Städte und Gemeinden sind dem Gemeinwohl verpflichtet, so steht es in Gemeindeordnungen. Doch oft regieren in den Rathäusern leere Kassen. Kommunen, die im Sinne der Gemeinwohlökonomie bilanzieren, wollen sich wieder auf ihre Kernaufgabe besinnen. Zum Beispiel Brakel.
Wer die Menschen in Brakel, Ostwestfalen, nach der Gemeinwohlökonomie fragt, schaut in ratlose Gesichter. „Nie gehört“, erwidert eine ältere Dame. Auch Benita, 18 Jahre alt, fährt an diesem eisigen Winter-Nachmittag mit dem Bürgerbus in die Stadt. Von der Gemeinwohlökonomie hat auch die Schülerin noch nie etwas gehört. Aber den Bus findet sie „ganz entspannt“. So müsse sie nicht „zum Einkaufen oder ins Fitness-Studio laufen“. Günstiger als ein Linienbus ist der Bürgerbus außerdem.
Betrieben wird der alte Kleinbus vom gemeinnützigen Verein Bürgerbus Brakel mit 24 ehrenamtlichen Fahrerinnen und Fahrerinnen. Von der Stadt fühlt sich der Vereins- Vorsitzende Rainer Paul „gut unterstützt“. Angebote wie dieses zahlen auf die Gemeinwohlbilanz der Stadt ein. Sie reduzieren den Autoverkehr. Und sie erleichtern vor allem älteren Menschen das Leben, leisten also Beiträge zum sozialen Zusammenhalt, zum Klima- und Umweltschutz.
Nachhaltig und familienfreundlich
Unternehmen müssen Gewinne erwirtschaften, Städte und Gemeinden mit ihrem Geld auskommen. Doch reicht das in Zeiten von Artensterben, Klimakrise und zunehmender sozialer Spannungen? Nein, sagt der österreichische Attac-Mitgründer Christian Felber. Deshalb hat er mit einigen Mitstreitern vor zwölf Jahren das Konzept der Gemeinwohlökonomie entwickelt. Wie eine betriebswirtschaftliche Bilanz Finanzkennzahlen erfasst, soll eine Gemeinwohlbilanz zeigen, was ein Unternehmen, eine Stadt oder Gemeinde fürs Gemeinwohl leistet. In 20 Feldern fragt die Bilanz detailliert den Umgang mit Mitarbeiter*innen, Lieferant*innen, Kund*innen und sonstigen Betroffenen unternehmerischen Handelns ab. Auch die Umwelt- und Klimaauswirkungen des Unternehmens werden abgefragt. Der ländliche Kreis Höxter in Ostwestfalen will Deutschlands erste Gemeinwohlökonomie-Region werden. Die Gemeinden sowie zahlreiche Unternehmen im Kreis erstellen dazu alle zwei Jahre ihre Gemeinwohlbilanz, darunter das Städtchen Brakel.
Peter Frischemeier hat bis zu seiner Pensionierung in der Stadtverwaltung gearbeitet. Jetzt fährt er ehrenamtlich den Bürgerbus. Er wundert sich nicht, dass kaum jemand in der Stadt die Gemeinwohlbilanz kennt. Die Stadt sei erst zwei, drei Jahre dabei. Bis sich das herumspricht, dauere es eben eine Weile. Bisher hat sich die Stadt vor allem auf die gemeinwohlfreundliche Gestaltung ihrer verwaltungsinternen Prozesse konzentriert: familienfreundlichere Arbeitsbedingungen, bessere Einarbeitung neuer Angestellter, Ideen für eine nachhaltigere Beschaffung und mehr. Im Bilanzierungsprozess schauen sich die Verantwortlichen im Rathaus genau an, was sie schon für das Gemeinwohl leisten – und wo es welche Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Fragt man Bürgerinnen und Bürger danach, kommt einiges Lob. Ein Ladenbesitzer am Marktplatz stutzt, hat von der Gemeinwohlökonomie noch nie gehört, ergänzt dann jedoch: „Die Stadt saniert die Schulen und ist bei der Digitalisierung voll auf der Höhe.“ Auch für die Umwelt mache die Stadt viel, zum Beispiel beim Ausbau der Solarenergie oder die Umstellung des städtischen Fuhrparks auf Elektroautos.
Alexander Kleinschmidt, der „Allgemeine Vertreter des Bürgermeisters“ im Rathaus, zeigt ein ehemaliges Kasernengelände. Hier ist ein neues Wohngebiet entstanden, der Generationenpark mit Wohnungen für ältere und behinderte Menschen, Gewerbebetrieben, einer Skaterbahn, Kletterzentrum, Beachvolleyball-Feld und Kino. Ein Immobilien-Unternehmen hat die ehemaligen Unterkünfte der belgischen Armee umgebaut und neu vermietet. Am Rand der Siedlung verkauft die Stadt Baugrundstücke. Die schmuck sanierte Kernstadt sieht aber nicht anders aus als andere Kleinstädte in der Region. Viele Geschäfte stehen leer. Dennoch hat sich hier einiges getan: Ein Investor hat die ehemalige Fachhochschule für Finanzen zu Wohnungen umgebaut. In eines der Gebäude ist die Lebenshilfe mit einem Pflegedienst eingezogen. Daneben hat eine KiTa eröffnet. Brakel zählt mit den eingemeindeten Dörfern 13.700 Einwohner. In der Kernstadt sind es rund 7.000. Kleinschmidt sieht da auch die Grenzen seiner Möglichkeiten: Für den Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel braucht der die Nachbargemeinden, den Landkreis sowie Geld von Land und Bund. Auch „die Gewässer hören nicht an den Stadtgrenzen auf“. So benötigt er für deren Schutz auch die Nachbarn. Außerdem begrenzen die Landes- und Bundesgesetze das Engagement. Bei Ausschreibungen muss die Stadt den „wirtschaftlich günstigsten“ Anbieter berücksichtigen. So gehen städtische Aufträge oft an den billigsten, statt an den ökologisch und sozial nachhaltigsten Anbieter.
Leerstand und Neubauten
Ein Zeichen einer gemeinwohlorientierten Gemeinde dreht werktags und nachmittags seine Runden durch die Kernstadt. Viel ist an diesem Winter-Nachmittag im Bürgerbus nicht los: Drei, vier Fahrgäste, zumeist ältere Menschen, die zum Arzt oder zum Einkaufen fahren. 1,40 Euro kostet die Fahrt in die Stadt. Wer mag, füttert zusätzlich das Sparschwein am Einstieg mit Trinkgeld für die ehrenamtlichen Fahrer. Eine Mitfahrerin überlegt, was Gemeinwohlökonomie wohl bedeuten könne. „Irgendwas Soziales“, vermutet sie und nennt die Brakeler Tafel der Caritas als Beispiel, die hier Tischleindeckdich heißt, und natürlich den Bürgerbus.
Fahrer und Ex-Rathaus-Mitarbeiter Peter Frischemeier bittet um Geduld mit der Gemeinwohlökonomie: Es dauere noch ein wenig, bis diese im Stadtbild sichtbarer werde.