Die diesjährige Tour de France wartet auf mit bekannten Favoriten, hat aber im Profil ein paar Überraschungen parat. Gespannt darf man auch sein auf einen deutschen Tour-Neuling.

Im Sport gab es schon die außergewöhnlichsten Comebacks, doch Jan Ullrich wird keine Tour de France mehr fahren. Oder etwa doch? „Es kommt auf das Training an“, sagte der inzwischen 51-Jährige, angesprochen auf die theoretische Möglichkeit, bei einer Etappe der Großen Schleife noch mithalten zu können. Bekäme er 30.000 Trainingskilometer in die Beine, könne er „schon wieder in eine gute Form fahren“, meinte der Gesamtsieger der Tour de France von 1997. Doch eine Rückkehr der nach Doping-Enthüllungen tief gefallenen Radsport-Ikone gilt als ausgeschlossen. Wahrscheinlicher ist da schon ein Tour-Start eines seiner drei Söhne. Zwei von ihnen, der 14-jährige Benno und der zwei Jahre jüngere Toni, sind im Nachwuchsbereich schon positiv in Erscheinung getreten. „Sie sind zwar noch nicht in dem Alter, um Profis zu sein, aber die kommen auch nach“, sagte der gebürtige Rostocker. Lachend ergänzte er: „Ein paar Jahre noch, dann schlägt’s ein.“ Ein Ullrich beim wichtigsten Radrennen der Welt wäre natürlich eine Riesensache. Doch auch die diesjährige 112. Ausgabe der Tour de France vom 5. bis 27. Juli hat es in sich. Der Topfavorit wird gejagt, das deutsche Toptalent steht im Fokus und die Schlussetappe wird diesmal speziell.
Das Streckenprofil
Die 112. Tour de France ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Tour durch Frankreich. Erstmals seit fünf Jahren gibt es keinen Abstecher ins Ausland, die insgesamt rund 3.340 Kilometer werden über drei Wochen komplett in Frankreich absolviert. Der Start mit über 180 Radprofis aus 23 Teams erfolgt in Lille im Nordosten des Landes, bei der Schlussetappe in Paris am 27. Juli dürfte das Peloton deutlich ausgedünnt sein. Neben zwei Zeitfahrten stehen sechs Bergetappen auf dem Programm, bei denen auch die Entscheidung über das Gelbe Trikot fallen dürfte. Das Bergzeitfahren auf der 13. Etappe in den Pyrenäen könnte zum großen Showdown der Tour-Favoriten werden. Insgesamt sind 51.550 Höhenmeter zu überwinden. Vor allem die 18. Etappe zum Col de la Loze mit 5.500 Höhenmetern ist reinste Schinderei für die Fahrer. „Es ist nicht die schwerste Tour aller Zeiten, aber innerhalb dieser Tour gibt es brutal schwere Etappen“, sagte Sportdirektor Rolf Aldag vom deutschen Team Red Bull, „und diesen sehr, sehr technischen Auftakt“. Denn der Wind im Norden Frankreichs hat in der Tour-Geschichte schon für die ein oder andere Überraschung gesorgt.

Außerdem ist die Schlussetappe am 27. Juli diesmal keine reine Ehrenrunde, auf der die Übriggebliebenen entspannt am Sekt nippen können. Der berühmte Montmartre wird dreimal überquert, was zu einer wesentlichen Verschärfung des Renngeschehens führen dürfte. Die begeisternde Stimmung des Olympiarennens im Vorjahr soll auf die Tour übertragen werden. „Die Bilder des olympischen Straßenrennens wirken nach. Was wir dabei im vergangenen Sommer zu sehen bekamen, war außergewöhnlich, unglaublich. Wir sprechen von einem Erbe, dem Erbe der Olympischen Spiele“, sagte Tour-Direktor Christian Prudhomme: „Wir dachten uns: Probieren wir es doch auch mal mit dem Montmartre.“
Die Favoriten
Tadej Pogacar – wer sonst? Nahezu jeder Experte tippt auf den slowenischen Ausnahmekönner, der nach 2020, 2021 und 2024 seinen vierten Tour-Triumph perfekt machen könnte. Auch die Buchmacher sehen den 26-Jährigen mit Abstand als größten Favoriten: Bei einem Einsatz von zehn Euro bekäme man bei einem Pogacar-Sieg lediglich 1,35 Euro als Gewinn ausgezahlt. Der bisherige Saisonverlauf spricht auch nicht gerade dafür, dass es zu einer Wachablösung im Radsport kommen wird. Pogacar zeigte eine beeindruckende Form, die unter anderem zu Siegen bei der Flandern-Rundfahrt und der Strade Bianche führte. Auch mit seinem Gesamtsieg und dem Gewinn der Bergwertung beim Critérium du Dauphiné, der Tour-Generalprobe, unterstrich der Kapitän von UAE Team Emirates seine Ausnahmestellung im Radsport. Er habe „eine atemberaubende Woche“ erlebt, schwärmte der Weltmeister hinterher: „Ich bin sehr glücklich und stolz.“ Sein Vorsprung auf Dauer-Rivale Jonas Vingegaard betrug eine Minute.
Für Rolf Aldag, Sportchef des deutschen Teams Red-Bull-Bora-hansgrohe, sind die Rollen bei der Frankreich-Rundfahrt daher auch klar verteilt: „Pogacar ist der klare Favorit, der Kronprinz ist Jonas Vingegaard.“ Schon mit einem Etappensieg würde Pogacar einen weiteren historischen Meilenstein seiner Karriere setzen: Es wäre sein 100. Sieg als Profi. Damit würde er auf Rang 24 der ewigen Bestenliste vorstoßen. Viele der vor ihm platzierten Fahrer wie Bernard Hinault (146) oder Erik Zabel (149) dürfte Pogacar im Normalfall noch einholen. Selbst die einst für unerreichbar gehaltenen 279 Siege von Rekordhalter Eddy Merckx scheinen nicht mehr ganz so unrealistisch.

Der Däne Vingegaard konnte seinen großen Widersacher 2022 und 2023 bei der Tour besiegen und am Ende das Gelbe Trikot gewinnen. Doch seitdem hat er den Anschluss an den Slowenen ein wenig verloren – auch bedingt durch Verletzungen nach schweren Stürzen. Nach einem Unfall im Baskenland im April 2024 musste der Kapitän des Teams Visma – Lease a Bike gar kurzzeitig um sein Leben bangen. „Es war viel schlimmer, als viele Leute wissen. Letztlich sagt allein die Tatsache, dass ich acht Tage auf der Intensivstation lag, wie schwer es mich erwischt hatte“, sagte Vingegaard rückblickend. Auch in diesem Jahr kam der Pechvogel nicht ungeschoren davon, unter anderem zog er sich beim Rennen Paris – Nizza eine Gehirnerschütterung zu. Anders als Pogacar zeigte sich Vingegaard vor der Tour nicht so oft in Wettbewerben, sondern trainierte lieber unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Der frühere belgische Radfahrer Roger De Vlaeminck (77) wetterte deshalb: „Wofür bezahlen sie ihn das ganze Jahr?“ Doch Vingegaard sieht sich selbst nach zwei zweiten Plätzen in den beiden Vorjahren wieder in Siegform: „Ich glaube, dass meine Stärke die langen und zermürbenden Tage sind und je weiter wir bei einer Grand Tour kommen. Daran müssen wir glauben – und daran, dass wir dort den Unterschied machen können.“
Alle anderen Fahrer besitzen nur Außenseiterchancen auf das Gelbe Trikot des Gesamtsiegers. Sollten die beiden Topstars Pogacar und Vingegaard schwächeln, könnte ihre Stunde schlagen. Remco Evenepoel zum Beispiel macht sich große Hoffnungen, nachdem er bei seiner Tour-Premiere im Vorjahr als Dritter sofort das Podium erobert hatte. Ein Unfall im Winter brachte seinen Formaufbau aber kräftig durcheinander, so wirklich überzeugen konnte der 25 Jahre alte Belgier in dieser Saison noch nicht. „Ihn darf man nicht abschreiben“, meinte der österreichische Ex-Profi Bernhard Eisel dennoch über den Doppel-Olympiasieger von Paris: „Er ist ein Kandidat fürs Podium, auch für die oberste Stufe.“
Der Brite Adam Yates ist als Edel-Helfer von Pogacar vorgesehen. Sein Bruder Simon Yates, der als Sieger des Giro d’Italia jüngst einen großen Coup gelandet hat, soll seinem Kapitän Vingegaard Windschatten spenden. Beide dürften daher als Kandidaten für den Tour-Sieg eher nicht infrage kommen. Mexikos Rad-Hoffnung Isaac del Toro soll nach seinen famosen Auftritten beim Giro d’Italia geschont werden. Und Primoz Roglic? Der Kapitän des deutschen Teams Red-Bull-Bora-hansgrohe hat bei seinen vergangenen drei Tour-Starts die Schlussetappe nicht erlebt, weil er wegen Stürzen vorzeitig aufgeben musste. Die Form des Slowenen macht auch wenig Hoffnung, dass ihm der ersehnte große Tour-Triumph in diesem Jahr gelingt. „Das ist ja nicht schönzureden. Er kommt einfach nicht mehr mit“, sagte Red-Bull-Sportchef Aldag während des Giros, den Roglic gehandicapt nach einem Unfall vorzeitig beenden musste. Noch hat sich die Verpflichtung des inzwischen 35-Jährigen für das Team nicht gelohnt – trotz des Gesamtsieges bei der Spanien-Rundfahrt 2024.
Die deutschen Chancen

Die deutschen Fans haben endlich wieder einen, mit dem sie mitfiebern können: Florian Lipowitz. Der 24-Jährige bewies beim Critérium du Dauphiné mit Gesamtplatz drei und begeisternden Auftritten, dass ihn die Rolle der deutschen Radsport-Hoffnung eher beflügelt als hemmt. „Er kann Berge, er kann Zeitfahren, er kann sich vorne positionieren“, schwärmte auch Jan Ullrich über Lipowitz, der bei Paris – Nizza Zweiter und bei der Baskenland-Rundfahrt Vierter wurde. „Das sind sehr gute Resultate, die hoffen lassen, dass da noch mehr kommt.“ Der Schwabe sei ein „Riesentalent“, meinte Ullrich. Sollte Roglic, der bei Red-Bull-Bora-hansgrohe formal als Kapitän ins Rennen geht, während der drei Wochen schwächeln und Lipowitz starke Beine beweisen, ist ein Machtwechsel innerhalb des Teams nicht ausgeschlossen. Er sehe Lipowitz „intern auf derselben Stufe wie Roglic“, sagte Ex-Profi Rick Zabel. Der Sohn der Sprint-Legende Erik Zabel appellierte an die Red-Bull-Verantwortlichen: „Beschützt den Mann, lasst den nicht arbeiten für Roglic. Verheizt den bitte nicht, sondern gebt ihm eine geschützte Rolle.“
Tour-Debütant Lipowitz selbst kann sich mit der Helferrolle für Roglic (noch) anfreunden. „Er ist der Leader, er ist superstark und hat bewiesen, dass er auch über drei Wochen sehr schnell fahren kann“, sagte der Deutsche über den slowenischen Altstar. Sein Ziel sei es, „ihm in den Anstiegen zu helfen“. Alles andere lasse er erst mal auf sich zukommen. „Die drei Wochen werden hart und stressig, aber ich habe jetzt mehr Selbstvertrauen und freue mich wirklich auf die Tour“, sagte Lipwitz. Lennard Kämna, der bei der Tour de Suisse mit Platz sechs überzeugen konnte, hatte sich Hoffnungen auf eine Teilnahme gemacht, doch nach seinem Traingsunfall im Frühjahr reicht die Fitness noch nicht für die Tour de France. John Degenkolb ist ebenfalls nicht am Start. Der 36-Jährige von Team Picnic PostNL war bei der Flandern-Rundfahrt gestürzt und wurde nicht rechtzeitig fit für den Saison-Höhepunkt.