In Bad Langensalza, einer Kurstadt im Unstrut-Hainich-Kreis in Thüringen, lädt Barbara Goldau im „Garten der Glückseligkeit“ zu einer Tasse Grüntee. Wer Glück hat, bekommt im Japanischen Garten einen gefalteten Kranich geschenkt.
Schon als ich durch das Tor gehe, habe ich das Gefühl, dass ich in eine andere Welt eintrete. „Ein kleines Stück Japan mitten in Thüringen“, schwärmt Barbara Goldau. Sanft plätschernde Wasserfälle. Ein Meer rosaroter Azaleen und Rhododendren. Seerosen und Wasserlilien umsäumen die Teichlandschaft, in der farbenprächtige Kois ihre Runden drehen. Ein hölzerner Steg führt über die schimmernde Wasseroberfläche. Wolken spiegeln sich darin.
Barbara Goldau läuft über die Zickzack-Holzbrücke, auf der man „böse Geister” hinter sich lassen kann, erklärt sie beiläufig. Sie trägt einen Tinbei, einen japanischen Anzug, schwarze Hose und eine Bluse mit großem, roten Blumenmuster. Diese habe sie aus Japan mitgebracht, weil ihr die Blumen so hell und freundlich erschienen, berichtet sie stolz und streift eine Strähne ihres schwarzlockigen Haares aus dem Gesicht.
Jeder Tee hat ein eigenes Temperament
Barbara Goldau ist Tee-Sommelière. Sie geht anmutig weiter, direkt auf den Teepavillon des Gartens zu. Kunstvoll zeichnet sich ein Spiel aus Licht und Schatten auf die mit feinem, weißen Papier bespannten Fenstervorhänge. Die sich stetig verändernden Strukturen des Sonnenlichts zaubern eine besondere Stimmung im Raum. Es ist der Teeraum des Japanischen Gartens von Bad Langensalza. Barbara Goldau serviert den Gästen grünen Tee. Beschreibt zuvor die in kleinen Schalen enthaltenen Blätter und deren Geschmacksrichtungen etwa nach geröstetem Reis, Ingwer, Zitrone oder nach Gras, wie bei einer Heuernte. Erklärt Inhaltsstoffe, gesundheitliche Wirkkräfte, Ziehzeiten und Anzahl der Aufgüsse. Beim Einschenken der edlen Tees schwenkt sie den dunkelbraunen Kyusu, die kleine, original japanische Teekanne einige Male hoch und runter, sodass die darin enthaltenen losen Blätter gut umspült werden. Danach gießt sie das köstliche Getränk behutsam in kleine Becher. Jeder Tee habe ein eigenes Temperament. Man solle sich Zeit nehmen. Eine Atmosphäre tiefer Ruhe und Harmonie beherrscht den Raum. Achtsame Momente, die einen besonderen Zauber verbreiten. „Die Menschen gehen gestärkt aus dem Garten, genießen die Stille und Schönheit des Ortes. Manche brauchen etwas Zeit, bis sie sich innerlich einlassen können auf diesen besonderen Teeweg. Der Tee und die Zeremonie des Teetrinkens gelten seit Jahrhunderten als ein für Körper und Geist heilsames, das Gemüt beruhigendes und damit zur Besinnlichkeit anregendes Getränk. So kann man sich dem Alltag einen Moment lang entziehen und zur inneren Mitte finden. In Japan heißt es: In einer Schale Tee sei die ganze Welt enthalten.
Der Blick nach draußen richtet sich auf meisterhaft gestaltete Bonsai-Kunstwerke. Fließende, wellenförmig geharkte Kiesflächen, dazwischen Steinflächen und Felsblöcke. Eine sogenannte trockene Landschaft. Die Wellenbewegungen durchziehen die Gartenlandschaft. Sie fließen vom sprudelnden Wasserfall über den Teich in den Trockenbach. Pflanzen und Steine nehmen die Bewegung auf und führen sie weiter. Die Gedanken erkunden die geharkten Formungen des steinernen Sees. Dies sind die Inseln der Glückseligkeit, nach denen der Garten benannt wurde. „Es ist die Stille und Einfachheit. Man nimmt sich zurück, es braucht nicht noch eine freie Ecke, um einen weiteren Rosenbusch zu pflanzen. In Japan wird nichts überladen mit allerlei Schnickschnack. Es geht um Reduzierung. Klarheit. Struktur. Das Wenige, was da ist, soll zum Ausdruck kommen.“
Brieffreundschaft mit Japanerin
Japan ist Barbara Goldaus Leidenschaft. Alles begann mit dem Film „Shogun“, den sie in den 80er-Jahren im DDR Fernsehen sah. Die historischen Ereignisse der Epoche des feudalen Japan, die sich im Geist und den Handlungen der Figuren widerspiegelten, ließen sie nicht mehr los. Sie wollte mehr über das Land wissen, besuchte Bibliotheken, lieh sich Bücher und Bildbände aus, vertiefte sich in das mittelalterliche Japan, in herrschende Fürstentümer und den Kriegeradel, die Samurai. Ein weiteres Schlüsselerlebnis kam hinzu. Ihr Ehemann arbeitete in einem damaligen Konsum und besaß ein Abonnement des begehrten Heftchens „Magazin“. In der Rubrik „Annoncen Ausland“ fand die Japan-Liebhaberin tatsächlich eine Adresse aus dem Land, zu dem sie sich so hingezogen fühlte. Sofort verfasste sie ein paar Zeilen und sendete diese an den Adressaten, in der Hoffnung, mit ihm eine Brieffreundschaft aufzubauen. „Doch ich war nicht die einzige, die ihm schrieb. An die 500 Zuschriften erhielt er, wie ich später erfuhr. Anfangs war ich enttäuscht.“ Doch, wie sich bald herausstellte, startete der fremde Mann umgehend in Japan einen Aufruf an seine Landsleute, ob sie Interesse an deutschen Briefkontakten wünschten. Schon nach einigen Wochen erhielt Barbara Goldau einen Brief von Midori, einer junge Frau aus Japan. „Ich war überrascht. Sie stellte sich mir vor und wurde sofort meine Brieffreundin. Wir verständigten uns auf Englisch. So konnte ich gleichzeitig meine Sprachkenntnisse vertiefen.“ Midori und Barbara Goldau hatten beide kleine Kinder. So hörte der Austausch allein schon über die Kindererziehung nie auf. Verwundert war Barbara Goldau vor allem über eines. „Kleine Kinder haben in Japan so etwas wie Narrenfreiheit. Sie können machen, was sie wollen. Erst wenn sie in die Schule kommen, müssen sie sich an Disziplin und strikte Regeln halten“, erklärt Barbara Goldau. Die rege Brieffreundschaft pflegen die beiden Frauen bis heute.
Barbara Goldau ist 63 Jahre alt und stammt aus Bad Langensalza. Zu DDR-Zeiten war sie in der Verwaltung einer Möbeltischlerei tätig. Mit der Wende wurde sie entlassen und blieb einige Jahre arbeitslos. „Das war eine schwere Zeit. Aussichtslos und deprimierend. Zum Glück hatte mein Mann noch Arbeit.“ Durch Zufall sah die bescheidene Frau mit dem ungewöhnlichen Interesse für Japan ihre Chance. Das war 2004. „Ich habe allen Mut zusammengenommen und bewarb mich im Japanischen Garten für das Betreiben des Teepavillons.“ Sie bekam die Stelle ihres Lebens. „Ich bin sowas von glücklich, dass ich hier sein darf. Ich fühle mich frei und darf mein Hobby ausleben in einem wunderschönen Umfeld. Den Gästen hier die Schönheit des Gartens zu zeigen und sie in die Welt der japanische Teekultur einzuführen, das ist eine wunderbare Aufgabe“, sagt die Japan-Expertin. Nach dem Mauerfall, es war 2007, flog Barbara Goldau das erste Mal nach Japan. „Es waren zwei sensationelle Wochen. Midori begleitete mich durch Teile des Landes. Ich habe in dieser Zeit oft über den Buddhismus nachgedacht, über die Welt, die Menschen, über die Wurzeln der Weisheit und der Friedfertigkeit. Die japanische Mentalität gefällt mir, die Art, wie die Menschen miteinander umgehen. Ruhig. Zurückgenommen. Respektvoll. Aufmerksam und sich gegenseitig unterstützend.“
Dennoch seien Meditation und spirituelle Erleuchtung nicht ihr Weg. Dafür hat sie eine andere Leidenschaft für sich entdeckt: Origami, die Kunst, aus Papier einfache wie komplexe Figuren mit den Händen zu falten, ohne Klebstoff dabei zu gebrauchen. Auch hinter den Formen aus Papier stecken jahrhundertelange Tradition, Geschichte und eine ausgefeilte Technik. Am liebsten faltet Barbara Goldau Kraniche. Große, kleine, einfarbige oder weiße. Mehrere Hunderte Kraniche hat sie bereits gestaltet. Zum Verschenken, als Dekoration oder für die Gestaltung von Objekten. Als ihr ein alter Bonsai einging und sie ihn nicht wegwerfen wollte, kam ihr die Idee, an den kahlen Zweigen kleine Kraniche aufzuhängen. Der Bonsai mit den grünen Kranichen steht jetzt im Teehaus. Viele andere ihrer Eigenkreationen sind im Teehaus zu sehen. Besonders freut sie sich jedes Jahr auf das traditionelle Kirschblütenfest Hanami, wenn sie Teespezialitäten unter freiem Himmel servieren darf, mit Tusche auf Papier und Fächer malen und Kraniche falten kann.
Bei 1.000 Kranichen Wunsch an die Götter
„Wer 1.000 Kraniche faltet, darf sich bei den Göttern einen Wunsch erbitten“, verkündet Barbara Goldau. Dabei denkt sie aktuell oft an den Krieg in der Ukraine. „Die täglichen Nachrichten aus den Regionen regen mich furchtbar auf und machen mich ganz quirlig.“ Vor wenigen Tagen besuchte ein älteres Ehepaar aus Bad Langensalza das Teehaus. Sie kamen mit einer jungen Frau aus der Ukraine und ihrem Kind. Das Ehepaar mit eigenen Flüchtlingserfahrungen erzählte, dass sie die beiden aufgenommen hätten und ihnen die Sehenswürdigkeiten ihrer Stadt zeigen wollten. „Nachdem ich der Ukrainerin die Bedeutung des Teeweges erklärt und ihr den Tee serviert hatte, schenkte ich ihr und der Tochter einen gefalteten Kranich. Über eine HandyApp konnte ich ihr übersetzen, wie der Kranich zu einem weltweit bekannten Friedenssymbol wurde.“ Anfangs stand der Vogel des Glücks für ein langes Leben. Nach den Bombenanschlägen auf Hiroshima und Nagasaki gewann der Papierkranich eine noch größere Bedeutung. Hinter dem Symbol des Friedenskranichs steht Sadako Sasaki, ein elfjähriges Mädchen, bei dem 1955 Leukämie, verursacht durch nukleare Strahlung, diagnostiziert wurde. Sadako erfuhr, dass ihr, wenn sie 1.000 Papierkraniche faltete, ein Wunsch gewährt würde. So begann sie, einen Papierkranich nach dem anderen zu falten, und wünschte sich, von der Krankheit geheilt zu werden, und in einer Welt ohne Kriege zu leben. Doch noch im selben Jahr starb sie, die 1.000 Papierkraniche konnte sie nicht mehr fertigstellen. Ihre Geschichte, ihre Hoffnung verbreitete sich in ganz Japan, und ihr Erbe lebt in einem Denkmal zu ihren Ehren weiter. Auch nach dem Erdbeben und dem anschließenden Tsunami in Japan im März 2011 falteten Studierende und Kinder Papierkraniche als Zeichen der Hoffnung und des guten Segens. „Die beiden Ukrainerinnen waren ergriffen und tief berührt. Ich zeigte ihnen, wie man einen Kranich faltet. Wir umarmten uns mit dem gemeinsamen Wunsch, dass die stille Friedensbotschaft der kleinen Vögel in allen Kriegsgebieten gehört werden möge.“