Über knapp 300 Kilometer erstrecken sich die Outer Banks vor der Ostküste der USA. Einst gehörten die schmalen Halbinseln und Inseln indigenen Völkern wie den Chowanoke. Im 16. Jahrhundert kamen europäische Eroberer, Siedler, Seeräuber – und Pferde. Die verwilderten Nachfahren der spanisch-stämmigen Tiere leben bis heute dort.
Als uns der Highway auf den Alligator River führt, kleben meine Augen auf dem Wasser. Aus dem Autofenster kann ich kein Reptil erspähen. „Glaub mir, es gibt jede Menge hier“, versichert Margo Metzger, meine Tourgefährtin. „Auch Schwarzbären und Rotwölfe“, fügt sie hinzu und lenkt den Wagen weiter Richtung Osten. Breit wie ein See und ebenfalls so still zeigt sich der Fluss, bevor er ein Stück weiter nördlich in die Meerenge Albemarie Sound mündet.
Bald sind wir am Ozean. Nur noch ein paar Meilen, eine Insel und zwei Brücken. Ein letzter Blick aufs Grün des Flusswalds und der Weißzypressensümpfe. Dann übernimmt der Sand die Bildregie. Nach insgesamt drei kurzweiligen Autostunden von North Carolinas Hauptstadt Raleigh kommen wir in Nags Head an. Mit einem Pferdekopf auf einem Welcome-Schild begrüßt das hübsche Städtchen mit dem uncharmanten Namen (nag bedeutet Gaul) seine Gäste.
Pferde lockten Boote ins Verderben
Das Tier im Wappen trägt eine Laterne um den Hals. „Schwer vorstellbar“, meint Margo mit dem Hinweis auf das Feuer darin. Doch die Legende stamme aus der Zeit, als hier Piraten lebten. Die abgeschiedene und für die Seefahrt sehr riskante Lage dieses Ortes verhalf ihnen zu leichter Beute. Mit einem üblen Trick lockten sie ankommende Schiffe ins Verderben.
„Dazu dienten ihnen Pferde. Man hing ihnen eine Lampe um den Hals und führte sie vor seichtem Wasser durch die Dünen. Wer das bewegte Licht bei Dunkelheit und Sturm vom Meer aus sah, dachte, dass es nur ein Boot sein konnte, fuhr in dessen Richtung und damit auf die nächste Sandbank“, erzählt meine Begleiterin.
„Wenn das Schiff nicht von allein zerbarst und seine Ladung von den Wellen an den Strand getragen wurde, war die Plünderung ein Kinderspiel. Die geraubte Fracht nach Hause schleppen mussten dann die armen Pferdchen. Nicht wenige Seeräuber kamen so zu Reichtum, kauften sich Land und wurden brave Bürger“, so Margo.
Ähnliche Geschichten hört man an vielen Orten auf den Outer Banks. Früher menschenleer, waren sie für Freibeuter ein Paradies. Die rund 300 Kilometer lange Kette schmaler Halbinseln und Inseln im Atlantik schmiegt sich wie ein Schutzwall an die Festlandküste. Selbst aber war und ist der dünne Streifen Sandland nicht vor dem Ozean geschützt. Heimtückische Strömungen und Untiefen machen die Gewässer hier gefährlich. Unzählige Schiffe sanken. Darunter auch das ein oder andere, zu dessen Passagieren Pferde zählten. Doch sollten sich die Tiere wirklich selbst an Land gerettet haben?
Viele halten das für unwahrscheinlich. Denn: Seit dem Mittelalter war es üblich, Pferde bei Seetransporten in Leinentüchern oder Matten aufzuhängen (und zwar so, dass ihre Hufe nur leicht den strohbedeckten Boden berührten), um Verletzungen zu vermeiden. Im Falle eines Schiffsbruchs hätten sich die Tiere zuerst aus ihren Aufhängungen befreien müssen.Fakt ist, dass bis heute freilebende Ponys auf den Outer Banks zu Hause sind. Unumstritten ist auch ihre Herkunft. Wie Gentests zeigen, stammen ihre Urahnen aus iberisch-nordafrikanischen Züchtungen. Vermutlich wurden sie von den ersten „Entdeckungsreisenden“ aus Spanien auf die Barriereinseln gebracht und dort zurückgelassen, als jene nach ihren Erkundungsritten wieder nach Europa segelten.Die robusten Tiere passten sich der kargen, rauen Landschaft ihrer neuen Heimat an und entwickelten sich über Generationen zu einer Rasse, die landläufig als Banker Pony oder Corolla Horse bekannt ist. Die zunächst britisch-stämmigen Einwohner, die 1584 auf der Insel Roanoke die erste englische Siedlung Nordamerikas gründeten, nutzten die Pferde nach Bedarf. „Wer eins brauchte, nahm sich eins“, erzählt mir Margo. Später ließ man sie auch rennen. Der Legende nach waren die Hänge der hohen Dünen, die die Zuschauer nutzten, und der Strand bei Nags Head ein beliebter Platz dafür. Bis heute nennt man dieses Stück der Halbinsel „Jockey’s Ridge“.
Berühren und füttern sind verboten
Unter dem Rassenamen Colonial Spanish Mustang wurden die Outer-Banks-Pferde 2010 von der Regierung North Carolinas unter Schutz gestellt. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte man bis zu 6.000 von ihnen. Heute sind es rund 300. Sie leben an vier Standorten der Inselkette (siehe Infokasten). Der wohl bekannteste mit etwa 100 Pferden befindet sich unweit von Nags Head und ist unser nächstes Ziel: Corolla.
„Kürraala“, berichtigt mich Tom Baker, der den Slang der Insulaner spricht, „der Name dieses Ortes ist Kürraala.“ Corolla sei ein Auto. „Man schreibt es nur genauso“, belehrt er uns, als wir auf sein Safarifahrzeug klettern. „Als ich ein Kind war, lebten wir vom Fischfang und der Jagd“, erzählt der Guide und lässt den Motor seines Hummers brummen. „Die Pferde streiften damals noch durchs Dorf.“ Es sei normal gewesen, dass sie auf dem Golfplatz grasten und im Parkteich badeten. „Eins spazierte einmal beim Gemüsehändler durch die Ladentür“, erinnert sich der Einheimische. Das war alles vor dem Bau des Highway NC12. Nach dessen Fertigstellung Mitte der 80er sei die Entwicklung explodiert. „Rasant wuchs das bebaute Land, hauptsächlich durch Ferienhäuser. Die erste asphaltierte Straße zwischen Duck und Corolla war für die Leute hier ein Segen – für die Mustangs allerdings nicht. 20 von ihnen starben hier allein zwischen 1985 und 1997 durch Verkehrsunfälle“, so Tom Baker. Beendet wurde die Tragödie auf Drängen eines Bürgervereins. Nach jahrelangem Kampf erwirkte der Corolla Wild Horse Fund, dass nördlich der Stadt ein Reservat geschaffen wurde, in das 1997 die letzten 20 Mustangs von Corolla umgesiedelt wurden. Wie viele Tiere damals dort schon lebten, weiß man nicht. Teil ihres Lebensraums war dieses Areal von Anbeginn. Schlicht „4&4“ nennen es die Einheimischen – genauso wie die Allradfahrzeuge (die offiziell „ORV“ – Off Road Vehicle – heißen), die man braucht, es zu befahren. Denn seine Straßen sind nur Sand.
Tom bringt uns nun in diese Zone zwischen dem Atlantik und einer seichten, abgetrennten Bucht, dem Currituck Sound. Im Osten wie im Westen begrenzt sie das Meer. Im Norden (Staatsgrenze zu Virginia) und Süden tun das Zäune. 30 Quadratkilometer stehen den wilden Pferden damit zur Verfügung – theoretisch. Denn machen, was sie wollen, können sie hier nicht. Über zwei Drittel der „4&4“-Fläche entfallen auf Privatgrundstücke der insgesamt drei stetig wachsenden Gemeinden. Die größte davon, Carova, hat 50 Einwohner und 750 Ferienhäuser. Mehr und mehr davon schießen wie Pilze aus dem Sand.
Tom zeigt nach vorne, bremst und bleibt in Schrittgeschwindigkeit. Auf einer Wiese zwischen Baustelle und Haus steht ein dunkelbrauner Mustang. Der junge Hengst, an den Motorenlärm gewöhnt, lässt sich beim Gräserzupfen überhaupt nicht stören. Langsam tuckern wir an ihm vorbei, denn Anhalten ist ebenso verboten wie Berühren oder Füttern. Schon der Verstoß gegen den Mindestabstand von 50 Fuß (15 Meter) wird bestraft. „Das gilt immer und für jeden“, mahnt unser Guide. „Stehen Pferde vor der Tür, muss selbst der Hausbesitzer warten, bis sie von allein gegangen sind. Kommt eins zu euch, habt ihr zu gehen.“
Vorerst fahren wir und treffen mehr Mustangs im Dorf. Dann geht es via Sandberg auf den breiten Strand – wie die drei Orte Teil des Schutzgebiets. Idyllisch breitet er sich vor uns zwischen Ozean und Dünen aus. Dennoch ist er eine öffentliche Straße – mit vielen oft zu schnellen Fahrzeugen. „Offiziell gilt Tempolimit 40 km/h beziehungsweise 24 mph, wenn Menschen oder Tiere auf der Straße sind. Leider halten sich nicht alle dran“, bedauert Tom. Die Sonne scheint, der Fahrtwind kühlt. Schwere SUVs und Pickups sausen uns entgegen, überholen beidseitig. Der Sand ist voller Reifenspuren. Nur ganz am Rand verwischt sie der Atlantik. Ein Lkw fährt einen Bogen. Denn dort, direkt am Wasser, stehen drei Stuten. Ihr braunes Fell glänzt in der Sonne. Ihr Langhaar – blond, rot und brünett – weht sacht im Wind. Während wir gemächlich an ihnen vorüberrollen, schauen die Pferdedamen auf das Meer. Dann trotten sie in aller Seelenruhe weiter, „über die Fahrbahn“ Richtung Inselinneres.
Grabstätte von Mensch und Pferd
Den autofreien Augenblick nutzt noch jemand anders – und zwar zu einem kurzen Workout. Die schwarze Silhouette vor uns ist ein junger Hengst. Mit den Hufen in der Brandung, den Kopf mit seiner hübschen langen Mähne suchend nach vorn gebeugt, schüttelt er sich plötzlich, springt und galoppiert davon. In dem Moment von Schönheit, Kraft und Lebensfreude ist er einfach nur ein wildes, freies Pferd an einem kilometerlangen Strand – imstande, seine Grenzen selber zu bestimmen.
Mit diesem wunderbaren Bild im Kopf reisen wir weiter auf den Outer Banks, treffen noch viele „Ponys der Piraten“, hören Legenden und Geschichten über sie. Einen Herzensort für Pferdefreunde finde ich auf Ocracoke in einem Wald am Strand. Von einem kleinen Lattenzaun umgeben stehen dort ein Grabstein und eine Ponyfigur aus Stein. Es ist die letzte Ruhestätte von Samuel G. Jones und seinem Lieblingspferd Ikey D. Der exzentrische Unternehmer hatte das treue Tier so sehr geliebt, dass er es zu Lebzeiten in den Saloon mitnahm und sich später neben ihm bestatten ließ.