Ein wenig mehr Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen würde nicht schaden
Vor Kurzem entdeckte ich eine Website, die einem zeigt, welche Ziele man vom eigenen Standpunkt aus in acht Stunden mit der Bahn erreichen kann. Praktisch, dachte ich zunächst. Doch dann wurde ich nachdenklich. Was bringt mir die Info eigentlich? Ich will doch gerade nirgendwo hin. Wenn ich meine Verwandtschaft in Lübeck besuchen will, mache ich das, ob ich nun sieben, acht oder neun Stunden brauche.
Dann kam ich dahinter, was mich daran störte: Es ist – Achtung, Kulturkritik – ein klarer Fall von „Uns geht’s zu gut“. Statt sich bedürfnisgerecht zu verhalten und zu informieren, schauen wir lieber mal, was man denn so machen könnte. So ganz ohne echten Anlass. Getreu dem Motto: „Mir is’ so fad’.“ Das hat jetzt nicht einmal direkt etwas mit dieser Website zu tun. Es ist vielmehr ein allgemeines Phänomen, das sich beobachten lässt.
Ich vergleiche es gerne mit dem abendlichen Gang zum Kühlschrank. Das Abendessen liegt hinter einem, Appetit – geschweige denn Hunger – verspürt man nicht, aber einen Blick in das reichhaltige Angebot der heimischen Kühleinheit riskiert man gerne. Vielleicht findet sich ja etwas, das man sich noch unnötigerweise zwischen die Kiemen schieben kann. Die Frage: „Was brauche ich gerade“ stellt sich uns so gut wie nicht mehr. Warum?
Nun, weil es den meisten Menschen in der westlichen Wohlstandgesellschaft an nichts fehlt – in materieller Hinsicht wohlgemerkt. Natürlich gibt es auch nicht wenige Fälle krasser Armut, aber um die soll es hier explizit nicht gehen. Unsere Antwort auf die Frage: „Was brauche ich gerade“, würde in den meisten Fällen „Nichts“ lauten. Eigentlich ein Grund zur Freude. Doch ach, oh, ach! Das ist irgendwie so… langweilig, weil… dann, ja dann kann man ja gar nichts… tun. Oder konsumieren.
Nicht sehr Social-Media-wirksam, würde ich sagen. Ich höre die Followerschaft schon angeödet entfolgen! Deswegen scrollen wir uns durch Instagram-Feeds. Deswegen browsen wir durch die Angebote von Online-Shop. Vielleicht findet sich ja doch noch was.
Man darf das nicht falsch verstehen: Nicht alles muss „nötig“ sein. Es gibt viele „überflüssige“ Dinge, die das Leben regelrecht ausmachen. Geschenke können so etwas sein. Ich bekam mal vor Jahren von einer Kollegin ein kleines Büchlein geschenkt, das exakt zu meinen damals nicht ganz klaren Zukunftsaussichten passte. War das nötig? Keineswegs. Und gerade das machte es aus. Ich hatte nicht damit gerechnet, was die Überraschung umso größer machte. Das kleine Buch hat sicher nur ein paar Euro gekostet, aber völlig unabhängig vom materiellen Wert blieb es mir im Gedächtnis, weil es sehr überlegt ausgewählt war.
Ab und an im Überfluss zu schwelgen, wenn man es sich denn erlauben kann, sei also allen gegönnt. Ein wenig mehr Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen schadet jedoch nicht. Denn das ständige „Sattsein“ im eigentlichen, wie auch im übertragenen Sinne, lässt uns kaum Raum, vielleicht doch noch anfallende Bedürfnisse zu erkennen.
Erinnert sich noch jemand an die Zeit, als man sich etwa Filme gezielt anschaute? Heute scrollt man sich eine Stunde durch die Netflix-Bibliothek, um dann regelrecht angewidert und gelangweilt „nichts gefunden“ zu haben. Information Overload. Überdruss. Bei zu viel Auswahl an Dingen steigen zwangsläufig die Erwartungen. 1.000 Videotheken (die Geburtenjahrgänge von den 90ern abwärts werden sich erinnern) und Kinos nur einen Klick auf der Fernbedienung entfernt: Das kann ja nur richtig gut werden! Wird’s aber oft nicht. Und das ernüchtert.
Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Es würde vielleicht nicht schaden, Netflix abends nicht „automatisch“ zu öffnen, weil man das halt so macht, sondern nur dann, wenn man wirklich Lust auf einen bestimmten Film, eine bestimmte Serie hat. Verrückt, ich weiß! Ansonsten könnte man vielleicht auch ein Buch lesen, puzzeln, sich unterhalten oder einfach nichts tun und früh zu Bett gehen. Letzteres ist besonders zu empfehlen, denn was man nicht erfährt während des Schlafens, sind Langeweile und der Druck, unbedingt etwas tun zu müssen.