Long Covid hat die Zahl der von ME/CFS-Betroffenen weltweit in die Höhe schnellen lassen. Da die Symptome bei beiden Leiden weitgehend deckungsgleich sind, eröffnet sich die Chance, dass das vernachlässigte chronische Erschöpfungssyndrom endlich therapierbar gemacht werden kann.
Deutschlands ebenso beliebter wie respektierter Fernseh-Doktor Eckart von Hirschhausen schreckte die Nation vergangenes Jahr regelrecht auf, als er in seiner ARD-Reportage „Long Covid – die Pandemie der Unbehandelten“ die Ausbildung des hierzulande in der Öffentlichkeit so gut wie unbekannten Krankheitsbildes ME/CFS als „schwerste Form von Long Covid“ bezeichnet hatte.
Wenn man es ganz sarkastisch formulieren möchte, dann konnte den an ME/CFS seit vielen Jahren schon Erkrankten, deren Zahl sich laut einer von der Bundesregierung im Jahr 2021 erhobenen Schätzung auf 300.000 bis 400.000 belaufen hatte, kaum etwas Besseres passieren, als dass ihr schweres Leiden endlich im Zusammenhang mit den Pandemie-Spätfolgen ernst genommen wird. Denn obwohl die Weltgesundheitsorganisation WHO schon 1969 ME/CFS als neurologische Krankheit klassifiziert hatte, die typischerweise als Folge von Infektionserkrankungen aufzutreten pflegt, blieb sie ein Stiefkind der medizinischen Forschung und wurde „konsequent ignoriert“, oder fälschlich als psychosomatisch eingeordnet, wie es der ORF jüngst in einem Wissenschaftsbeitrag trefflich auf den Punkt gebracht hatte.
Neue Medikamente in Arbeit
Obwohl die WHO schon im Herbst 2021 mehr als 200 Long-Covid-Symptome aufgelistet hatte, so sind doch die meisten Krankheitsbilder bei Long Covid, dem Oberbegriff für Langzeitfolgen nach einer Ansteckung mit dem Coronavirus, wobei die Symptome mehr als vier Wochen nach Ausbruch der Erkrankung noch anhalten, und ME/CFS weitgehend deckungsgleich. Mit der charakteristischen schweren Belastungsintoleranz an der Spitze, aber auch mit Störungen im Gefäßsystem, eingeschränktem Energiestoffwechsel oder einer Autoantikörper-Bildung gegen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren, die an der Steuerung des autonomen Nervensystems beteiligt sind und damit wichtige Körperfunktionen kontrollieren. Angesichts der beträchtlichen Zahl der von Long-Covid-Betroffenen, laut einer Überblicksstudie vom Januar 2023 ist bei zehn Prozent der Covid-19-Infektionen mit schwerem Verlauf zu rechnen, sollte sich daher die große Chance eröffnen, dass endlich wirksame Therapien und Medikamente zur ursächlichen Behebung oder zumindest massiven Linderung der Symptome entwickelt, das bislang unterentwickelte Fachwissen der breiten Ärzteschaft gefördert und der Aufbau spezialisierter Betreuungszentren in Angriff genommen werden könnten.
„Das neue Interesse für ME/CFS durch Long Covid“, so die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS, „könnte einen Paradigmenwechsel weg von Ignoranz und Psychosomatierung hin zu intensiver biomedizinischer Erforschung der Erkrankung bewirken.“ Ein erster Lichtblick ist hierzulande das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützte „reCOVer“-Projekt, bei dem unter anderem an der Uniklinik Erlangen ein experimentelles Medikament namens BC 007 als therapeutischer Ansatz gegen Long-Covid-Symptome getestet wird.
An der Berliner Charité wird von der sogenannten Nationalen Klinischen Studiengruppe unter Leitung von Prof. Carmen Scheibenbogen, Leiterin des Berliner Charité Fatigue Centrums, der deutschlandweit einzigen Ambulanz für erwachsene ME/CFS-Erkrankte, an verschiedenen Medikamenten und medizinischen Verfahren gearbeitet, die sowohl gegen ME/CFS als auch gegen Post Covid, bei dem die Long-Covid-Beschwerden auch zwölf Wochen nach Ausbruch der Krankheit noch anhalten oder wiederkehren, wirksam sein könnten. Dabei überprüft die Gruppe vor allem bereits gegen andere Krankheiten zugelassene Präparate auf einen möglichen Zusatznutzen.
Womöglich wird sich sogar die begriffliche Unterscheidung zwischen Long Covid und ME/CFS verwischen, wie es der Wiener Neurologe Dr. Michael Stingl gegenüber dem ORF angedeutet hatte: „Von Long Covid Betroffene müssen damit rechnen, dass sie das vielleicht ihr ganzes Leben begleiten wird. Und das ist dann das, was man als ME/CFS bezeichnet.“ Habe jemand länger als sechs Monate die entsprechenden klinischen Symptome, könne rein formal auch die Diagnose ME/CFS gestellt werden. Auch wenn bekanntlich ME/CFS natürlich nicht nur nach Infektionen mit Sars-CoV-2 entstehen können, sondern auch nach Ansteckungen mit gänzlich anderen Viren wie dem Epstein-Barr-Virus, Enteroviren oder Influenzaviren. „Wir vermuten, dass es sich bei Long Covid nicht primär um eine neue Erkrankung handelt“, so Dr. Johannes Kersten, Long Covid-Experte der Universität Ulm, „sondern um eine altbekannte Erkrankung, verursacht durch einen neuen Erreger.“
Zahlen werden heruntergespielt
Long Covid ist beileibe nichts gänzlich Neues, weil postinfektiöse Syndrome schon seit mindestens 80 Jahren in der medizinischen Fachliteratur beschrieben werden. Auf Basis von Krankenkassendaten wurde 2022 ermittelt, dass Covid-Erkrankte im Vergleich zu nicht infizierten Kontrollgruppen dreimal so häufig von ME/CFS neu betroffen waren. Nach Ende der Pandemie hat sich dann abgezeichnet, dass ein großer Teil von hospitalisierten Personen mit schwerem Krankheitsverlauf besonders stark im Zuge von Long Covid von ME/CFS betroffen war, nach einem halben Jahr Erkrankungsdauer waren es demnach zwischen 13 und 19 Prozent. Für die Beantwortung der Frage, wie häufig sich ME/CFS auch bei mildem Corona-Verlauf ohne Hospitalisierung ausbilden konnte, fehlen hingegen bislang verlässliche Daten. Laut der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS gibt es jedoch gleich mehrere Studien, aus denen sich ableiten lasse, dass nach halbjähriger Erkrankungsdauer bei etwa der Hälfte der von Long Covid Betroffenen die Diagnosekriterien für ME/CFS vorliegen. Zudem gebe es eine große Gruppe von Betroffenen, bei denen zwar nicht sämtliche Kriterien erfüllt werden, aber dennoch typische Symptome wie Fatigue, Brain Fog oder Post-Exertional Malaise aufgetreten sind. „Damit ist schon jetzt klar“, so die Gesellschaft, „dass ME/CFS eine große und relevante Subgruppe von Long Covid ausmacht. Daher rechnen Expertinnen und Experten in Folge der Covid-19-Pandemie mit einem drastischen Anstieg der Zahl ME/CFS-Erkrankter weltweit.“
Während man in Großbritannien auf Basis von Daten des Office for National Statistics die Zahl der ME/CFS-Erkrankten unter den von Long Covid-Betroffenen mit sechsmonatiger Symptomatik laut der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS auf gut 400.000 Personen schätzen konnte, liegen entsprechende Angaben für die Bundesrepublik nicht vor. „Für Deutschland“, so die Gesellschaft, „dürfte sich die Zahl in einem ähnlichen Rahmen wie in Großbritannien bewegen (weniger Infektionen, aber mehr Einwohner).“ Die Bundesregierung musste im Frühjahr 2022 auf eine kleine Anfrage der Unionsfraktion bezüglich der ME/CFS-Situation in Deutschland Farbe bekennen. In der Anfrage wurde ein dringender Handlungsbedarf betont: „Die medizinische Basisversorgung von ME/CFS-Betroffenen kann bislang nicht sichergestellt werden, weil viele Ärztinnen und Ärzte die Erkrankung nicht kennen, keine zutreffende Diagnose stellen können und somit der Leidensweg der Betroffenen massiv verlängert wird. Daraus resultieren eine hohe Dunkelziffer der Betroffenen, eine fehlende medizinische Versorgung, ein hoher Pflegebedarf und ausbleibende Anerkennung von Anträgen auf Berufsunfähigkeit.“
Die Bundesregierung ließ in ihrer Antwort vieles im Vagen und versuchte vor allem die Zahl der neu Betroffenen möglichst herunterzuspielen: „Wie groß der Anteil von ME/CFS-Symptomen bei Long- oder Post-Covid-Betroffenen ist, ist noch nicht ausreichend erforscht. Demzufolge ist es nicht möglich, neu hinzugekommene Erkrankungszahlen auf wissenschaftlich gesicherter Basis zu benennen. Für die Aussage, dass in Deutschland mit 100.000 zusätzlichen Erkrankungen an ME/CFS infolge von Covid-19 zu rechnen ist, gibt es aus Sicht der Bundesregierung keine hinreichenden Belege.“ Die Zahl von 100.000 zusätzlich Betroffener war in der Unionsanfrage ins Spiel gebracht worden, ermittelt auf Basis von Studien, die darauf hingedeutet hätten, „dass zehn bis 20 Prozent aller Long-Covid-Betroffenen zusätzlich an ME/CFS erkranken könnten (rund 100.000 Personen).“ Offenbar bezog sich die Union, ebenso wie diverse populäre Medien-Veröffentlichungen zu diesem Thema, bei ihrer Schätzung allein auf die oben schon genannten ME/CFS-Erkrankungszahlen der hospitalisierten Covid-19-Patienten mit einem mindestens halbjährigen Leidensweg.