Ein „Wundernerv“ soll er sein. Ein Nerv mit besten Fähigkeiten. Noch weitestgehend unbekannt, spielt er eine wichtige Rolle für innere Balance und Entspannung.
Besonders eindrucksvoll beschreibt das der Physiologe und Chronobiologe Maximilian Moser: „So wie der Tausendfüßler nicht nachdenken muss, wie er seine bis zu 700 Beine bewegt, müssen wir Menschen, wenn wir gesund sind, nicht nachdenken, wie wir atmen, wie unser Herz schlägt, wie Hormone produziert werden oder unsere Verdauungsperistaltik anläuft.“ All das übernehme unser vegetatives Nervensystem. Der Vagusnerv steuert lebenswichtige Körperfunktionen wie Verdauung, Stoffwechsel, Herzschlag und Atmung, die unabhängig von unserem Willen ablaufen, ganz ohne unser bewusstes Zutun. Deshalb auch autonomes, selbstständiges Nervensystem genannt. Der Vagusnerv ist Teil des vegetativen Nervensystems, genauer: der längste Nerv des Parasympathikus.
Der Vagusnerv sei „ein Wanderer“, folgt man der wörtlichen Übersetzung. „umherschweifender oder vagabundierender Nerv“ heißt er aufgrund seiner lang ausgestreckten Gestalt. Im Unterschied zu den sympathischen Nervenzellen, die sich im Rückenmark im mittleren Bereich der Wirbelsäule befinden, erstrecken sich Tausende von Vagusnervenfasern vom Hirnstamm über den Kopf- und Halsbereich bis in den Bauchraum, zum Magen-Darm-Trakt. Durch seine feinen Verästelungen ist er mit vielen Organen wie der Bauchspeicheldrüse, dem Herzen, der Lunge und den Nieren verbunden und an der Funktion fast jedes inneren Organs beteiligt. Er ist, vereinfacht gesagt, für Erholung, Ruhe und Verdauung zuständig.
Sympathikus und Parasympathikus werden oft als Gegenspieler bezeichnet. Reguliert das sympathische Nervensystem die Organfunktionen in Stresssituationen oder bei Aktivität, sorgt das parasympathische Nervensystem für Entspannungsphasen. Zum parasympathischen, vegetativen Nervensystem zählt zudem auch das Nervensystem des Darms, ein Nervengeflecht in der Darmwand, das den Darm weitgehend unabhängig reguliert.
Der Sympathikus erhöht bei der Bewältigung lebensbedrohlicher Gefahren wie Kampf oder Flucht Herzschlag und Atemfrequenz und verbessert die Durchblutung. Das steigert die körperliche Leistungsfähigkeit, die in Extremsituationen notwendig ist. Der Sympathikus ist also eine Art Warner in der Not, ein Aktivierungs- und Rettungssystem.
Der Parasympathikus dagegen entspannt, beruhigt Herz und Atmung. So ist der Vagus der eigentliche Heiler nach starken Stressbelastungen. „Unter seinem Einfluss erholt sich der Körper, zum Beispiel im Schlaf. Das Herz kann sich regenerieren und der gesamte Körper verjüngt sich“, meint Universitätsprofessor Maximilian Moser.
In seinem Buch „Die heilende Kraft des Vagus“ erklärt der Leiter des Human Research Instituts für Gesundheitstechnologie und Präventionsforschung, wie wichtig der Vagusnerv für unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden, für unser Mikrobiom und unsere Psyche ist. So könne man den Vagusnerv auch als den „Steuermann des Schlafs“ bezeichnen. Ähnlich wie die rhythmischen Wechsel zwischen der REM- und der Non-REM-Schlafphase sei auch die Aktivität der Nerven, besonders in Tiefschlafphasen, durch solche rhythmischen Wechsel charakterisiert, die den Regenerationsprozess begleiten.

Es ist also ein Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus. Keines agiert allein. Beide ergänzen und bedingen einander wie Yin und Yang. Stets kommen die Körperfunktionen zum Einsatz, die in der jeweiligen Situation am sinnvollsten sind. Also doch keine Gegenspieler, sondern eher Kooperationspartner, die den Körper in Balance halten.
Wer zu Dauerstress neigt, sollte seinen Vagusnerv aktivieren, rät auch die Münchener Schauspielerin Nicola Tiggeler. Bekannt als Barbara von Heidenberg, spielte sie die Rolle der Intrigantin in der TV-Erfolgsserie „Sturm der Liebe“.
Für Nicola Tiggeler ist der Vagusnerv „eine Schaltzentrale in unserem Körper, die uns dabei helfen kann, aufzutanken, uns zu regenerieren und wieder mit Motivation ans Werk zu gehen“. Er verbinde als Schnittstelle Gehirn und Organe, vom Hirn zum Darm, von oben nach unten und von links nach rechts. „Ein Superheld. Die Soforthilfe für Stimme und Wohlbefinden“, da er neben seiner vegetativen Funktion auch an der Atmung, an der motorischen Steuerung von Kehlkopf, Stimme, Rachen und der oberen Speiseröhre beeinflusst.
Die Stimmlehrerin und Coach für Menschen in stimm- und sprechintensiven Berufen hat einige Übungen und Techniken zur Stimulation des Vagusnervs zusammengestellt, um sich in gute Balance und Stimmung zu bringen. Kein Wunder, verläuft doch der Vagusnerv an den Stimmbändern und der Speiseröhre entlang und kann so durch Tönen aktiviert werden.
Atemübungen
Bewusst tief in den Bauch atmen. Die Atemfrequenz, und damit Herzschlag und Blutdruck, sinken. Der Stoffwechsel wird angeregt, das Immunsystem aktiviert. Entspannung entsteht. Versuchen Sie ohne Ehrgeiz, auf etwa sechs Atemzüge pro Minute zu kommen. Sie sollten sich wohlfühlen und weder bei der Ein- noch bei der Ausatmung an Ihre Grenzen gehen. Atmen Sie anfangs durch die Nase ein und durch den Mund aus, so, als ob Sie Seifenblasen blasen.
• Kohärente Atmung: gleichmäßige Ein- und Ausatmung, beispielsweise fünf Sekunden einatmen, fünf Sekunden ausatmen.
• Stressreduzierende parasympathische Atmung: immer mit verlängerter Ausatmung: Vier Sekunden einatmen, sechs Sekunden ausatmen oder drei Sekunden einatmen, sechs Sekunden ausatmen, eine Sekunde halten.
Tönen
Da der Vagusnerv an den Stimmbändern und der Speiseröhre entlang verläuft, können Sie ihn durch Tönen aktivieren. Lassen Sie beim Ausatmen ein leises, entspanntes „Ooooh“ oder „Aaaah“ ertönen. Entspannen Sie dabei die oberen Halswirbel und verlängern Sie den Nacken. Singen oder summen Sie. Spüren Sie die Resonanz in Ihrem Brustbein, Schädel, Brustkorb. Auch sanftes Gurgeln hilft, gerne auch mit einer Melodie.
Augenbewegungen
Rhythmische Augenbewegungen bewirken nachweislich Entspannung und entlasten die Augen.
Sitzen Sie aufrecht, der Nacken ist lang, der Kopf bleibt ruhig. Bewegen Sie nur die Augen, jeweils fünfmal nach oben und unten, nach links und rechts sowie im Uhrzeigersinn. Fixieren Sie ebenfalls mehrfach abwechselnd einen nahen und einen entfernten Punkt. Wichtig: Atmen Sie dabei entspannt.

Bewegung
Bewegung, gleich welcher Art, stimuliert nicht nur das Nervensystem, sondern sorgt bei überwiegender Bildschirmtätigkeit für den nötigen Ausgleich.
Spazierengehen, schnelles Walken, Fitnesstraining, Yoga, Tanzen: Hauptsache, es macht Freude und Sie tun es regelmäßig, am besten täglich. Auch kleine Einheiten über den Tag verteilt sind besser als keine.
Schlaf
Nicht nur der Parasympathikus, der gesamte Körper entspannt und regeneriert durch erholsamen Schlaf.
Lachen ist nachweislich gesund
Selbst künstlich initiierte Lacheinheiten fühlen sich irgendwann echt an. Versuchen Sie morgens und abends oder zwischendurch einfach mal scheinbar grundlos eine Weile zu lachen.
Massage
Massagen können stimulieren und entspannen. Aktivieren Sie den Vagusnerv unter anderem mit einer sanften Selbstmassage am seitlichen Hals neben der Hauptschlagader. Dabei ist es besonders wichtig, nur sehr wenig Druck auszuüben. Auch Kopf-, Gesichts-, Hand- und Fußmassagen sowie Kieferlockerungsübungen sind wohltuend.

Auch in der Traditionellen Chinesischen Medizin kann der Druck auf bestimmte Akupunkturpunkte Blockaden lösen, die den Energiefluss im Körper stören.
Solche Punkte befinden sich unter anderem an den Ohren und sind auch mit dem Vagusnerv verbunden. Für eine Selbstakupressur den Punkt in der Ohrmuschel, der mit dem Vagusnerv in Verbindung steht, mehrmals 30 Sekunden drücken und wieder loslassen.
In der Mulde am Gehörgang sowie oberhalb des Gehörgangs wird der Vagusnerv aktiviert, indem man mit dem Finger dort sanft drückt, als würde man die Haut hin- und herschieben. Auch hinter der Ohrmuschel kann man mit einem oder zwei Fingern sanft auf- und abfahren oder die Haut mehrere Sekunden zum Haaransatz hin und danach vom Haaransatz wegschieben.
Da der Vagusnerv links und rechts der Halswirbel nach unten verläuft, lässt er sich durch sanfte Massage auch am Nacken stimulieren und Verspannungen können gelöst werden. In der Vorstellung der Chinesischen Medizin, die von einer Ganzheitlichkeit des Körpers ausgeht, ist der Vagusnerv einer der bedeutendsten Meridiane, der die Kommunikation zwischen Gehirn und Organen ermöglicht. Als Teil des autonomen Nervensystems schafft er ein Gleichgewicht zwischen Yin und Yang, den zwei gegensätzlichen Kräften. Er wirkt als Mittler, um die Harmonie zwischen den Organen aufrechtzuerhalten. Durch die Förderung der Energiebalance trägt er dazu bei, Beschwerden wie Verdauungsstörungen zu lindern.
Auch Maximilian Moser empfiehlt verschiedene mentale Übungen zur Stärkung des Vagusnervs und zum Aufbau einer resilienten Gesundheit. Dazu gehören zum Beispiel Wut und Ärger zu regulieren, ein inneres Lächeln zu üben, Dankbarkeitsrituale zu praktizieren sowie eine emotions- und wertfreie Tagesrückschau vor dem Einschlafen zu halten. Diese Art von innerer Distanz helfe dabei, die vagale Hemmung, die durch innere Anspannung entsteht, zu lösen und in einen erholsamen Schlaf zu gelangen.
Immer wieder dem Lärm der Welt, der Dauerbeschallung und ständigen Reizüberflutung entfliehen. In die Natur gehen, entschleunigen, sich Wellnesskuren auch zu Hause bereiten oder Heilbäder mit ätherischen Ölen genießen. Auch eine kalte Dusche oder das Waschen des Gesichts mit kaltem Wasser kann den Vagusnerv aktivieren.
Bestimmte Meditationspraktiken und Achtsamkeitsübungen wie Progressive Muskelentspannung, Qigong, Taiji oder achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR) wirken beruhigend auf das Nervensystem und stimulieren den Vagusnerv.
In seiner langjährigen Forschungslaufbahn entwickelte Maximilian Moser unter anderem aus der Weltraummedizin neue Methoden zur Messung des vegetativen Nervensystems. In seinem Buch berichtet er über den aktuellen Stand der Forschung und beschreibt, wie man den „Wundernerv“ und die Herzratenvariabilität messen und stärken kann. In der Medizin wird die Aktivierung des Vagusnervs bereits gezielt zum Beispiel bei Depressionen genutzt.