Kopenhagens bekannteste Sehenswürdigkeit ist die kleine Meerjungfrau. Ihre Entstehung Anfang des 20. Jahrhunderts verdankt sie Carl Jacobsen und seiner Faszination für eine Ballerina. Die Statue wurde schon Opfer einer Reihe von Anschlägen.
Die kleine Meerjungfrau, „den lille havfrue“, macht ihrem Namen alle Ehre. Nur einen Meter und 25 Zentimeter ist die Statue hoch, immerhin kommt sie dabei auf ganze 175 Kilo. Das liegt daran, dass sie nicht aus Fleisch und Blut ist, sondern aus Bronze und Granit. Könnte sie aufstehen, wäre sie 1,70 Meter groß und hätte damit 1913 zu den größten Frauen des Landes gezählt. Am 23. August dieses Jahres war die Statue am Langelinie-Kai in Kopenhagen aufgestellt worden. So als wäre sie gerade aus den Fluten entstiegen, sitzt die Meerjungfrau auch heute noch auf einem Felsen, der, einige Meter vom Ufer entfernt, von den Ostseewellen umspült wird.
Nur der Kopf ähnelt der Ballerina
Mit traurig-melancholischem Blick schaut die bronzene Dame in die Kameras der Touristen. Ihre schlechte Laune ist schnell erklärt, hat sie doch ihre große Liebe verloren. Der große dänische Märchendichter Hans Christian Andersen hatte die Figur 1837 geschaffen und ihr ein unglückliches Schicksal aufgedrückt. Die kleine Meerjungfrau lebte mit ihren Geschwistern nämlich im Meer, sehnte sich aber nach einem Leben an Land. Sie war besonders schön und hatte eine Stimme, die jeden verzauberte. An ihrem 15. Geburtstag schien es das Schicksal dann endlich gut mit ihr zu meinen. Denn es spülte ihr – im wahrsten Sinne des Wortes – einen schiffbrüchigen Prinzen in die Arme, den sie aus größter Seenot rettete. Die beiden verliebten sich sofort ineinander. Doch als Meerjungfrau konnte sie ihm nicht an Land folgen. Da machte ihr die böse Meereshexe das Angebot, ihren Fischschwanz in Beine zu verwandeln, wenn sie im Gegenzug dafür auf ihre betörende Stimme verzichten würde. Das traurige Ende ist schnell erzählt: Die Meerjungfrau ließ sich auf das Geschäft ein, der Prinz aber verlor bald das Interesse an der stummen Meerjungfrau und heiratete schließlich eine andere. Bis zum heutigen Tag entsteigt die so Verschmähte jeden Morgen und jeden Abend aus dem Meer und hält auf ihrem Felsen Ausschau nach ihrem Prinzen.
Wäre Carl Jacobsen im Winter 1909 nicht ins Königliche Theater von Kopenhagen gegangen, gäbe es die Statue der kleinen Meerjungfrau vermutlich nicht. Jacobsen war der Sohn des Gründers der Carlsberg-Brauerei und ein großer Kunstliebhaber und Mäzen. Auf ihn geht unter anderem die Gründung der Ny Carlsberg Glyptotek zurück, der bis heute wichtigsten Kunstsammlung des Landes. Carl Jacobsen liebte aber auch das Theater und sah sich deswegen die Aufführung des Balletts „Kleine Meerjungfrau“ an. Er war begeistert von dem Stück, noch mehr aber von der Ballerina Ellen Price de Plane. Zu der Schwärmerei mag beigetragen haben, dass der damals 67-Jährige frisch geschieden war und eine unglückliche Ehe mit einer viel jüngeren Frau hinter sich hatte. Wie dem auch sei, er gab umgehend dem bekannten dänischen Bildhauer Edvard Eriksen den Auftrag, die Statue einer Meerjungfrau zu fertigen. Dabei sollte ihm die Ballerina Modell sitzen. Die aber wollte angeblich nicht nackt dargestellt werden und deshalb ähnelt auch nur der Kopf der Meerjungfrau dem der Tänzerin. Für den Körper diente Elline Eriksen, die Ehefrau des Künstlers, als Vorbild. Andere Quellen behaupten, die Eifersucht der Ehefrau hätte verhindert, dass die Ballerina Modell sitzen durfte. Die Wahrheit wird man wohl nie herausfinden, denn Ellen und Elline hatten nicht nur ähnliche Vornamen, sie sahen einander auch so ähnlich, dass außer dem Künstler selbst wohl niemand sagen kann, wen er da porträtiert hat.
Lange stritten Jacobsen und Eriksen darüber, ob die Kleine Meerjungfrau mit Beinen – also nach der Verwandlung durch die Meerhexe – oder mit Flossen dargestellt werden sollte. Die Form, die gewählt wurde, war schließlich ein Kompromiss, eine Meerjungfrau mit Beinen, die aber schließlich in Flossen übergehen. Weil sich Künstler und Mäzen auch darüber uneinig waren, wo die Statue stehen sollte, der eine wollte sie im Meer, der andere in einem Seerosenteich platzieren, dauerte es bis zum Spätsommer 1913 bis die Staute der Meerjungfrau endlich enthüllt wurde. Jacobsen konnte sich an der von ihm in Auftrag gegebenen Statue nicht mehr lang erfreuen, er starb wenige Monate später im Januar 1914.
Lange Zeit führte die Kleine Meerjungfrau ein relativ ruhiges Leben. Abseits des Stadtzentrums saß sie im Meer und außer den Sonntagsspaziergängern und dem ein oder anderen Touristen kam kaum jemand bei ihr vorbei. Das änderte sich erst 1952, nachdem Hollywood einen Spielfilm über Hans Christian Andersen veröffentlicht hatte, und der Hauptdarsteller Danny Kaye mit dem Titelsong „Wonderful Copenhagen“ einen Welthit landete. Seitdem gehörte die Meerjungfrau zur Standard-Reiseroute für durch Europa tourende Amerikaner. Im Laufe der 50er-Jahre setzten dann auch dänische und europäische Besucher das Kopenhagener Wahrzeichen allmählich auf die Must-see-Liste.
Kopf und Arm wurden schon abgetrennt
Je bekannter sie wurde, desto interessanter wurde die Statue auch als Ziel für kleinere und größere Anschläge. Ganz harmlos fing es 1961 an, als ihr Scherzbolde einen Bikini anmalten und sie mit roten Haaren schmückten. Zwei Jahre später übergossen dann „Künstler“ die Meerjungfrau mit roter Farbe – das Ganze sollte ein Happening sein. Dann aber wurde es ernst. 1964 sägten ihr Unbekannte den Kopf ab und brachten es damit immerhin auf die Titelseite der „New York Times“. 1984 amputierte man ihr einen Arm, bevor man sie 1998 erneut enthauptete. 2003 schien die Kleine Meerjungfrau dann plötzlich ganz verschwunden. Bald fand man sie aber ein paar Meter entfernt von ihrem Felsen im Wasser liegend. Danach ging es mit politisch motivierten Farbattentaten weiter. Je nachdem, ob man für Frauenrechte oder gegen Walfang war, wurde die geduldige Meerjungfrau rosa oder rot angemalt. Aktuell musste sie sich im Zuge der „Black lives matter“-Kampagne als „racist fish“ beschimpfen beziehungsweise beschmieren lassen.
In Kopenhagen sieht man das Ganze gelassen. Weil die Kleine Meerjungfrau so berühmt ist, sei sie eben ein beliebtes Anschlagsziel. Wer auf ihr seine Parolen hinterlässt, kann sicher sein, dass sie sich schnell verbreiten. Andererseits ist die Beseitigung der Schäden billiger, als die Statue rund um die Uhr bewachen zu lassen. Den Fels samt Jungfrau in tieferes Wasser versetzen will man nicht. Die Nähe zum Land sei wichtig für die künstlerische Aussage, heißt es. Schließlich war es der größte Wunsch der Kleinen Meerjungfrau an Land zu steigen. Außerdem wäre die kleine Schönheit in größerer Entfernung vom Ufer nur noch mit dem Fernglas oder dem Teleobjektiv zu bestaunen. Wenn es ganz schlimm kommen sollte, hat man immerhin noch die original Gussformen. Mit denen kann man die Meerjungfrau jederzeit zu neuem Leben erwecken. Das Gerücht, die Meerjungfrau, die auf dem Felsen sitzt, sei ohnehin nur eine Kopie, ist aber falsch. Das jedenfalls stellte vor einigen Jahren die Enkelin des Künstlers klar. Und die muss es ja schließlich wissen.