Der gewaltsame Tod von Mahsa Amini durch die Sittenpolizei hat im Iran landesweit Demonstrationen ausgelöst. Die Aktivistin, Philosophiestudentin und ehemalige Fußballschiedsrichterin Marzieh Nasiri über Kopftuchzwang, die Brutalität des Regimes, Frauenfußball und die Bedeutung von Immanuel Kant für den Iran.
Frau Nasiri, mutige Iranerinnen legen derzeit ihre Kopftücher ab und schneiden sich die Haare kurz. So protestieren sie unter anderem gegen den Kopftuch- und Hijab-Zwang. Glauben die Menschen im Iran, dass jetzt die letzte Chance ist, das Regime zu verdrängen?
Die Menschen im Iran kämpfen seit Jahren für die Freiheit, und insbesondere die Kampagnen gegen den Hijabzwang wie „Weißer Mittwoch", „Unsere Kamera, unsere Waffe" oder „Die Mädchen der Revolution Street" läuft im Iran seit Jahren. Es gibt eine lange Liste von Frauen, die wegen ihrer Beteiligung an diesen Kampagnen im Gefängnis sitzen. Zwei dieser Mädchen kamen sogar zusammen mit ihrer Mutter, die sie begleitete, in Haft. Aber dieses Mal hat die Welt unsere Stimme gehört, und deshalb denken die Menschen im Iran, dass dies ihre letzte Chance sein könnte, das Regime zu stürzen. Weil die Welt zuschaut und die Mullahs nicht wie in der Vergangenheit Tausende von Menschen töten können.
Man hört, dass im Iran Schüler zum Streik aufrufen. Personen des öffentlichen Lebens verkünden, dass sie nicht weiter
unter den Regeln des Staates arbeiten wollen. Wie groß ist die Unzufriedenheit der Iraner?
Die Mehrheit der Menschen ist unglücklich und unzufrieden. Sie haben seit Jahren keine Hoffnung auf eine Reform dieses Regimes und sind sich sicher, dass es nicht möglich ist, ein faschistisches System zu reformieren. Bijan Djir-Sarai, der Generalsekretär der FDP, hat mit klaren Worten gesagt, dass die Menschen im Iran nur die Abschaffung der Islamischen Republik fordern.
Sind Sie optimistisch, dass die Proteste im Iran zu Sturz oder Zerfall des Regimes führen können?
Ja, ich bin sehr optimistisch, dass es zum Sturz des islamischen Regimes kommen wird. Vielleicht nicht sofort, aber es wird definitiv passieren. Jetzt hat das Regime unter anderem Fußballspieler, Demonstranten, Sänger, Schauspieler und Aktivisten verhaftet, um die Menschen zu verängstigen, aber die finden jeden Tag eine neue Art zu kämpfen. Das Regime verschont niemanden, von meiner 70-jährigen Mutter bis zu meiner 20-jährigen Nichte, die auf der Straße geschlagen wurden, aber sie weichen nicht und kämpfen weiter. Sie haben kein Internet mehr, und ich mache mir Sorgen, aber andererseits bin ich auch stolz auf sie.
Von den Protesten 2019/2020 ist bekannt, dass das Regime nicht davor zurückschreckt, auf Kinder und Jugendliche zu schießen.
Wie groß ist Ihre Angst, dass sich das wiederholen könnte?
Das Regime zögerte nie, Kinder zu töten. Es ist jetzt wieder dasselbe, sie schießen unkontrolliert auf Demonstrierende, und es ist ihnen egal, wer dabei getötet wird. Heute wurde die Leiche eines 17-jährigen Mädchens namens Nika, das vor einigen Tagen bei Protesten vom Regime getötet wurde, ihrer Familie übergeben. Sie haben auch Tränengas im Auto meiner Nichte abgefeuert, ihr vierjähriger Sohn hatte deshalb Atemprobleme und war mehrere Tage im Krankenhaus. Dass die Zahl der Todesopfer noch nicht Tausende erreicht hat, liegt nicht an der Toleranz des Regimes, sondern daran, dass die Welt jetzt zuschaut und die Stimme des iranischen Volkes gehört wird.
Wurden Sie im Iran früher selbst schon von der Sittenpolizei festgenommen?
Ja, ich wurde zweimal verhaftet. Einmal, weil sie meinten, meine Kleidung sei nicht islamisch, und einmal, weil sie ein junges Mädchen schlugen und ich dagegen protestierte.
Für manche muslimischen Frauen in Deutschland ist das Kopftuch Ausdruck ihrer Freiheit, auch ihrer Religionsfreiheit. Für andere ist es ein Ausdruck von Tabuisierung der Sexualität, von Geschlechtertrennung, von Machtdemonstration der patriarchalischen Strukturen. Wie sehen Sie das?
Ich konnte nie verstehen, wie der Hijab ein Zeichen von Freiheit sein kann. In islamischen Familien und islamischen Regierungen müssen Mädchen ab neun Jahren ein Kopftuch tragen. Was hat Pflicht mit Recht und Freiheit zu tun? Ein Kopftuch zu tragen, bedeutet im Grunde, dass Sie nicht das Recht haben, ihre eigene Kleidung zu wählen, weil der Islam sie bereits für Sie ausgewählt hat. Wenn die Seele eines kleinen Mädchens ab dem neunten Lebensjahr Angst vor Sünde und Hölle hat und es deshalb einen Hijab auf dem Kopf trägt, weiß ich nicht, wie das ein Zeichen für die Entscheidungsfreiheit von Frauen sein kann.
Ich verstehe die deutsche Außenministerin ehrlich gesagt auch nicht als Feministin. In einer Rede sagte sie, dass „die Ereignisse im Iran nichts, aber gar nichts mit dem Islam zu tun haben". Ob sie sich die Verse der Sura an-Nisā‘ über Frauen einmal durchgelesen hat? Es gibt ein seltsames Paradoxon zwischen dem Feminismus und der Aussage, dass die Ereignisse im Iran nichts mit dem Islam zu tun haben.
Warum haben die ultrareligiösen Mullahs im Iran überhaupt ein Problem mit Frauen, die ihr Haar nicht bedecken?
Weil die Mullahs Frauen keine Rechte zusprechen, wollen sie beweisen, dass das offensichtlichste Recht der Frauen, nämlich das Recht, ihre Kleidung zu wählen und ihren Körper zu besitzen, in den Händen des Islams liegt. Wenn die Mullahs Frauen die offensichtlichsten Rechte verweigern, ist es selbstverständlich, dass sie auch ihre anderen Rechte leicht übernehmen können.
Werden Männer wirklich erregt durch den Anblick von Haaren – und werden Frauen mit Kopftuch nicht von Männern belästigt?
Wenn es so wäre, würden die iranischen Männer nicht neben den Frauen auf den Straßen des Landes schreien: „Frauen, Leben, Freiheit!" Iranische Männer – natürlich keine muslimischen, die die Regierung unterstützen – glauben: Wenn der Iran frei wird, werden Frauen frei sein und ihre Menschenrechte anerkannt. Wir erleben gerade eine sehr fortschrittliche Bewegung im Iran.
Weil sie in New York kein Kopftuch tragen wollte, sagte Irans Präsident Ebrahim Raisi ein Interview mit der „CNN"-Journalistin Christiane Amanpour ab. Gilt das Kopftuch auch als ein Ausdruck von Respekt?
Respekt vor wem? Vor jemandem, der keine Rechte für Frauen vorgesehen hat? Iranische Frauen wurden vor der Islamischen Revolution nicht gezwungen, Kopftücher zu tragen. Nur muslimische Frauen trugen Hijab, daher ist das Kopftuch in unserer Kultur kein Zeichen des Respekts, es ist obligatorisch.
Manche sagen, ein Kopftuchverbot in Deutschland wäre genauso frauenfeindlich wie der Kopftuchzwang. Was meinen Sie?
Wie ich bereits sagte, werden Mädchen in islamischen Gesellschaften gezwungen, einen Hijab von Kindheit an unter psychologischem Druck zu tragen – und nicht aus freien Stücken, denn es steckt ein männlicher religiöser Zwang hinter diesem Thema. Wenn der Hijab hier nach und nach akzeptiert wird, werden auch die anderen islamischen Gesetze – wie die Steinigung von Frauen (das Urteil für Frauen, die eine unerlaubte Beziehung hatten) –, in Deutschland akzeptiert werden.
Sie promovieren an der Universität Düsseldorf im Fach Philosophie. Welchen Stellenwert haben Kunst, Kultur und Philosophie im Alltag der Iraner?
Viele Iraner haben Interesse an Philosophie. Ich habe im Iran einen Bachelor und Master erworben. Wenn man im Iran nach dem Studienfach gefragt wird und mit „Philosophie" antwortet, wissen die Leute genau, was das ist und verwechseln es nicht mit Psychologie oder Soziologie. Wir beschäftigen uns seit Jahrhunderten damit, viele wichtige Quellen der Philosophie haben Bezug zu iranischen Denkern wie den Philosophen Avicenna und Alfarabi. Die Anliegen der Kunst, Kultur und Philosophie sind im täglichen Leben der iranischen Bevölkerung aktuell und natürlich auch die Anliegen der Politik.
Wird die Philosophie im Iran zensiert?
Philosophie wird wie alles andere im Iran vom Regime zensiert. Zum Beispiel durften wir während unseres Studiums nicht alle Quellen lesen. An der Universität hatten wir nur Zugang zu zensierten Quellen, aber für das persönliche Interesse haben wir uns Quellen vom Schwarzmarkt besorgt. Es gibt Buchhandlungen, die alte und unzensierte Bücher als Kopien oder Originale verkaufen, die vor der Islamischen Revolution veröffentlicht wurden. Philosophie studieren macht zwar Spaß, birgt aber im Iran manche Schwierigkeiten.
Sind Sie deshalb nach Deutschland gegangen?
Ja. Ich wollte eigentlich im Iran promovieren und in meiner Heimat in diesem Bereich arbeiten, aber leider boten sich mir nicht viele Möglichkeiten. Deshalb habe ich mein Studium in Deutschland fortgesetzt.
Sie promovieren über Immanuel Kant. Selbst viele Deutsche würden seine schwierigen Texte niemals lesen. Wie kamen Sie ausgerechnet auf den Philosophen der Aufklärung?
Weil ich denke, dass wir im Iran Kant als Aufklärer brauchen. Er kann uns in dieser Situation helfen. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen", lautet ein Wahlspruch der Kantschen Aufklärung. Was ist der eigene Verstand? Wo liegt die Erkenntnisgrenze? Wie können wir erkennen? Warum ist die Metaphysik Kampfplatz endloser Streitigkeiten? Kant antwortet auf wichtige Fragen in seinem Buch „Kritik der reinen Vernunft". Das iranische Volk lebt unter der Kontrolle einer religiösen und islamischen Regierung. Der Islam ist im Iran praktisch beendet. Und die Menschen brauchen Kant und die Aufklärung mehr als metaphysische Philosophie. Kant ist nicht nur für den Iran wichtig, sondern für die ganze Welt.
Sie haben im Iran als Frauenfußball-Schiedsrichterin gearbeitet. Wie kam es dazu?
2016 erhielt ich ein Studienvisum für Deutschland. Davor habe ich in Teheran acht Jahre lang als Schiedsrichterin beim Fußballverband gearbeitet. Als ich ein Teenager war, spielte ich zusammen mit meiner jüngeren Schwester und anderen Mädchen Fußball in einem Verein in Teheran. Wir waren nach der Islamischen Revolution die einzige Frauenfußballmannschaft im Iran. Später wurden weitere Frauenteams gebildet sowie die Liga und die Nationalmannschaft.
Meine Schwester und ich nahmen an Fußballschiedsrichter-Kursen teil, bekamen ein Schiedsrichterzertifikat, und ich wurde beim iranischen Fußballverband angestellt. Vor 15 Jahren war ich als Vertreterin des Fußballverbandes mit der Frauen-Jugend-Nationalmannschaft beim Asienturnier in Bangladesch, und wir haben dort die Meisterschaft gewonnen.
Frauenfußball – ein Zeichen von Freiheit?
Die Regierung spielt jedes Mal Theater. Sie lässt Frauen Fußball spielen, um der Welt zu sagen, dass Frauen im Iran frei sind. In Wirklichkeit tun sie dies, um ein Fußballverbot zu vermeiden. Frauen haben weder auf dem Fußballplatz noch am Arbeitsplatz oder auf der Straße die Freiheit, ihre eigene Kleidung zu wählen. Von daher ist ihr Fußballspielen kein Zeichen der Freiheit, sondern eine politische Täuschung des Regimes. Letztes Jahr wurde das Match Iran gegen Syrien im Azadi-Stadion im Iran ausgetragen. Syrische Frauen betraten das Stadion und iranische Frauen mussten vor der Tür bleiben. Der Name des Stadions ist aber Azadi – das bedeutet Freiheit!
Und vorher gab es im Iran keinen Frauenfußball?
Den gab es in der Zeit des Schahs und vor dem islamischen Regime. Als meine Mutter jung war, konnte sie als Frau ins Stadion gehen, aber nach der islamischen Revolution nicht mehr. Jetzt darf sie sich Spiele von Männern nicht mehr im Stadion ansehen. Männer dürfen Frauenspiele nicht sehen, Frauen dürfen Männerspiele nicht sehen. Dies ist ein völlig politischer Fußball, der gegen die Fifa-Regeln verstößt – aber die Fifa besänftigt das islamische Regime.
Warum wollten Sie unbedingt Schiedsrichterin werden?
Wir iranischen Frauen haben gelernt, immer zu kämpfen. Wenn die Regierung sagt, wir dürfen nicht Fußball spielen, versuchen wir es trotzdem irgendwie. Ich spielte Fußball, ich wurde Schiedsrichterin, ich arbeitete im Fußballverband und war sogar Fußballreporterin. Haben Sie von dem „blauen Mädchen" gehört? Sie betrat das Stadion, indem sie ihr Gesicht so veränderte, dass sie wie ein Mann aussah. Leider wurde sie verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Schließlich verbrannte sie sich vor Gericht und starb. Wie andere Iranerinnen wollte sie nur ihre Lieblingsfußballmannschaft im Stadion spielen sehen.
Viele Mädchen, die mit verändertem Gesicht ein Stadion betraten und als Frauen identifiziert wurden, kamen vor Gericht und mussten sogar aus dem Iran fliehen.