Während Finanzminister Christian Lindner (FDP) für eine zusätzliche Aktienrente plädiert, warnt Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger vor einem Zusammenbruch des derzeitigen Rentensystems. Andreas Irion, stellvertretender Präsident des Bundesverbandes der Rentenberater, hält das System für stabil. Warum, erklärt er im Gespräch mit FORUM.
Herr Irion, der Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger hat neulich in einem Interview davor gewarnt, dass das derzeitige Rentensystem in den nächsten fünf Jahren kollabiert. Teilen Sie diese Ansicht?
Dulger hat sich auf das Umlageverfahren bezogen. Da sehen wir keinen Zusammenbruch des Rentensystems, weil die Zusammenhänge relativ stabil sind. In dem neuen Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung, der 15 Jahre in die Zukunft geht und Ende November veröffentlicht wird, steht, dass die gesetzlichen Renten um ein Prozent weniger als die Lohnentwicklung pro Jahr steigen werden. Die Lohnentwicklung wiederum ist ungefähr ein Prozent höher als die Inflation. Das ist eine tolle Nachricht, weil das bedeutet, dass die Renten mit der Inflation steigen. Und das, obwohl wir den demografischen Faktor dabei haben, das heißt, dass wir immer weniger Jüngere und immer mehr Ältere haben. Trotzdem gelingt es dem Umlageverfahren, so wie es jetzt austariert ist, mit Sicht auf die nächsten 15 Jahre, mit der Inflation mitzuhalten.
Das ist auch für diejenigen, die Geld anlegen wollen, eine Überlegung. Die gesetzliche Rente ist immer noch für die meisten attraktiver als eine private Geldanlage. Denn eine private Geldanlage zu finden, die mit der Inflation mithält, über sichere Anleihen beispielsweise oder Inflations-Index-Anleihen, ist unmöglich. Insofern ist das Umlagesystem aus unserer Sicht zwar nicht perfekt, aber immer noch stabiler als die Alternativen.
Etliche Menschen haben sogenannte gebrochene Lebensläufe — etwa wegen der Kindererziehung oder anderen Auszeiten. Andere sind freiberuflich oder wechseln zwischen Selbstständigkeit und Festanstellung hin und her. Lohnt sich die gesetzliche Rente denn überhaupt für diejenigen, die nicht in die typische Beschäftigungsschablone passen?
Selbstständige können sich freiwillig versichern. Ob sich das für sie lohnt, hängt sehr vom Einzelfall ab. Diejenigen, die nur sehr knapp verdienen, stellen sich besser mit der Grundsicherung.
Seit zwei Jahren gibt es die Grundrente: Die geht auch einher mit einer Aufstockung der Leistungen für diejenigen, die 33 Jahre Grundrentenzeiten haben. Sie bekommen Grundsicherung noch mal um 50 Prozent aufgestockt. Für sie lohnt sich eine Einzahlung, unabhängig davon, ob sie sehr wenig oder wenig einzahlen. Zu diesen 33 Jahren zählen auch beispielsweise Kindererziehungszeiten oder wenn man Angehörige pflegt. Die allermeisten erreichen 33 Jahre.
Wäre es aus Ihrer Sicht sinnvoll, wenn alle Selbstständigen mit in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen würden?
Das ist schon seit vielen Jahre ein Ansinnen der Politik. Wir können beispielsweise in Nachbarländer gucken. Die Österreicher haben das vor vielen Jahren schon gemacht. Sie fahren damit gut, und wir würden damit auch gut fahren. Aus zwei Gründen: Zum einen hätten wir auch einen Selbstschutz, dass diejenigen, die wenig verdienen, es sich doch leisten können vorzusorgen und dann langfristig zur Vorsorge gezwungen sind. Zum Zweiten hätten wir auch diejenigen Selbstständigen drin, die gut verdienen. Bei den Selbstständigen gibt es ja eine breite Spanne: die, die wirklich so sehr knapsen und andere, die sehr gut verdienen. In den nächsten Jahrzehnten haben wir ungefähr bis 2040 die anstrengenden Jahre für das Umlageverfahren, danach stabilisiert es sich etwas. Wenn wir jetzt die Selbstständigen mit dazunehmen, dann werden wir in den nächsten 20 Jahren erst mal im Schnitt mehr Beitragszahler als Empfänger haben. Wenn diejenigen in 30, 40 Jahren zu Empfängern würden, dann gibt es wiederum neue Beitragszahler.
Es gibt unterschiedliche Regelungen bei Selbstständigen: Freie Universitätsdozenten und Yogalehrerinnen etwa sind verpflichtet, von ihren oft prekären Honoraren den vollen Beitragssatz zu leisten, während etwa freie Journalisten, Ärzte und Rechtsanwälte gar nicht rentenversicherungspflichtig sind. Ist das noch fair?
Mit „fair“ kann man da nicht rangehen. Es gibt sehr viele Einzelfallregelungen. Zum Beispiel können sich Handwerker nach 18 Jahren von der Versicherungspflicht befreien lassen.
Und dann? Hebammen sind versicherungspflichtig, aber Heilpraktiker sind es weniger. Es wimmelt von Einzelfallregelungen. Auch aus dem Grund wäre es sinnvoller zu sagen, dass es grundsätzlich Versicherungspflicht gibt, anstatt solche Einzelfälle jeweils unterschiedlich zu handhaben.
Der Arbeitgeberpräsident etwa hat vorgeschlagen, das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung zu koppeln. Wäre das aus Ihrer Sicht sinnvoller, wenn nicht sogar gerechter?
Ja. Man könnte die differenzielle Sterblichkeit besser berücksichtigen. Etwa im Handwerk: Körperlich Arbeitende leben statistisch kürzer als Bürobeschäftigte. Das ist bisher im Rentenversicherungssystem nicht berücksichtigt. Das könnte man berücksichtigen, sodass man beispielsweise sagen kann, dass diejenigen, die von der Statistik her kürzer Rente beziehen aufgrund beispielsweise ihrer Berufstätigkeit, entsprechend früher in Rente gehen sollen als diejenigen, die sie länger beziehen.
Oder man sagt, dass die Rentenabschläge bei denen, die potenziell länger Rente beziehen, höher sind. Man könnte das auch in eine andere Form bringen. So wie es im Bau früher Schlechtwettergeld gab und jetzt Saisonkurzarbeitergeld gibt, könnte man diese Art von Umlage auch in solchen Berufsfeldern etablieren, in denen beispielsweise das Risiko der Erwerbsminderung besonders hoch ist. Auf diese Weise würden diejenigen in Erwerbsminderungsrente gehen, hätten aber nicht diese Abschläge, wie sie sie jetzt haben, und nicht diese Nachteile gegenüber Bürobeschäftigten. Das sind kleine Beträge, mit denen das aufgefangen werden kann. Die Umlage ist zwei Prozent auf die Bruttogehälter. So könnte man das auch bei den Berufsgruppen machen, die eine niedrigere Rente bekommen oder höhere Erwerbsminderungsrente haben.
Wir haben jetzt bereits eine Übergangsphase, in der das Renteneintrittsalter steigt, nämlich auf 67 Jahre ab dem Jahrgang 1964. Und wenn man das einfach so weiter steigen lassen würde bis 68, dann hätte man in 20 Jahren noch mehr Stabilität. Das wären denkbare Szenarien. Aber das sind kleine Stellschrauben. Ich glaube, dass man nicht an einer großen Schraube drehen oder sagen muss, das ganze System wird kollabieren. Sondern, das hat viele kleine Stellschrauben. Und wenn man an allen dreht, dann wird das ein auskömmliches und inflationssicheres System bleiben.
Der Blick nach Österreich, der ist da durchaus zuträglich. Sie haben höhere Renten, weil sie eine viel größere Gruppe der Beitragszahler mitenthalten. Und verglichen mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters ist die Verbreiterung derjenigen, die da einzahlen, die schönere Lösung. Weil das für diejenigen, die einzahlen, auch eine Absicherung ist und gleichzeitig das System stabilisiert.