Die Mobilität der Zukunft erfordert mehr als technische Innovationen oder ein breiteres Liniennetz. Kurze Wege, effizienter Nahverkehr und nachhaltige Infrastrukturen müssen von Beginn an in die Stadt- und Raumplanung integriert werden. Doch wie kann das gelingen?
Das alte Bahngelände nordwestlich der Leipziger Innenstadt ist längst geräumt. Nur fünf denkmalgeschützte Gebäude stehen noch. Wo einst die Ladestraßen, Anschlussgleise und Lagerschuppen eines Freiladebahnhofs standen, weht der Wind über karge Böden, vertrocknetes Gras und Sträucher. Mit 25 Hektar ist das Areal drei Mal so groß, wie die Fläche des Leipziger Hauptbahnhofs, der nur wenige Gehminuten entfernt ist. Ein ungeschliffenes Juwel mitten in der Stadt, auf dem schon bald ein neues Stadtviertel unter dem Namen „Leipzig 416“ entstehen soll. Rund 2.400 Wohnungen, 100.000 Quadratmeter Gewerbefläche, Arztpraxen, Gastronomie, Kindergärten, Sportanlagen, Schulen, Supermärkte. „Die Fläche ist so groß, dass ich in der Mehrzahl reden muss“, sagt Projektleiter Steffen Hebestreit, 42. Ein vergleichbares Areal sei in Europa schwer zu finden. „Wir haben hier die Chance, von Beginn an alles perfekt anzubinden, ohne große Infrastrukturmaßnahmen im Umfeld vornehmen zu müssen.“
Schlüsselkonzept der Klimapolitik
„Umweltschonende Mobilität, lärmarm, grün, kompakt und durchmischt – so sieht die Stadt für Morgen aus“ – schreibt das Umweltbundesamt auf seiner Homepage. Doch was müssen Kommunen tun, um den Energieverbrauch, die Luftverschmutzung, den Lärm und die CO₂-Emissionen zu reduzieren? Welche Verkehrs- und Transportlösungen minimieren negative Auswirkungen auf die Umwelt? Das Schlüsselkonzept der Klimapolitik: die Verkehrswende. Sie markiert einen tief greifenden Wandel, der weit über den Umstieg auf Elektroautos oder einer engeren Taktung des Busfahrplans hinausgeht.
Die Art und Weise, wie Menschen sich fortbewegen und Städte gestalten, soll neu gedacht werden – weg vom Individualverkehr mit Autos hin zu einem nachhaltigen, umweltfreundlichen Verkehrssystem. Neue Mobilitätskonzepte setzen auf klimafreundliche Antriebe, eine bessere Vernetzung des öffentlichen Nahverkehrs und die Förderung von Fahrrad- und Fußverkehr. Im Zentrum steht die Idee der kurzen Wege: Arbeit, Wohnen, Freizeit – alles soll näher zusammenrücken und durch nachhaltige Verkehrsmittel nahtlos miteinander verknüpft werden. Das Ziel: Ein Mobilitätssystem, das nicht nur effizient, sondern auch umweltfreundlich und sozial gerecht ist.
Eine Mammutaufgabe, so nennt das Bundesministerium für Digitales und Verkehr die Mobilitätswende. Aber eine, die sich nicht nur für die Umwelt, sondern auch für die Städte und Kommunen lohnen kann. „Eine gute und integrierte Verkehrsplanung macht Städte – egal ob groß oder klein – attraktiv“, sagt Anne Klein-Hitpaß, 48, Leiterin des Forschungsbereichs Mobilität am Deutschen Institut für Urbanistik. „Und attraktive Städte ziehen qualifizierte Arbeitskräfte an.“ Die hohen Kosten für die Verkehrswende würden sich also über kurz oder lang amortisieren. Trotzdem zögern viele Kommunen. „In den seltensten Fällen scheitert es am Geld“, sagt die studierte Geografin, die als Verkehrsforscherin arbeitet. „In den vergangenen Jahren gab es viel Förderung und Unterstützung für Kommunen, um nachhaltige Mobilitätsprojekte umzusetzen.“
Was hingegen oft fehle, sei der politische Wille und die Kraft, gegen Widerstände anzukämpfen. „Wenn Parkplätze zugunsten von Radwegen wegfallen, regt sich schnell Widerstand in der Bevölkerung“, sagt Klein-Hitpaß. Proteste, Konflikte, Kontroversen – das müsse man aushalten können. Zusätzlich würden lineare und oft starre Verwaltungsstrukturen und der Personalmangel in Ämtern und Behörden die Verkehrswende weiter ausbremsen. Abseits davon: Ein zentraler Fehler vieler Städte und Kommunen sei jedoch, dass sie den Siedlungsbau und den Verkehr nicht zusammen planen. „Oft werden zuerst die Wohngebiete ausgewiesen. Um die Anbindung an den öffentlichen Verkehr kümmern sich die Verantwortlichen – auch aufgrund langer Planungszeiten – meist zu spät.“ Das habe große Auswirkungen auf die Mobilitätsentscheidungen der Menschen. „Wenn ich eine U-Bahn-Station oder eine Bushaltestelle vor der Tür habe, ist das eine Mobilitätsoption, die ich beim Umzug in meine Alltagsplanungen einbeziehen kann. Soll sie erst in drei Jahren kommen und fehlt ihnen diese Option, kann es dazu führen, dass sich die Menschen erst mal ein Auto kaufen.“
Für das Gelände des alten Freiladebahnhofs in Leipzig sind die Planungen bereits abgeschlossen. Mit überwältigender Mehrheit hat der Stadtrat im Juli 2023 den städtebaulichen Vertrag sowie den Bebauungsplan für das Projekt Leipzig 416 beschlossen. Bis Ende der 2020er-Jahre soll ein autoarmes und als Schwammstadt konzipiertes Quartier entstehen, in dem es nicht nur vielfältige Mobilitätsangebote gibt, sondern auch eine nachhaltige Regenwasserbewirtschaftung und Energieversorgung.
Leider nicht komplett autofrei
Der größte Vorteil des Areals: Da es mitten in der Stadt liegt, ist die Anbindung an den ÖPNV durch bestehende Haltestellen im Umfeld bereits gedeckt. „Wir müssen also keine Straßenbahn mehr durch das Gelände legen“, sagt Steffen Hebestreit, der am Morgen selbst mit der Straßenbahn angereist ist. „Das spart viel Zeit.“
Jede Straße, jeder Parkplatz, sogar jeder Baum, der gepflanzt werden soll, ist im städtebaulichen Vertrag festgehalten. „An drei bis vier dezentralen Mobilitätsstationen gibt es neben Fahrplanauskünften auch Informationen zu Car-Sharing-Angeboten und Fahrradverleihs in der Umgebung“, sagt Steffen Hebestreit. An kleinen Stromtankstellen können Elektrofahrzeuge aufgeladen werden. „Es ist viel leichter die Elektromobilität im Vorfeld zu planen, als in bestehende Quartiere, in denen vorhandene Straßenzüge für die Stromanbindung aufgerissen werden müssen“, sagt Hebestreit. Auch zwei Parkhäuser soll es geben. „Ich hätte mir gewünscht, dass das Quartier komplett autofrei ist“, sagt der Projektleiter. Doch die Stadt hatte Angst, dass die Bewohner ihre Fahrzeuge dann in den angrenzenden Straßen außerhalb des Quartiers parken, in denen Parkplätze sowieso schon knapp sind. Steffen Hebestreit schüttelt den Kopf. „Wer hierherzieht, sucht sich den Standort inmitten der Stadt doch aus, damit er kein Auto braucht“, sagt er.
Doch der Architekt hat erst Anfang vergangenen Jahres die Projektleitung übernommen. Da war die Entscheidung für ein Quartier, das autoarm aber nicht autofrei ist, längst gefallen. „Das Parken im öffentlichen Raum wird für Besucher aber auf ein Minimum reduziert“, sagt der Projektleiter. Ein Parkhaus ist geplant. Stellplätze am Straßenrand soll es allerdings kaum geben. Wer zu Besuch kommt, soll lieber die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, zu Fuß kommen oder das Rad nehmen.
Die Parkraumbewirtschaftung spielt eine entscheidende Rolle bei der Verkehrswende. Doch wer höhere Parkgebühren einführt oder Parkplätze reduziert, muss parallel dazu alternative Mobilitätsformen fördern, rät Verkehrsexpertin Klein-Hitpaß. „Restriktive Push- und angebotsseitige Pull-Maßnahmen müssen kombiniert werden.“ Wenn man die Nutzung des motorisierten Individualverkehrs erschwere, müsse man den Bürgerinnen und Bürgern im Gegenzug etwas anbieten. „Sonst fühlen sich die Menschen schnell bevormundet oder sprechen von einer Verbotskultur.“ Wer die Parkgebühren erhöht, aber gleichzeitig mehr Optionen im öffentlichen Raum schafft und das Radwegenetz ausbaut, schafft mehr Akzeptanz in der Bevölkerung, sagt die Expertin. In Marburg wurde beispielsweise eine Prämie für nachhaltige Mobilität eingeführt. Wer das Auto abmeldet, erhält Mobilitätsgutscheine für Car Sharing und Einkaufsgutscheine für den lokalen Einzelhandel. „Das bringt Menschen zum Nachdenken über ihre eigene Mobilität und auch zum Erproben, ob es anders geht.“
Viele deutsche Großstädte sind in Sachen klimagerechte Mobilität schon ganz gut unterwegs, findet die Expertin, genauso wie einige kleine und mittelgroße Städte in Deutschland. Der Wandel sei vielerorts im Stadtbild erkennbar. Es gebe mehr Mobilitätsoptionen durch Car-Sharing-Angebote und E-Roller, mehr Platz für Radfahrende im Stadtverkehr. An weitreichenden Mobilitätskonzepten für die Verkehrswende mangele es den Städten und Kommunen meist nicht. „Diese übergeordnete Strategie, die zentral für das Gelingen ist, muss aber nicht in ein zu enges Korsett geschnürt werden“, sagt Klein-Hitpaß. Einzelne Maßnahmen könnten priorisiert werden. „Wenn es gerade Fördermittel für Fahrradabstellanlagen gibt, ist es natürlich gut zuzugreifen, auch wenn die Maßnahme erst für einen späteren Zeitpunkt geplant ist.“ Eine Politik der kleinen Schritte, nennt es die Expertin. „Oft sind viele kleinere Projekte leichter durchzusetzen.“
Machbar und sinvoll muss es sein
Doch manchmal gelingt auch der große Wurf. Am Rheinufer in Düsseldorf wurde die Bundesstraße, die die Innenstadt vom Rhein abgrenzte, bereits in den 1990er Jahren unter die Erde verlegt. In Utrecht wurde eine Stadtautobahn abgerissen und ein 900 Jahre alter Kanal neu angelegt. Wo einst mehrspurige Straßen den Raum prägten, sind heute Grünflächen, Flaniermeilen und Bustrassen. Fehler aus der Vergangenheit wurden korrigiert, urbane Räume neu gestaltet. Die Rückeroberung dieser Flächen durch Fußgänger, Radfahrende und den öffentlichen Nahverkehr zeigt, wie durchdachte Stadtplanung eine positive Wirkung auf das Stadtbild und die Lebensqualität haben kann.
Doch ob Maßnahmen machbar und sinnvoll sind, zeigt sich oft erst, wenn sie erprobt werden. Nicht jede Simulation lässt sich auf das reale Leben übertragen. In Dresden sollte im Frühjahr am Blauen Wunder die Situation für Radfahrende verbessert werden. Die Stadt ließ Radwege markieren, eine Linksabbiegerspur für den motorisierten Verkehr fiel dadurch weg. Der Verkehrsversuch scheiterte medienwirksam und unter den Augen aller. Der Oberbürgermeister sprach von „dramatischen Auswirkungen“ auf den morgendlichen Berufsverkehr und brach den Versuch nach knapp drei Wochen ab. Eine neue Lösung ist nicht in Sicht.
Doch neue Lösungen braucht es, davon ist Projektleiter Hebestreit in Leipzig überzeugt. „Die Frage muss immer lauten: Wo fühlen Menschen sich wohl, und warum ist das so?“, sagt er. Viele Ruhrgebietsstädte seien ein schlechtes Beispiel und städtebautechnisch eine Katastrophe. „Da gibt es große Industriegelände mitten in der Stadt während Universitäten oder Forschungseinrichtungen am Stadtrand erbaut wurden.“ So entstehe kein Stadtgefüge. „Menschen wollen dort leben, wo Alt und Jung zusammenkommen, wo Leben und Freizeit stattfinden, wo es kulturelle Angebote gibt und Menschen trotzdem schnell im Grünen sind.“ Hannover und Karlsruhe seien gute Beispiele dafür. Und auch Leipzig – eine Stadt der kurzen Wege.
Wann auf dem alten Bahnhofsgelände Baubeginn ist, weiß der Projektleiter noch nicht. Kontaminierte Böden müssen noch abgetragen, eine Gashochdruck- und eine Starkstromleitung aufwendig verlegt werden. Doch das Quartier wird kommen, davon ist er überzeugt. Fest steht: Wenn alles nach Plan läuft, könnte der neue Stadtteil im Zentrum von Leipzig zu einem Vorzeigeprojekt für den Städtebau der Zukunft werden.