Wie Kolonialherren im 19. Jahrhundert sitzen zwei Mächte zusammen, um über das Schicksal eines kleineren Landes zu entscheiden. Die Ukraine steht jäh politisch vor den schwierigsten Wochen und Monaten des Krieges, pünktlich zum dritten Jahrestag.
Es wäre keine Übertreibung, zu sagen, dass sich das Team des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in den letzten Monaten Tag und Nacht darum bemühte, gute Beziehungen zur Umgebung des neuen US-Präsidenten Donald Trump zu etablieren. Es reiste Delegation auf Delegation auf Delegation in die USA, Selenskyj und sein mächtiger Stabschef Andrij Jermak, faktischer Chefunterhändler mit Washington, verpassten keine Möglichkeit, Trump als „starken Leader“ zu bezeichnen. Auch waren zwei Aspekte des noch vor der Wahl im November vorgestellten sogenannten „Siegesplanes“ Selenskyjs offensichtlich explizit auf den 47. US-Präsidenten ausgerichtet: gemeinsame Förderung der ukrainischen Bodenschätze sowie die potenzielle Möglichkeit, amerikanische Truppen in Europa teilweise zu ersetzen.

Grobe Fehler hat die ukrainische Staatsführung nicht gemacht – und selbst absurdeste Aussagen zur Ukraine aus dem Trump-Lager ignoriert. Auch hat man die Rhetorik in Bezug auf den russischen Angriffskrieg entsprechend angepasst. Lange vor dem Wahlsieg Trumps hörte Selenskyj damit auf, von der Notwendigkeit der militärischen Rückeroberung von allen besetzten Gebieten innerhalb der aktuellen Kampfhandlungen zu sprechen. Seit November war dann nur noch vom „gerechten Frieden“ sowie vom „Frieden durch Stärke“, dem angeblichen Lieblingskonzept des US-Präsidenten, die Rede. Das Kalkül dahinter: Während Gesprächskontakte zwischen Washington und Moskau als unvermeidlich galten, wollte die Ukraine ihre Verhandlungsbereitschaft Trump gegenüber explizit signalisieren. Diese Strategie schien eine Weile lang zu funktionieren. Der alte neue Herr des Weißen Hauses sprach selbst zwischenzeitlich davon, die Ukraine sei verhandlungsbereit.
Doch spätestens seit der Münchner Sicherheitskonferenz und seit sich Kyjiw weigerte, auf Druck Washingtons ein inakzeptables Abkommen zu ukrainischen Bodenschätzen zu unterschreiben, schlagen die USA neue Töne an. Wolodymyr Selenskyj, ein „mäßig erfolgreicher Komiker“, dessen Umfragewerte angeblich bei vier Prozent liegen sollen (aktuell: 57 Prozent), sei ein „Diktator ohne Wahlen“ (die in der ukrainischen Verfassung während des Kriegsrechts nicht vorgesehen sind), der den Krieg deswegen fortsetze, „um sich zu bereichern“. Würden solche Worte vom Kremlherrscher Wladimir Putin stammen, würde sich niemand wundern. Denn es handelt sich um typische falsche Kremlnarrative, an die man sich gewöhnt hat. Sie stammen aber vom US-Präsidenten Donald Trump, dem Staatsoberhaupt des wichtigsten Unterstützerlandes der Ukraine, der dieser zudem nachsagte, für den Krieg verantwortlich zu sein und diesen quasi selbst begonnen zu haben.
Kuschelkurs von Trump und Putin
Vor dem Amtsantritt Trumps haben die meisten Ukrainer mit leichtem Zweckoptimismus auf seine Präsidentschaft geschaut. Die Umfragen zeigten in der Summe keine Riesenhoffnungen, aber eben leichten Optimismus, dass sich vielleicht etwas zum Besseren verändert und das Kriegsende irgendwie doch näher sein könnte als gedacht. Bereits das Trump-Putin-Telefonat hat die Ukraine geschockt. Und zwar nicht dessen Tatsache: Dass es dieses geben wird, war im Voraus klar. Dabei ist auch das Telefonat an sich ein Skandal sowie ein Epochenbruch. Denn die Vorgängeradministration um Joe Biden hat nicht einfach so, sondern als Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine direkte Kontakte mit Putin eingestellt. Seither hat sich nichts verändert: Russland führt seinen brutalen Krieg tagtäglich weiter. Alleine das bilaterale Telefongespräch war daher eine Belohnung seitens der USA für die russische Aggression.

Was man jedoch in Kyjiw und Umgebung doch nicht erwartet hat: Dass auf einmal die schlimmsten Befürchtungen wahr werden könnten. Dass Trump wirklich zuerst mit Putin telefoniert und Selenskyj im Nachhinein über dieses Gespräch lediglich informiert. Dass der Präsident der wichtigsten Demokratie, der Großmacht Nummer eins der Welt, nicht einmal in der Lage ist, die russische Aggression rhetorisch zu verurteilen und Russland als Aggressor zu bezeichnen. Dass er den 2019 demokratisch gewählten Präsidenten als „Diktator“ bezeichnet, ohne Ähnliches über Putin zu sagen, der seit 25 Jahren zunehmend totalitärer regiert und Wahlen fälschte. Dass in Saudi-Arabien ein hohes amerikanisch-russisches Treffen stattfindet, während in München das Gespräch zwischen Selenskyj und US-Vizepräsident JD Vance davon abhängig gemacht wird, ob die Ukraine das fragwürdige Abkommen zu Bodenschätzen kurzfristig unterschreibt. Eine Erpressung.
Es ist eine lange Liste von Dingen, die so nicht hätten stattfinden dürfen – und trotzdem eine neue Realität nach drei Jahren des zähen Angriffskrieges darstellen. Abseits von Wortgefechten ist zwar eigentlich noch nichts passiert: Pakete der Militärhilfen, denen Joe Biden zustimmte, werden weiterhin geliefert, die Militärunterstützung für die Ukraine wurde nicht gestoppt – noch nicht. Doch in dieser Realität sehen sich die USA nicht als Unterstützer der Ukraine, sondern als Vermittler zwischen Kyjiw und Moskau. Wobei die Vorgehensweise Washingtons sich bisher weniger einer echten Vermittlung und mehr dem Zwang der schwächeren Ukraine zu inakzeptablen Zugeständnissen ähnelt. Vom „besten Verhandlungsführer auf dem Planeten“, wie Trump neulich von Verteidigungsminister Pete Hegseth lobgepriesen wurde, ist nicht viel zu spüren.
Weiter im Dialog mit Washington
Selenskyj und die gesamte ukrainische Diplomatie stehen vor einer schweren Herausforderung. Eigentlich haben sie sich mit Blick auf Trump nichts Grundsätzliches vorzuwerfen. Aufgrund der Abhängigkeit von den US-Waffen ist Kyjiw aber gezwungen, eine möglichst vorsichtige Strategie zu fahren, während man Trumps Ausführungen aber auch nicht völlig unkommentiert stehen lassen darf. „Nach dem Wahlsieg Trumps entschied sich die Ukraine für den Ansatz des Dialogs – in der Hoffnung, dass man ihn davon überzeugen kann, von seiner skeptischen Rhetorik uns gegenüber abzurücken“, kommentiert Sicherheitsexperte Mykola Beleskow vom Nationalen Institut für strategische Studien, welches auch die Regierung berät. Die letzten zwei Wochen hätten jedoch klar gezeigt: Diese Strategie habe ihre Grenzen.

„Die Rhetorik Donald Trumps zur Entstehung des Konflikts ähnelt der Russlands“, konstatiert Beleskow. „Ohne dass man es besonders versucht zu verbergen, bietet man uns an, erneut zum heiligen Opfer zu werden, auf dessen Kosten man mit Moskau verhandeln wird.“ Und zwar auf Kosten der ukrainischen Sicherheit und Souveränität. Nun sollte die ukrainische Politik auf drei Aspekten basieren, glaubt der Analytiker. „Wir müssen die Möglichkeiten eines Dialogs mit den USA aufrechterhalten, sofern Washington bereit ist, unsere Interessen zu berücksichtigen. Wir müssen weiterhin Prinzipientreue zeigen, wenn unsere Sicherheit und Souveränität es erfordern. Und wir müssen eine Koalition derjenigen aus allen Ländern der Welt aufbauen, die bereit sind, uns weiterhin zu unterstützen.“
Trotzdem sind es überwiegend düstere Perspektiven für das Land, das seit drei Jahren einer unprovozierten Aggression einer Nuklearmacht ausgesetzt ist. Zumal Russland an der Front trotz der ukrainischen Operation in der russischen Kursk-Region seit Oktober 2023 die strategische Initiative behält. Ein größerer Durchbruch ist den russischen Streitkräften unverändert nicht gelungen. Der drohende Fall der logistisch wichtigsten Stadt Pokrowsk in der Region Donezk würde für die Russen die Möglichkeit eröffnen, über Offensiven in Richtung der Großstädte Dnipro und Saporischschja nachzudenken. Die sensible Mobilisierungsproblematik, die immer mehr Menschen ohne Militärhintergrund betrifft, ist ein schwieriges Thema innerhalb der ukrainischen Gesellschaft. Hinzu kommen Stromausfälle aufgrund der ständigen russischen Luftangriffe, sowie die immer schwierigere Wirtschaftslage.
Kritik an Selenskyjs Politik

Daher war es nicht besonders überraschend, dass eine Anfang Februar erhobene Umfrage des Kyjiwer Inernationalen Instituts (KIIS) erstmals während der großangelegten russischen Invasion zeigte: Mehr Menschen sind mit der Richtung zufrieden, in die sich die Ukraine entwickelt, als umgekehrt (46 Prozent zu 38 Prozent). Doch wenn es an Trumps rhetorischen Angriffen gegen Selenskyj etwas Gutes geben sollte, dann haben sie zumindest ein Stück von der politischen Einigkeit zurückgebracht, die kurz nach dem russischen Großüberfall herrschte. Denn zwar sind Selenskyjs Vertrauenswerte gerade für die dynamische ukrainische Politik vergleichsweise gut, obwohl er eine potenzielle Stichwahl gegen den beliebten Ex-Befehlshaber und heutigen Botschafter in London, Walerij Saluschnyj, verlieren würde: 52 Prozent waren es, ebenfalls laut KIIS, im Januar, 57 Prozent sogar im September. Sicherlich weit entfernt von den rund 90 Prozent im Frühjahr 2022. Auch ist es in der Ukraine längst kein Tabu mehr, den Präsidenten direkt – und nicht nur etwa sein Team – zu kritisieren.
Nun aber erhält Selenskyj wieder größere Rückendeckung von der Opposition im Parlament sowie im Allgemeinen von jenen Teilen der Gesellschaft, welche ihn seit seinem Wahlsieg 2019 kategorisch ablehnten. „Trump hat Präsident Selenskyj massiv in die Hände gespielt. Wann auch immer Wahlen stattfinden würden: Für Selenskyj würden viel mehr Menschen als zuvor abstimmen“, schreibt etwa Oleksij Dawydenko, bekannter Untenehmer und Blogger, der eher zum Lager des politischen Erzrivalen des Präsidenten, seines Vorgängers Petro Poroschenko, gehört. Niemand habe das Recht, den amtierenden Präsidenten der kriegsführenden Ukraine zu beleidigen und zu demütigen. „Ob Selenskyj gut oder böse ist: Er hat uns weder am 24. Februar 2022 noch in München verraten.“

Tatsächlich hat der ukrainische Präsident auch mit seiner Rede in München von einigen seiner politischen Gegner Zuspruch erhalten. Die Art und Weise, wie Selenskyj in der aktuellen internationalen Lage für ukrainische Interessen kämpft, bringt ihm Sympathien. Doch ob er innenpolitisch alles für die politische Einigkeit unternimmt, deren Wichtigkeit er stets betont, ist zumindest fraglich. Denn genau an dem Abend, an dem Trump und Putin telefonierten, geschah etwas, was unter anderen Umständen eine Riesennachricht gewesen wäre: Der von Selenskyj angeführte Sicherheitsrat des Landes verhängte Sanktionen gegen Poroschenko – wegen des angeblichen „Hochverrats“ und der „Finanzierung des Terrorismus“.
Konkret geht es überwiegend um den vermeintlichen Kohlehandel mit den sogenannten prorussischen Separatisten in Donezk und Luhansk in den ersten Jahren des ursprünglichen Donbass-Krieges. Fragwürdig sind Sanktionen gegen eigene Staatsbürger, die nun vor allem Poroschenkos Wirtschaftstätigkeit massiv einschränken, sowieso. Denn eine Ermittlung des Staatlichen Ermittlungsbüros, einer Art ukrainisches FBI, findet seit Jahren statt – und es gibt schließlich Gerichte. Außerdem geht von Poroschenko, obwohl formell Oppositionsführer im Parlament, keine politische Gefahr für Selenskyj aus. Der Ex-Präsident mag in der einen oder anderen nichtöffentlichen Umfage auf Rang drei liegen. Jedoch weit abgeschlagen und chancenlos hinter Selenskyj und dem Ex-Befehlshaber Saluschnyj.
Damit würde Selenskyj politisch nur Poroschenko in die Hände spielen, meinten selbst viele regierungsnahe Kommentatoren im Voraus. Dennoch wurde der Schritt getan. Vielmehr Sinn als bloße Rache bringt dieser nicht, zumal sich Selenskyj und Poroschenko tatsächlich gegenseitig hassen – und auch der Letztere sich durchaus politische Schläge weit unter der Gürtellinie gegenüber dem heutigen Präsidenten erlaubte. Doch während Selenskyj nach außen trotz der Kompliziertheit der Lage souverän auftritt, steht nicht hinter jeder seiner innenpolitischen Entscheidung etwas, was die Ukraine gerade jetzt weiterbringt.