Rund 3.000 Nachtigallen leben in Berlin. Ein Forschungsprojekt und eine Ausstellung im Naturkundemuseum widmen sich ihnen und anderen Zugvögeln.
Auch Ornithologen scherzen. „Unter Vogelexpertinnen und -experten kursiert ein Witz: Wohin schickt man jemanden, der nach Deutschland kommt, um hier die Vogelwelt kennenzulernen?“, fragt Caroline Ring. Und gibt die Antwort: „Na klar, nach Berlin. Nicht in den Bayerischen Wald, nicht in den Harz und auch nicht ins Untere Odertal.“ Es gebe nämlich „wenige Orte hierzulande, wo man auf so kleiner Fläche so viele verschiedene Vogelarten beobachten kann“ wie in der Hauptstadt.
Caroline Ring ist selbst keine studierte Ornithologin, also keine Vogelkundlerin. Aber für eins ihrer Bücher hat die Evolutionsbiologin sich Expertinnen und Experten gesucht, um herauszufinden, „was Vögel in Städten erzählen“. So lautet auch der Untertitel ihres im Berlin-Verlag veröffentlichten Buchs „Wanderer zwischen den Welten“. Rund zwei Drittel aller in Deutschland vorkommenden Vogelarten lassen sich in Berlin finden, hat Ring bei der Recherche festgestellt. Großstädte wie Hamburg, München und Köln seien ähnlich artenreich.
Städte sind ein guter Ort für Vögel
„In unserer Zeit sind Städte zu Inseln der Vielfalt geworden. Ein Meer von Monotonie umgibt sie“, zitiert die Biologin den bayerischen Zoologen Josef Reichhol. Mit diesem Meer meint er die großen Flächen, auf denen im ländlichen Raum Monokulturen angebaut werden. „Rapsfelder und Fichtenforste sind für Vögel und andere Tiere regelrechte Wüsten, in denen sie weder Futter noch Nistplätze finden. Nicht alles, was grün ist, ist auch gut. Und nicht alles, was brach liegt, ist automatisch schlecht“, erklärt Caroline Ring dazu. Als Städterin oder Städter müsse man gar nicht raus aufs Land, wenn man Sehnsucht nach der Tierwelt hat. „Die Natur und das wilde Leben, nach denen wir uns sehnen und die wir so gerne suchen, liegen oft gleich um die Ecke“, weiß sie.
Die Vogelwelt sei in den großen Städten nicht nur besonders vielfältig, sie verändere sich in ihnen auch mehr als anderswo. „Wie unter dem Brennglas kann man dort beobachten, was es bedeutet, wenn der Mensch seine Umwelt formt“, sagt Caroline Ring. Menschen hinterlassen Müll. Einigen Tieren, dient er als Nahrung, was ihre Entwicklung beeinflusst. Und Vögel sind den Städten die Wildtiere, denen man am häufigsten begegnet.
Unter allen Vögeln steht einer für Caroline Ring ganz besonders für die Hauptstadt: „Berlin schläft nie. Welcher Vogel passt also besser zu dieser Stadt als einer, der vor allem nachts singt? Hätte Berlin einen Wappenvogel, wäre es die Nachtigall.“ Das ist aus ihrer Sicht kein Zufall. In Berlin werden zwar „keine speziellen Maßnahmen zum Anlocken oder zum Schutz von Nachtigallen getroffen“. Dafür hätte die Stadt, die mal mit dem Slogan „Arm, aber sexy“ kokettierte, auch gar kein Geld. „Und doch sind die Vögel in großer Zahl hier, nicht nur wegen des vielen Grüns. Städte wie Hamburg, Dortmund oder Stuttgart weisen sogar einen noch höheren Grünanteil auf. Wahrscheinlich ist eher die Kombination aus viel Grün und wenig Geld für die Nachtigallen ideal“, hat sie bei Streifzügen in der Nacht und am frühen Morgen mit Expertinnen und Experten erfahren.
Dadurch, dass der Berliner Senat und die Bezirksverwaltungen nicht genug Geld haben, um alle Grünanlagen wie klassische englische Parkanlagen zu pflegen, entstehen „zahlreiche relativ naturnahe Grünflächen“, sagt Caroline Ring und formuliert es poetisch: „Brennnesseln wuchern am Wegesrand zwischen Büschen empor. Knallerbsensträucher verlieren jegliche Form, falls sie überhaupt je eine hatten. Altes Laub harkt niemand weg. Hainbuchenhecken drücken sich durch Zäune. An den Böschungen der Bahnstrecken türmen sich Brombeeren zu meterhohen Burgen. Und zwischen Autospuren sind, als kläglicher Versuch, wenigstens ein bisschen Ordnung ins Chaos zu bringen, in schön regelmäßigen Abständen karge Bäumchen gepflanzt. Nachtigallen lieben all das.“
Aus Caroline Rings Sicht ist Berlin die Hauptstadt der Nachtigallen – weltweit. Sie begründet diese Einschätzung so: Zwischen Ende April und Ende Mai könne man „vermutlich nirgendwo mehr Nachtigallen singen hören als in Berlin“. Der Gesang sei herzerwärmend, denn „unverzagt“ singe die Nachtigall gegen die Dunkelheit an, um eine Partnerin zu finden. „Ihre Lieder sind ausdauernd, selbstbewusst und wagemutig. Nachtigallen klingen, als würden sie niemals so ohne Weiteres einem Konkurrenten das Feld überlassen. Sie geben immer alles. Ihr Gesang im Frühjahr symbolisiert romantische Liebe, Heimlichkeit und Sehnsucht“, schwärmt die Autorin.
Eine der Nachtigall-Fachfrauen, mit denen Caroline Ring unterwegs war, ist Kim Mortega. Sie ist Forscherin im Berliner Naturkundemuseum. Dort gibt es das „Citizen-Science-Project Forschungsfall Nachtigall“, also ein Projekt, bei dem die Forscherinnen und Forscher nicht unter sich bleiben, sondern Bürgerinnen und Bürger einbeziehen. „Berlin ist die Hauptstadt der Nachtigallen“, sagt auch Silke Voigt-Heucke, die Leiterin von „Forschungsfall Nachtigall“. Im Rahmen des Projekts sind mithilfe von Hobby-Vogelkundlern bereits über 7.000 Nachtigall-Gesänge aus 14 europäischen Ländern gesammelt, also aufgenommen worden.
Bürger helfen bei der Forschung
„Lautes Schluchzen, Pfeifgeräusche und ein schlagender Trill“ – der Nachtigall-Gesang sei in seiner Struktur und Variabilität unverwechselbar, sagt Silke Voigt-Heucke. Mit einem automatischen Mustererkennungs-Algorithmus identifiziert die im Projekt eingesetzte App den Gesang. „Bürgerforschende“, wie die Wissenschaftlerinnen es formulieren, können damit den Gesang aufzeichnen und anschließend mit automatischer Orts- und Zeitangabe an die „Forschungsfall Nachtigall“-Datenbank schicken – auf Wunsch auch anonym. Anhand der Ortsangaben untersuchen die Forschenden des Teams dann, ob die Nachtigallen anderswo wirklich anders singen als die Berliner Vögel.
Über 1.500 meist Berlinerinnen und Berliner haben bereits die Liebeslieder der in der Hauptstadt vorkommenden Nachtigallen dokumentiert. Deutschlandweit kamen Daten von über 2.000 Menschen beim Berliner Forschungsteam an. „So kamen über 1.500 neue Strophentypen zu dem bisher wissenschaftlich bekannten Gesangsrepertoire hinzu, das die Liebeslieder der Nachtigall-Männchen ausmacht: Im Durchschnitt haben sie ein Repertoire von 190 individuellen Strophentypen“, teilt das Naturkundemuseum dazu mit.
Die etwa 3.000 Berliner Nachtigallen leben meist in Parkanlagen. „Als Bodenbrüter mögen sie dichte Büsche mit liegen gelassenem 0Laub zum Bauen des Nests. Überpflegte, aufgeräumte Gärten meiden sie“, wissen die Profi-Forscherinnen. Eine Hobby-Forscherin, die dem Team einiges an Material zur Verfügung gestellt hat, lieferte auch „einen Geheimtipp“ mit: „Am besten in der Nähe von dichtem, schwer zugänglichem Gebüsch suchen. Ich empfehle, sich nachts auf dem Heimweg mit dem Fahrrad durch die Stadt treiben zu lassen. Am Platz der Luftbrücke stieß ich auf ein Nachtigall-Männchen, das sein Lied anstimmte.“
Im Frühjahr wird Kim Mortega, die Expertin, mit der auch die Autorin Caroline Ring unterwegs war, wohl wieder zu nächtlichen Nachtigallen-Führungen einladen. Diese Exkursionen werden dann wie bisher vom Naturkundemuseum organisiert. Nun verlassen die Nachtigallen Berlin nämlich zunächst einmal in Richtung Afrika. Denn Nachtigallen sind Zugvögel. „Die Nachtigallen, die man in Berlin singen hört, verbringen ihren Winter an verschiedenen Orten in Ghana, wie Daten zeigen“, erklärt Caroline Ring.
Die Nachtigall, aber auch viele andere Arten, spielt auch in einer Sonderausstellung des Naturkundemuseums eine Rolle: „ZUGvögel“ heißt sie und zeigt einen Teil der rund 11.500 historischen Vogelpräparate, die im Besitz des Museums sind. „Weltweit gibt es etwa 11.000 verschiedene Vogelarten und sechsmal so viele Vögel wie Menschen auf der Erde. Sie besiedeln nahezu alle Gebiete und verfügen über erstaunliche Eigenschaften“, erklärt Gesine Steiner vom Museum. Die meisten der in der Ausstellung versammelten Vögel sind älter als 100 Jahre, einige sogar älter als das Museum selbst.