Jürgen Klinsmann setzte vor der Heim-Weltmeisterschaft 2006 Oliver Kahn auf die Bank und machte Jens Lehmann zur Nummer eins. Vor einer ähnlich schweren Entscheidung steht nun Julian Nagelsmann – jedoch unter gänzlich anderen Vorzeichen.
Die Bilder gingen um die Welt: Oliver Kahn, der Ausnahmetorhüter, wünscht seinem Konkurrenten Jens Lehmann vor dem Elfmeterschießen gegen die Argentinier viel Glück und zeigte damit Teamgeist auf allerhöchstem Niveau. Zuvor entbrannte zwischen den beiden ein erbitterter Wettstreit darum, wer die verdiente Nummer eins beim deutschen Sommermärchen werden sollte. Ein wenig ähnelt diese Situation der jetzigen zwischen Marc-André ter Stegen und Manuel Neuer. Im Gegensatz zu damals kommt der langjährige Platzhirsch jedoch aus einer Verletzung, befindet sich noch nicht im Vollbesitz seiner Kräfte. Schwierig wird die Entscheidung trotzdem. Oder?
Noch hält Neuer die Füße still
Bilder wie die von der blamablen 1:2-Niederlage des FC Bayern München beim Drittligisten 1. FC Saarbrücken im DFB-Pokal hatte Manuel Neuer wohl nicht im Kopf, wenn er sich in den vergangenen elf Monaten seine Comeback-Spiele vorstellte. Wirklich zeigen, was er noch draufhat, konnte der Keeper aber auch beim 8:0-Sieg am vergangenen Samstag in der Bundesliga gegen Darmstadt 98 kaum. Auch gegen Dortmund kam nicht wirklich viel aufs Tor, einen Schuss von Reus parierte er jedoch Weltklasse. Eine Szene kurz nach Spielschluss in Saarbrücken zeigte immerhin, dass Neuer mental wieder der Alte ist. Als ein Fan auf den Platz stürmte und ihn mit Sprüchen und Gesten provozierte, würdigte Neuer den Anhänger keines Blickes und zog lediglich frustriert seine Torwarthandschuhe aus. „Man kann sich vorstellen, welche Mentalität man benötigt, um nach so einer Verletzung zurückzukommen“, lobt Bayern-Trainer Thomas Tuchel seinen Schlussmann, der auch von den Trainingsleistungen Neuers schwärmt. Neuer war der beste Torwart der Welt, das steht außer Frage. Dieser Weg zeichnete sich ab, seit Neuer in der Saison 2006/07 beim FC Schalke zum jüngsten Stammtorhüter der Bundesliga wurde und 2009 mit dem U21-EM-Titel auch im DFB-Dress den Pfad betrat, der ihn fünf Jahre später gemeinsam mit Spielern wie Mesut Özil, Mats Hummels, Jérôme Boateng, Benedikt Höwedes oder Sami Khedira zum WM-Titel führte. Seine zentimetergenauen Pässe und seine Klärungsaktionen weit vor dem eigenen Strafraum machten Neuer zum Vorreiter eines modernen Torwartspiels.
Auch nach seinem bei einer Skitour im Dezember 2022 erlittenen Schien- und Wadenbeinbruch war Neuer dank seiner Aura in den Medien präsenter als mancher Torwart, der in der Zeit Spitzenklasse ablieferte. Allein schon deshalb, weil viele Fans die Frage bewegte, ob es der 37-Jährige wieder schaffen würde, nach einer langen Verletzungspause seine Positionen zurückzuerobern. Bei den Bayern wurde ihm der Platz freigehalten. Offen ist jedoch, ob Neuer auch in der Nationalmannschaft wie 2018 auf den letzten Drücker bei einem großen Turnier ins Tor zurückkehrt. Damals hatte er ohne Spielpraxis Marc-André ter Stegen verdrängt, was laut dem früheren ZDF-Reporter Béla Réthy bei einem Teil des Teams so ankam, als sei „das Leistungsprinzip außer Kraft gesetzt“ worden. Ter Stegen ist mittlerweile „einer der erfolgreichsten Ausländer in der Geschichte des FC Barcelona“, wie der spanische Fußballexperte Miguel Gutiérrez die Situation im Podcast Bolzplatz einordnet. Auch Béla Réthy sieht ter Stegen, der während Neuers Pause 48 Pflichtspiele bestritten habe, diesmal im Vorteil. Zumal Neuer vor seiner Verletzung nicht mehr auf dem Level spielte wie einige Jahre zuvor. Hinzu kommt die Vorgeschichte Neuers mit dem neuen Bundestrainer Julian Nagelsmann. Der hatte als Bayern-Coach bei der Entlassung des Neuer-Freundes und Torwarttrainers Toni Tapalovic eine entscheidende Rolle gespielt. Im DFB-Team gab Nagelsmann die Kapitänsbinde bereits dauerhaft an Ilkay Gündogan weiter.
Ter Stegen meldet Ansprüche an
Während Neuer 2019, als ter Stegen Ansprüche anmeldete, selbst noch eher schmallippig reagierte, erklärte er sich nun kurzerhand selbst zum Herausforderer. Neuer hatte nach seinem Comeback erklärt, er glaube, „dass ter Stegen aktuell auf jeden Fall die Nummer eins ist“. Der Schlussmann des FC Barcelona stand in sieben der acht Länderspiele im Kalenderjahr 2023 über 90 Minuten im Kasten des DFB. Neuer hat zuletzt außerdem in Abwesenheit von den Bundestrainern Hansi Flick und Julian Nagelsmann das Kapitänsamt entzogen bekommen. Dennoch sei er „tiefenentspannt“, ließ der Routinier kurz nach seinem Comeback wissen. „Manuel hat im Moment andere Sorgen, er ist froh, dass er wieder zurück ist. Ich glaube, es macht gar keinen Sinn, jetzt Theater zu entwickeln, wer bei der Europameisterschaft hält“, erklärte der Ehrenpräsident Uli Hoeneß der Münchener im Rahmen einer Benefizveranstaltung des Rekordmeisters beim Circus Roncalli in einer Medienrunde und fügte hinzu: „Wir sind glücklich, dass Manuel zurück ist, er ist glücklich, dass er wieder da ist. Wir haben so viele wichtige Spiele in den nächsten Monaten, dass die Europameisterschaft noch viel zu weit weg ist“, so Hoeneß weiter.
Beim FC Bayern und Hoeneß war das in Bezug auf die Nationalmannschaft und gerade die Position von Neuer nicht immer der Fall. 2019 witterte der langjährige Patron der Münchener gar eine Art Verschwörung westdeutscher Medien zugunsten von ter Stegen. Der hatte seinerzeit Ambitionen auf den Stammplatz von Neuer angemeldet. „Ich finde es unmöglich, dass man so ein Thema in die Öffentlichkeit bringt. Er hat überhaupt keinen Anspruch, dort zu spielen“, sagte Hoeneß seinerzeit. Allerdings sagte er auch einen Satz, der nun gegen Neuer spricht: „Man kann im Tor nicht ständig hin- und herwechseln.“
„Man kann nicht ständig wechseln“
Einer, der sich sehr gut in diese Situation hineinversetzen kann, ist René Adler, der 2010 seinen Platz selbst an Manuel Neuer verloren hatte. „Du hast mit Marc-André ter Stegen einen Weltklasse-Mann, der über Jahre Topleistungen bringt. Der, das ist schon ein bisschen länger her, den Confed-Cup gewonnen hat. Er hätte meiner Meinung nach 2018 in Russland zumindest auch spielen können. Hat er nicht gemacht. Mir stellt sich die Frage: Was soll der Junge noch machen, damit er das Commitment bekommt und die Resonanz in der Öffentlichkeit, dass er die Nummer eins ist?“, meinte TV-Experte René Adler im ZDF. Über Neuer, mit dem er einst im DFB-Team zusammen trainierte, sagte Adler: „Manu ist ein fairer Sportsmann, ohne Frage. Aber er ist auch jemand, der immer spielen will. Das ist die Kerneigenschaft, warum er solch eine Weltklasse-Karriere über diese langen Jahre gemacht hat. Das benötigst du als Torhüter. Da gibt es eine Position als Nummer eins. Und wenn du da spielen willst, dann musst du, lieb gemeint, jeden aus dem Weg beißen, der an diese Position ran will. Das kann Manu. Gerade mit der Erfahrung über all die Jahre auf diesem Toplevel.“ Ihm fehle „teilweise der Respekt für Marc-André ter Stegen, unter der Berücksichtigung all der Erfolge, die Manu gehabt hat und was er geleistet hat. Aber: Ter Stegen spielt auch beim FC Barcelona. Er hat eine herausragende Saison gespielt, ist dort manchmal sogar Kapitän. An seiner Stelle würde ich mir auch die Frage stellen: Was soll ich überhaupt noch machen, damit ich in der Öffentlichkeit die klare Nummer eins bin?“, sagte Adler weiter und meinte deutlich: „In den letzten Monaten, wo Manu verletzt war, hat man einen Schein-Konkurrenzkampf geführt. Er war omnipräsent, aber eigentlich nicht da.“
Im September 2019 hatte der heute 31-jährige ter Stegen bei einem Medientermin seines Clubs gesagt: „Es ist nicht einfach, eine Erklärung für das zu finden, was ich erlebe. Ich gebe in jedem Spiel mein Bestes, um die Entscheidung zu erschweren. Ich versuche trotzdem alles, aber diese Reise mit der Nationalmannschaft war ein harter Schlag für mich.“ Heute verhält auch er sich diplomatischer – vielleicht weil er wirklich spürt, dass dieses Mal seine Zeit gekommen sein könnte.