Was das China-Porzellan mit dem britischen Wahlkampf zu tun hat
Stellen Sie sich vor, Ihre nach langem Leiden verschiedene Tante Berta, Gott hab’ sie selig, vermacht Ihnen eine teure Ming Vase. Sie müssen das wertvolle Stück nur noch persönlich abholen und heil nach Hause bringen, dann sind Sie praktisch reich. Die Ming Vase mit beiden Händen vor sich hertragend, laufen Sie durch die Straßen. Jetzt nur nicht stolpern! Bis zu Ihrer Wohnung sind es nur noch zwei Straßen weiter. Jetzt nur nicht fallen lassen! Bloß nicht irgendwo anecken!
Dieses Ming-Vase-vor-sich-Hertragen ist eine Metapher, die in letzter Zeit häufig bemüht wurde. Und zwar in Großbritannien. Denken Sie sich einfach statt der verblichenen Tante Berta die Partei der britischen Konservativen, die Tories, dann statt des Erben den (bis vor Kurzem) Oppositionsführer Keir Starmer, und die wertvolle Ming Vase ist: die Wahlprognose. Sie wissen, wie es ausgegangen ist: Sir Keir Starmer hat es geschafft. Die Briten haben ihn zu ihrem neuen Premierminister gewählt. Er hat die Ming Vase sicher nach Hause getragen.
Aber das war gar nicht so leicht. Sie kennen das: Sie tragen etwas in den Händen und müssen höllisch darauf achten, nicht über unebenen Boden zu laufen, nirgendwo anzustoßen, ganz ruhig zu bleiben und keine feuchten Hände zu kriegen? Auf den britischen Wahlkampf übertragen hieß das: Nur ja kein schwieriges Themen-Terrain betreten, bloß keine konkreten politischen Richtungsvorgaben machen, und auf gar keinen Fall klare Kante zeigen. Auf Englisch heißt diese Wahlkampf-Strategie – das ist jetzt kein Witz – ming vase strategy: Einen greifbar nahen Sieg nur noch sicher ins Ziel bringen.
Anlässlich des Labour-Parteitags, der wenige Wochen vor der Parlamentswahl stattfand, sprach die britische Presse nach der Vorstellung des Wahlprogramms sogar vom Ming-Vasen-Manifest. Die Wahlprognosen sahen die Arbeiterpartei Labour so meilenweit vor den konservativen Tories, dass das Parteiprogramm völlig darauf ausgelegt war, nur ja keinen Fehler zu machen. Also wurden möglichst wenig Details darüber ins Programm geschrieben, was Keir Starmer und seine Partei eigentlich konkret vorhaben, sobald sie an der Macht sind.
Wahrscheinlich hatte das Wahlkampfteam seinem Kandidaten empfohlen, am besten nur noch übers Wetter zu reden. Bloß nichts Handfestes erwähnen, auf das man den fast schon sicheren Premierminister vor der Wahl noch hätte festnageln können! Nägel und teures Porzellan: Gar nicht gut, beides sollte man gar nicht erst miteinander in Verbindung bringen! Stattdessen einfach sagen: Wir wollen den Wandel! Wandel geht immer als politische Parole, vor allem, wenn man sich die letzten Jahre des britischen Politik-Chaos ansieht. Wandel heißt hier eigentlich: Hauptsache es geht nicht noch weiter bergab.
Genauso blass, so schwer zu greifen wie das Wahlprogramm, blieb auch der Spitzenkandidat. Wenn die Briten Keir Starmer mit drei Adjektiven beschreiben sollen, verwenden sie meistens: langweilig, langweilig und langweilig. Aber nach einigen zwar unterhaltsamen, jedoch fragwürdigen Entertainern auf der britischen Regierungsbank (allen voran Boris Johnson), klingt in den Ohren britischer Wählerinnen und Wähler inzwischen ‚langweilig‘ wie eine Tugend. Bekannte von mir aus Großbritannien verweisen gerne darauf, dass Merkel ja auch nicht gerade eine spektakuläre Unterhaltungskünstlerin war, und Olaf Scholz …
Also wenn der neue Premierminister sich einfach nur ganz langweilig auf die Regierungsarbeit konzentriert, wäre das – britisch gesehen – tatsächlich ein deutlicher Wandel zu den Vorgängerregierungen.
Aber: Wo steht denn jetzt die Ming Vase? In der Downing Street Nummer 10? Ich glaube nicht. Ich fürchte, Ming Vasen machen Keir Starmer auf Dauer nervös und er hat das wertvolle Stück heimlich an Gareth Southgate weitergereicht, den (Ex-) Trainer der englischen Fußballnationalmannschaft, denn die spielte bei der EM ebenfalls streng nach der Ming-Vasen-Strategie: egal wie langweilig, ganz gleich wie unspektakulär– Hauptsache einen möglichen Sieg irgendwie ins Ziel bringen.