Ob Russlands Krieg gegen die Ukraine oder der Krieg Israels gegen die Hamas – Twitter, mittlerweile von seinem Eigentümer Elon Musk umbenannt in X, wurde in den vergangenen Wochen und Monaten zu einer elektronischen Falschinformationsschleuder.
Es war ein ungewöhnlicher Tweet-Wechsel zwischen einem EU-Kommissar und einem Tech-Milliardär: Nach der Verbreitung von Falschinformationen zu den Angriffen der islamistischen Hamas auf Israel auf Musks Online-Plattform X erinnerte EU-Kommissar Thierry Breton den US-Milliardär an die Verpflichtung, illegale Inhalte zu löschen. So gebe es Hinweise auf Bilder, die manipuliert seien oder eigentlich aus Videospielen stammten. Er bat um Antwort innerhalb von 24 Stunden.
Musk gab sich zunächst unwissend: Er rief Breton auf, die Verstöße aufzulisten, „damit die Öffentlichkeit sie sehen kann“. Der Kommissar blieb hart: „Die Berichte Ihrer Nutzer – und der Behörden – über Falschinformationen und die Verherrlichung von Gewalt sind Ihnen gut bekannt.“ Es sei nun an Musk, seinen Worten Taten folgen zu lassen. „Aber was SIND diese Inhalte, von denen die Rede ist?“, schrieb Musk Stunden später erneut. Die EU hat mittlerweile ein Verfahren gegen X eingeleitet.
EU setzt Verfahren gegen X in Gang
Facebook, X, Google und viele andere müssen nach einem neuen EU-Gesetz scharf gegen illegale Inhalte wie zum Beispiel Hass und Hetze im Netz vorgehen, sonst drohen ihnen saftige Geldbußen. In einer Nachricht von X, in der über Maßnahmen zur Plattform-Sicherheit informiert wurde, hatte es am Montag nach dem Angriff der Hamas geheißen, man sei am Wochenende gegen „zehntausende“ Beiträge mit Darstellungen von Gewalt oder Hassrede vorgegangen. Auch seien neu geschaffene Accounts mit Verbindungen zur Hamas entfernt worden.
X-Geschäftsführerin Linda Yaccarino zählte in einer gut dreiseitigen Antwort kurze Zeit später die allgemeinen Plattform-Regeln und dementsprechend von X ergriffene Maßnahmen gegen illegale Inhalte auf. Sie ging nicht direkt auf die von Breton erwähnten Berichte über die Verbreitung unter anderem von manipulierten Bildern, Mitschnitten aus Videospielen sowie falschen Informationen ein. Yaccarino forderte die Kommission auf, dem Dienst konkrete Details zu mutmaßlichen Verstößen vorzulegen, damit man Nachforschungen dazu anstellen könne. Die Antwort passt zu ersten Reaktionen von Musk. Dieser hatte nach der Übernahme des Kurznachrichtendienstes die Hälfte der Belegschaft, darunter das Team, das gegen Falschinformationen und Hassrede im Internet vorgehen sollte, entlassen.
Es ist nicht das erste Mal, dass dem Kurznachrichtendienst Falschinformationen und der laxe Umgang mit Hassrede vorgeworfen werden. Das Wiedereröffnen von Accounts, die der Dienst unter dem Label von Twitter noch suspendiert hatte, führte dabei zu drastischen Konsequenzen: So erlaubte Musks Team dem Account „Libsoftiktok“ der ehemaligen Immobilienmaklerin Chaya Raichik die Rückkehr zu X. Sie gilt als eine der reichweitenstärksten US-Aktivistinnen im rechtsextremen und Anti-LGBTQI+-Milieu. Ihre Methode: Durch ihre hohe Reichweite von derzeit 2,6 Millionen Followern stellt sie US-Schulen, die sich um LGBTQI+-Rechte bemühen, gerne mit Adresse, an den Online-Pranger, Die Folgen, so recherchierte etwa das US-Magazin „Vice“, seien oftmals riesige Protestwellen bis hin zu Bombendrohungen gegen diese Einrichtungen. Aktuelle Forschungen hierzu gebe es nur wenig, sagt die Professorin für Digitalisierung und Öffentlichkeit der Universität Jena Edda Humprecht. Aber: „Seit Musk das ‚Trust and Safety Team‘ abgeschafft hat, welches für die Inhaltsmoderation zuständig war, wird weniger gegen Desinformation und Hassrede unternommen. Gleichzeitig haben viele Wissenschaftler und andere Experten die Plattformen verlassen, unter anderem als Reaktion auf Aussagen von Musk und die Debattenkultur. Es gibt also weniger Personen, die Desinformation begegnen und richtigstellen können.“
Zuvor verifizierte Accounts erhielten aufgrund ihrer Prominenz und der Qualität ihres Contents einen blauen Haken, gewissermaßen einen Vertrauensvorschuss, ein Prädikatslabel. Nach der Übernahme kann sich nun jeder dieses Häkchen für 114 Euro pro Jahr kaufen. „Zusätzlich werden ‚verifizierte‘ Accounts auch noch durch die Algorithmen bevorzugt, die die Feeds und Suchergebnisse zusammenstellen“, erklärt der Kommunikationswissenschaftler Axel Bruns von der Universität Queensland in Australien.
„Dies wird von vielen Informationskampagnen gezielt ausgenutzt: Suchen zu aktuellen Themen führen daher nicht mehr zu wirklich informativen Inhalten, sondern vor allem zu Spam und Desinformationen. Außerdem hat auch Musk selbst immer mal wieder Desinformationen – zum US-Wahlkampf, Covid-19, dem Ukrainekrieg und anderen Themen – wohlwollend weitergeleitet und sie so seinem Netzwerk von fast 160 Millionen Followern empfohlen.“
Die Ereignisse der vergangenen Wochen in Israel und den palästinensischen Gebieten hoben die Zahl der Falschmeldungen erneut auf ein neues Level. Die Zahlen der aus dem Zusammenhang gerissenen, jahrealten Videoschnipsel, haltlosen Behauptungen, Fake News schossen nach Angaben der israelischen linksliberalen Zeitung „Haaretz“ vor allem während des mehrtägigen Angriffs der Hamas-Terroristen in die Höhe – vor allem gelenkt über iranische Netzwerke mit teils eintausend X-Accounts.
Kein Wunder, dass X derzeit mit hohem Vertrauensverlust und infolgedessen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Schon zuvor hatten Werbekunden die Plattform verlassen, nachdem Musk sie übernommen, mit den Funktionen der App herumexperimentiert und die Moderationspolitik geändert hatte. Geschäftsführerin Linda Yaccarino, die vormals das Werbeanzeigengeschäft von NBC Universal leitete, wird nicht müde, positive Stimmung zu verbreiten. Sie sei überzeugt, dass X schon im kommenden Jahr Profit abwerfen werde, sagte sie auf der Code Conference 2023. Es werde mittlerweile deutlich mehr Content auf X gepostet, trotz des sehr aggressiven Vorgehens gegen Spam und Bots – klar, beides verspricht keinen Profit, und den braucht X dringend.
Massive Schuldenlast drückt den Wert
Auf dem Unternehmen lasten nach dem Kauf von Musk 13 Milliarden US-Dollar an Schulden. Vor dem Kauf war es 44 Milliarden Dollar wert. Jetzt, nach einem Jahr unter Elon Musk, ist der Wert gefallen, laut dem Finanzinformationsdienst Bloomberg auf etwa acht bis neun Milliarden US-Dollar. Laut Musk sind die Werbeeinnahmen, die bislang die einzige Einnahmequelle von Twitter waren, um einen zweistelligen Prozentsatz gefallen, er selbst sprach von 60 Prozent.
Mit dem nun kostenpflichtigen blauen Häkchen konnten vermutlich kurzfristig Löcher gestopft werden. Mittlerweile können Gratisnutzer nur noch eine bestimmte Anzahl von Nachrichten pro Tag sehen, ohne 9,50 Euro Gebühr pro Monat zu zahlen. Content Creators mit hohen Followerzahlen können ihre Beiträge nun auch mit kostenpflichtigen Abonnements monetarisieren. Bald sollen Gratisnutzer nur noch lesen, aber nicht mehr kommentieren dürfen, X testet dieses Feature mittlerweile in zwei Ländern.
Die Banken, die Musk beim Aufkauf von Twitter unterstützten, sind aber mit der Performance ihres Investments laut einem Bericht der „Financial Times“ unzufrieden, suchen gar nach einem „Ausweg“ aus dem Geschäft. Denn mit der Inflation in den USA kamen auch die Zinsen, um jene wieder einzufangen. Obwohl Musk als einer der reichsten Menschen des Planeten gilt, mit einem Vermögen von etwa 200 Milliarden Dollar, kann er kaum einen Cent davon zur Schuldentilgung von Twitter einsetzen. Das meiste davon steckt in seinen übrigen Firmen wie SpaceX und Tesla.
X ist also dazu verdammt, Geld zu erwirtschaften. Linda Yaccarino soll es mit neuen Werbestrategien besorgen und die Banken beruhigen. Ob dies gelingt, liegt nicht zuletzt an dem Verhalten von Elon Musk. Dieser erwägt nun nach Berichten des „Business Insider“, seinen Kurznachrichtendienst für EU-Nutzer komplett zu sperren – weil die EU ein schärferes Vorgehen gegen Falschinformationen verlangt. Denn aus Musks Sicht ist fast jegliches Vorgehen gegen Tweets eine Einschränkung der freien Rede – er selbst bezeichnet sich als „Absolutisten der freien Rede“. Das Ringen zwischen EU und X geht weiter.