrer Existenz bedroht, ganze Ökosysteme drohen zerstört zu werden und die biologische Vielfalt sinkt. Forschende des weltweiten „Earth BioGenome Project“ (EBP) haben sich ein ambitioniertes Ziel gesetzt: ein Erbgutkatalog mit 1,8 Millionen Arten.
Er trägt den stolzen Namen Poeobius, ist nur wenige Zentimeter lang und lebt in den Tiefen des Atlantischen Ozeans. Weil der biolumineszente Wurm wie ein Glühwürmchen leuchtet und wie der Stummel einer glühenden Zigarette aussieht wird er in der englischsprachigen Wissenschaftswelt manchmal auch „butt worm“ genannt, was man mit „Zigarettenstummel-Wurm“ übersetzen könnteE
Erste Versuche bereits in Antike
Für Forscherinnen wie Karen Osborn ist er so interessant, dass sie auf der Suche nach ihm – trotz eines mulmigen Gefühls – in eine Tauchkapsel einsteigt, um damit in die Tiefen eines vulkanischen Archipels vor den Inseln Kap Verdes zu tauchen. Das Tiefseearchipel ist berühmt für sein reichhaltiges Meeresleben: Mit einer Saugvorrichtung am Ende eines Roboterarms geht sie auf die Jagd – schon mehrere Tauchversuche von Osborn und ihrem Team waren erfolglos. Doch heute hat die Zoologin von der weltberühmten Smithsonian Institution in Washington, D.C., das Glück auf ihrer Seite. In wenigen Hundert Metern Tiefe sieht sie eine Gruppe der Stummelwürmer und saugt sie schnell ein. Osborns Odyssee stand am Beginn einer weltweiten wissenschaftlichen Operation, namens „Earth BioGenome Project“ (EBP).
Sie und Tausende Wissenschaftler auf der ganzen Welt sind Teil des schon 2018 ins Leben gerufenen Projekts, das jetzt in eine neue Phase der Katalogisierung der weltweiten biologischen Vielfalt eintritt und einen vollständigen Erbgutkatalog aller 1,8 Millionen Pflanzen-, Tier- und Pilzarten sowie der Eukaryoten zum Ziel hat. Eukaryoten sind Lebewesen, die einen Zellkern besitzen – wie Einzeller, Algen, Pflanzen, Pilze, Tiere und Menschen. Für die biologische Forschung, sagen die Organisatoren, ist die EBP-Mission das, was die erste Mondlandung einst für die Raumfahrt war.
Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet erstreckt sich die Katalogisierung allen Lebens über Jahrhunderte, Generationen, Kontinente und Wissenschaftsdisziplinen hinweg. Erste Versuche einer solchen Katalogisierung gab es bereits in der Antike. Aber erst mit Charles Darwins 1859 erschienenem epochalem Werk „Über die Entstehung der Arten“, worin er auch einen „Baum des Lebens“ skizziert hat, wurde alles anders. Denn Darwin entdeckte, dass sämtliche Lebewesen auf einen Ursprung zurückgehen. Mit seiner vor gut 160 Jahren vorgestellten Theorie von der evolutionären Anpassung und der Entdeckung einer allen Lebewesen gemeinsamen Verwandtschaft revolutionierte er die Biosystematik. Was mit Darwins Systematik begann, könnte das EBP jetzt vollenden oder zumindest einen Riesenschritt weiterbringen.
Erbgutinformation entschlüsseln
Das Projekt ist eine organisatorische Mammutaufgabe, die alle Wissenschaftsdisziplinnen tangiert. Auch das deutsche Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) und die Wissenschaftler der Initiative „Europäischer ReferenzGenom Atlas“ (ERGA), kooperieren mit ihm. Gemeinsames Ziel ist es, ein globales Netzwerk von Sequenzierungsexpertise und -kapazität aufzubauen, und Sequenzierungen im großen Maßstab voranzutreiben.
Eine DNA-Sequenzierung ist eine Methode zur Entschlüsselung der Erbinformation (DNA). Ein DNA-Strang ist vergleichbar mit einem Reißverschluss. Die „Zähne“ dieses Reißverschlusses werden von den Nukleinbasen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin gebildet. Die Basen bilden die Grundlage für den genetischen Code und ihre Reihenfolge kodiert die Informationen. Aber selbst wenn man die Reihenfolge kennt, weiß man oft noch nichts über die Funktion des Gens. Wichtige Aufschlüsse zur Funktion unbekannter Gene bietet der Vergleich mit bekannten Genen anderer Lebewesen. In Datenbanken können die neuen Sequenzen mit bereits bekannten, gespeicherten Sequenzen verglichen werden. Häufig lässt sich dann die Bedeutung oder Funktion der unerforschten Gene vorhersagen.
Die Zeit drängt, denn werden der Klimawandel nicht eingedämmt und die globalen Ökosysteme nicht geschützt, ist zu befürchten, dass die Erde bis zum Ende dieses Jahrhunderts die Hälfte ihrer biologischen Vielfalt verliert. Das EBP ist als internationales „Netzwerk von Netzwerken“ konzipiert und koordiniert zahlreiche gruppenspezifische, regionale und nationale Bemühungen. Sein Projektlenkungssauschuss sitzt in den USA, an der University of California, Davis. Harris Lewin, Vorsitzender der EBP-Arbeitsgruppe und Professor für Evolution und Ökologie erklärt, was sich die Forscher und Forscherinnen von diesen millionenfachen Sequenzierungen erhoffen: „Die Erstellung einer digitalen Bibliothek des Erbguts aller bekannten eukaryotischen Lebewesen kann uns in die Lage versetzen, wirksame Instrumente zu entwickeln, die den Biodiversitätsverlust und die Ausbreitung von Krankheitserregern eindämmen und die Überwachung und Schutz von Ökosystemen verbessern.“
Die Sequenzierung des Erbguts oder Genoms – also die Gesamtheit der vererbbaren Informationen einer Zelle – aller Pflanzen, Tiere, Pilze und anderer Lebewesen auf der Erde, ist eine wichtige Voraussetzung dafür. Überall auf der Welt bemühen sich Menschen darum, wissenschaftliche Konsortien zu gründen, die qualitativ hochwertige, fehlerfreie Genomsequenzen aller Arten erzeugen sollen. Diese Ressourcen können von wesentlicher Bedeutung sein, um grundlegende Fragen der Biologie, der Gesundheits- und Krankheitsforschung und der biologischen Erhaltung zu beantworten.
Augenmerk auf Artenerhaltung
„Die Genomik – also die molekularbiologische Untersuchung der gesamten DNA-Information eines Individuums – ist eine sich schnell entwickelnde Disziplin, die darauf abzielt, das gesamte genetische Repertoire der Arten sowie die Unterschiede und Wechselwirkungen zwischen Individuen, Populationen und Gemeinschaften zu untersuchen“, sagt Leibniz-IZW-Wissenschaftlerin Dr. Camila Mazzoni, die Vorsitzende von ERGA. Der angestrebte Erbgutkatalog wird so eine Riesenfülle an nie dagewesenen Datenmengen enthalten. Dabei wollen europäische Forschende ihren Fokus auf die Bereiche Bioökonomie legen. Ihr Ziel ist also eine Wirtschaft, in der fossile Ressourcen durch verschiedene nachwachsende Rohstoffe ersetzt werden.
Dazu richtet die ERGA und das mit ihr verbundene Projekt „Biodiversity Genomics Europe“ ein Augenmerk gezielt auf Artenerhaltung und Organismen, die Krankheiten übertragen. „Je mehr Spezies wir in diesen Bereichen sequenzieren, desto schneller werden wir voraussagen können, was mit ihnen in der Zukunft passiert“, sagt Mazzoni. Konkret heißt das zum Beispiel vorhersagen zu können, wie man am besten Fischpopulationen in der Nordsee schützt, dem Massensterben der Bienenvölker entgegenwirkt oder wie man krankheitsübertragende Moskitos bekämpft, die immun sind gegen bestimmte Pestizide.
Schon bis Jahresende hat das EBP ein ehrgeiziges Ziel – nämlich Referenzgenome zu erstellen, die etwa 9.400 taxonomische Familien repräsentieren. Die Taxonomie in der Biologie ist eine Möglichkeit, Lebewesen nach bestimmten Merkmalen und Kriterien zu ordnen.
In den kommenden zehn Jahren will das EBP von jeder Art – bisher hat man weltweit etwa 1,84 Millionen klassifiziert – eine Sequenz erstellen. Um die dazu nötige DNA zu sammeln, braucht es nicht immer eine Tiefsee-Tauchkapsel. Es geht auch einfacher. Feldbiologen sammeln Blätter, Blüten oder fangen Insekten. Bei Wirbeltieren reicht eine Blutprobe. Die Probe wird in einem Glasfläschchen verschlossen, das in flüssigem Stickstoff gelagert werden muss. Bei diesem Aspekt des Transports gibt es noch einen technischen Engpass:
„Damit die DNA-Proben sequenziert werden können, müssen sie superfrisch sein. Das geht momentan nur mit der sofortigen Lagerung im flüssigen Stickstoff, den man auch ins Feld transportieren muss, der aber nicht ohne Weiteres weltweit für alle teilnehmenden Wissenschaftler zur Verfügung steht“, erklärt Camila Mazzoni.
Am Ende des EBP wird die erstellte DNA-Bibliothek weltweit verfügbar sein. Diese Datenbank ist die Grundlage, um zukünftig den genetischen Code aller Pflanzen, Tiere, Pilze und eukaryotischen Lebewesen lesen und verstehen zu können. Die Wissenschaft schätzt, dass es auf der Erde zwischen zehn, 50 oder 100 Millionen Arten gibt. Die Zahlen klaffen weit auseinander, je nach Schätzung und Methodik. Klar ist aber: Den Großteil der Arten hat der Mensch noch nie zu Gesicht bekommen und diese – soweit möglich – neu zu entdecken und zu klassifizieren und ihr Erbgut zu entziffern, wird Aufgabe des EBP sein.
Auch der von der US-Wissenschaftlerin Karen Osborn gefundene Stummelwurm gehörte einer neuen Spezies dieses Wurmes an, die bisher unbekannt war. Die Datenbank wird am Ende eine Größe von fast einem Exabyte haben, das entspricht einer Milliarde Gigabytes (GB) – ein durchschnittlicher Heimcomputer hat 256 GB Speicherkapazität. Kosten und Größenordnung des EPB sind vergleichbar mit dem James-Webb-Weltraumteleskop. Das größte und komplexeste Teleskop, das jemals gebaut wurde, hat 9,5 Milliarden Euro gekostet. Derzeit kostet es knapp 1.000 Euro, das Erbgut oder Genom eines Lebewesens zu entziffern. Aufgrund technischer Fortschritte wird dieser Preis aber im Laufe dieses Langzeitprojekts weiter fallen. Die Nutzung der genomischen Informationen ist in einem völkerrechtlich bindenden Vertrag geregelt. Das Nagoya-Protokoll ist seit 2014 in Kraft und regelt den Zugang zu genetischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Vorteile auf völkerrechtlicher Basis.
Daten Helfen auch der Humanmedizin
Das EBP umfasst bis jetzt mehr als 5.000 Wissenschaftler und technisches Personal an 44 Mitgliedsinstitutionen in 22 Ländern auf allen Kontinenten außer der Antarktis. Heute sind ihm mindestens 49 Projekte angeschlossen, welche die meisten der wichtigsten taxonomischen Gruppen von Eukaryoten abdecken und weltweit Zugang zu Zehntausenden hochwertiger Proben aus Museumssammlungen und von Feldbiologen bieten: Wissenschaftler in Indonesien sequenzieren die DNA der Binturong. Diese Marderbären leben auf vielen der fast 18.000 Einzelinseln des Landes, sind als putzige Haustiere beliebt und auch deshalb vom Aussterben bedroht. Die aus Tierschmuggler-Händen geretteten Tiere können nur auf ihre ursprüngliche Insel zurückgeführt werden, weil Wissenschaftler im Rahmen des EBP jetzt ihre DNA kennen und auch geografisch zuordnen können. Zurück in ihrem angestammten Habitat haben die Tiere bessere Überlebenschancen.
In der Mojave-Wüste vergleichen Forscher, die mit dem EBP zusammenarbeiten die Genome von Bäumen, die hohe Temperaturen überleben, und finden so heraus, welche Bäume welcher Art an anderen vom Klimawandel betroffenen Orten der Welt gepflanzt werden können. Im „Zoonomia-Projekt“ vergleicht eine Gruppe von 30 internationalen Wissenschaftlerteams das Erbgut 240 verschiedener Säugetierarten, inklusive dem des Menschen.
Mit den gefundenen Daten können die Forscher jetzt nicht nur voraussagen, welche Arten früher von Ausrottung gefährdet sind und dann diese Arten besser schützen. Die DNA-Analyse von Bären, die trotz langer Bewegungslosigkeit im Winterschlaf keine Blutgerinnsel bekommen, kann der Humanmedizin auch helfen, Mittel gegen gefährliche Gerinnsel im menschlichen Blut zu finden.
Der im „Earth BioGenome“-Projekt erstellte Erbgutkatalog ist ein Fahrplan und eine Blaupause. Für die zukünftige Wissenschaft bedeutet er: neue Erkenntnisse in Landwirtschaft und Medizin sowie neue Wege, bedrohte Ökosysteme zu retten. Die Forscher sind sich sicher, dass der vom EPB angelegte Erbgutkatalog die biologische Forschung revolutionieren wird. Auf dem Spiel steht immerhin das Überleben des Lebens auf unserem Planeten.