Die NATO ist in ihrem 75. Jahr „sehr lebendig“, sagt Sicherheitsexperte Nico Lange. Das Bündnis steht vor „erheblichen Veränderungen“ und dabei erst „am Anfang einer Entwicklung“. In zwei Jahren „Zeitenwende“ sei „bei Weitem noch nicht genug passiert“.
Herr Lange, die NATO hat mit Schweden jetzt ein neues Mitglied, eigentlich ein Grund zur Freude. Aber wenn man sich den Hintergrund dazu ansieht: Kann man da noch von einem freudigen Ereignis reden?
Es ist im Zusammenhang mit Sicherheitspolitik nicht so einfach, von freudigen Ereignissen zu sprechen, weil es ja immer darum geht, sich für einen Ernstfall, von dem man hofft, dass er nicht eintritt, abzusichern. Es ist eine gute Nachricht für unsere Sicherheit in Deutschland, wenn Schweden jetzt Mitglied der NATO ist. Die Sicherheit für die Schweden und die Deutschen ist damit besser geworden als vorher. Sie haben aber natürlich Recht: Wir reden vor dem Hintergrund von Russlands Krieg gegen die Ukraine während einer sehr akuten Bedrohung.
Die NATO hat in 75 Jahren ihres Bestehens unterschiedliche Phasen erlebt. Musste man in irgendeiner Form mit der Situation rechnen, vor der wir jetzt seit etwas mehr als zwei Jahren stehen?
Die NATO plant immer für alle schlimmsten Fälle und richtet sich darauf ein. Das war früher nicht anders. Wladimir Putin ist jetzt seit Jahrzehnten an der Macht, und sein imperiales Machtstreben ist intensiv analysiert und davor gewarnt worden. Deshalb ist für mich die Frage nicht so sehr, ob man das vorher hätte sehen können, sondern: Warum hat eigentlich niemand auf diejenigen gehört, die gesehen haben, was passiert? Warum wollte man das nicht wahrhaben? Es ist ganz wesentlich, wenn wir in Zukunft vor ähnlichen Aufgaben stehen, dass wir diese Frage klären.
Wenn wir über die jüngste Entwicklung der NATO sprechen, kommen wir um das Zitat von Emmanuel Macron nicht herum, der vom „Hirntod“ gesprochen hat. War das vor knapp fünf Jahren berechtigt?
Nein! Ich glaube auch nicht, dass die NATO als Institution der entscheidende Akteur bei der falschen Russlandpolitik war. Es waren die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und auch die französischen Regierungen, die nicht wahrhaben wollten, was mit Russland passiert. Bis kurz vor dem Einmarsch war es doch so, dass die Mittelosteuropäer, die Amerikaner, die Briten sehr stark davor gewarnt haben, und die Deutschen und die Franzosen gesagt haben: die übertreiben, Putin wird schon nicht angreifen. Das kann man also nicht der NATO zuschreiben, sondern Regierungen in einzelnen Staaten. Was die NATO selbst betrifft, kam immer wieder die Frage auf, welche Aufgabe das Bündnis nach dem Ende des Kalten Krieges hat. Spätestens jetzt stellt diese Frage niemand mehr. Ich glaube nicht, dass Macron heute wiederholen würde, was er damals gesagt hat.
Das ist anzunehmen. Inzwischen bringt er ja sogar den Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine ins Gespräch. Eine gute Idee?
Die Sicherheitslage ist eben eine grundlegend andere. Wir haben den größten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, und alle müssen damit umgehen. Man merkt, dass aktuelle Entscheidungsträger nicht daran gewöhnt sind, mit harten Sicherheitsfragen umzugehen, weil man das eben schon lange nicht mehr machen musste.
Gab es denn eine gewisse Blauäugigkeit?
Die heutige Situation ist entstanden, weil Putin die Idee eines russischen Imperiums mit militärischer Gewalt umsetzen will. Das ist die Hauptursache. Seit dem Jahr 2014 mit Putins widerrechtlicher Annexion der Krim und der Invasion im Donbas haben wir nicht genug getan, um ihn vor weiteren Schritten abzuschrecken. Wir haben gedacht: Da passiert schon nichts. Wir haben weitergemacht wie vorher – und haben ihn, glaube ich, dadurch ermutigt, die nächsten Schritte zu gehen. Jetzt müssen wir dafür umso mehr in eine andere Richtung steuern.
Wie viel Kraft wird das beanspruchen? Und welche auch internen Lehren muss die NATO daraus ziehen?
Die Kraftanstrengungen werden erheblich sein; und möglicherweise stehen wir erst am Anfang einer Entwicklung. Zu sagen: Wir machen jetzt ein bisschen mehr Bundeswehr und ansonsten machen wir so weiter wie bisher, davor würde ich warnen. Es sind erhebliche Veränderungen notwendig, was bürokratische Strukturen angeht. Wir sind mit unserer behäbigen Friedensbürokratie viel zu kompliziert und viel zu langsam. Wir haben in der gesamten NATO die Herausforderung, dass wir nicht nur den Krieg in der Ukraine haben, sondern auch eine hybride Kriegsführung gegen uns. Und wir merken, dass zu einer leistungsfähigen NATO auch eine leistungsfähige Verteidigungsindustrie gehören muss, insbesondere auch in Europa, damit man nicht nur von den USA abhängig ist. Da ist sehr viel zu tun, weil wir über Jahrzehnte die Kapazitäten im Grunde nicht brauchten und sie deshalb auch nicht aufgebaut haben.
Die Trägheit der „Friedensbürokratie“, wie Sie es genannt haben, ist ja schon lange Thema …
Unser System ist auf Stabilität und Ruhe ausgerichtet. Jeder ist an allem beteiligt, alles geht furchtbar langsam und nicht auf die kreativste Art und Weise. Was wir alle merken, und da geht es Bürgern mit ihren Erfahrungen mit Bürokratie ja auch so: Die Herausforderungen entwickeln sich viel schneller, und die Bürokratie reagiert nur langsam und zu kompliziert darauf. Das müssen wir ändern. Wir brauchen so etwas wie einen Schnell-Modus, einen Krisenmodus, wo man auch mal unkompliziert Dinge hinkriegt und schnell zu einem Ergebnis kommt. Es ist vielleicht auch ein Stück weit deutsch, dass uns das schwerfällt.
Gehört zu diesem „Krisenmodus“ auch das Wort des Bundesverteidigungsministers von der Kriegstauglichkeit?
Was er damit meint ist eine Abwehrbereitschaft mit einsatzbereiten Streitkräften, aber auch mit einer geistigen Haltung. Mit diesem drastischen Wort wird klar: Wir müssen selbst etwas machen. Keiner will Krieg. Aber gerade deshalb muss man in der Lage sein, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie man einen potenziellen Aggressor abschreckt. Wir sind jetzt über zwei Jahre in der sogenannten Zeitenwende, und aus meiner Sicht ist leider bei weitem noch nicht genug passiert, dass wir potenzielle Aggressoren abschrecken und uns verteidigen können.
Damit drängt sich die Frage auf, was sich in Politik aber auch in der Gesellschaft verändern müsste?
In Militär, Politik und Gesellschaft ist zunächst einmal wichtig, diese Dinge zu üben, und sich realitätsnah geistig, aber auch praktisch mit der Frage auseinanderzusetzen: Wie verhalte ich mich bei Krise und Krieg? Vielleicht müssen auch Menschen in bestimmten Funktionen wie Ministerpräsidenten, Landräte, auch Bürgermeister, verpflichtet werden, diese Dinge zu lernen und auch regelmäßig zu üben. Auf diese Personen kommt es in einem Ernstfall sehr an. Diese gemeinsame Übung und Vorsorge haben wir alle miteinander schon lange nicht mehr gemacht. Über weniger Bürokratie, schnellere Ergebnisse und eine bessere Verteidigungsindustrie haben wir schon gesprochen. Ich glaube auch, man kommt um das Thema Dienstpflicht nicht herum, wenn man sich mit der gesamtgesellschaftlichen Verteidigungsbereitschaft beschäftigen muss. Es ist kein Zufall, dass auch andere Länder diese Diskussion führen. Und wir müssen über den Grundsatz noch bewusster werden und ihn leben, dass die Sicherheit unserer Partner auch unsere Sicherheit ist. Die permanente Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen ist dazu ein wichtiger Schritt.
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat jetzt neue Vorschläge für eine europäische Verteidigungsindustrie angekündigt. Ein richtiger Weg?
Wenn man sich die Summen, die die EU dafür aufwenden will, ansieht, ist das viel zu klein und viel zu wenig, um sagen zu können, dass das die europäische Verteidigungsindustrie sich neu strukturiert. Die Verteidigungsindustrie hängt sehr stark von nationalen Aufträgen ab, nicht von europäischen. Die EU muss aufpassen, dass sie sich nicht übernimmt. Sicherlich kann die EU einen stärkeren Beitrag leisten als bisher. Da geht es beispielsweise darum, welche Technologien man stärker fördern kann, sodass wir bestimmte Verteidigungstechnologien künftig nicht nur in den USA und China haben. Die Modernisierung der Rüstungsindustrie ist sehr stark eine nationale Aufgabe, weniger eine EU-Aufgabe.
Wobei nationale Interessen innerhalb der EU da auch weit auseinandergehen.
Das ist so. Wir sollten die Realität nüchtern anerkennen. Rüstung funktioniert vor allem über nationale Aufträge oder binationale und internationale Partnerschaften. Gut für uns Europäer ist, dass die Verteidigungsausgaben in vielen Ländern steigen und damit unsere Verteidigungsindustrie Aufträge bekommt, Technologien weiterentwickeln und damit leistungsfähig bleiben kann. Man kann immer wieder sagen, es wäre gut, wenn es nur ein einheitliches System in Europa gibt, einen Panzer, ein Flugzeug, ein Waffensystem. Man könnte aber auch sagen, dass es ganz gut ist, wenn es in Europa mehrere Hersteller gibt, wenn es lebendige Konkurrenz gibt. Ich sehe in den nationalen Interessen nicht unbedingt ein Hindernis.
Wie schwer ist es in einem Bündnis mit Partnern wie Ungarn und der Türkei?
Es ist nicht immer einfach. Die NATO ist keine überstaatliche Organisation, sondern eine zwischenstaatliche. Man braucht bei allem immer die Zustimmung von allen, und die jetzt 32 Mitglieder immer wieder zusammenzubringen, ist sehr, sehr mühselig. Das wird sich aber nicht ändern lassen, denn am Ende geht es um den Einsatz von Streitkräften. Das ist in allen 32 Staaten eine nationale Aufgabe, über die national entschieden werden muss, bei uns durch den deutschen Bundestag. Es ist besonders ärgerlich, wenn manche versuchen, durch Blockaden möglichst viel für sich selbst herauszuholen. Entscheidend bleibt aber, dass es am Ende immer gelungen ist, Einigkeit herzustellen und jetzt zum Beispiel Schweden aufzunehmen. Auch, wenn das schwierig war.
Bei allen Gesprächen über die Zukunft der NATO stehen die US-Präsidentschaftswahlen im November immer mit im Raum. Worauf sollten wir uns in Deutschland, in Europa, einstellen?
Erstens ist es klug aus deutscher Sicht, aber auch aus Sicht der Europäer in der NATO, dass wir uns auf alle Eventualitäten einrichten, und zweitens müssen wir mit jedem amerikanischen Präsidenten klarkommen. Wir müssen in jedem Fall dazu bereit sein, selbst mehr für die eigene Sicherheit zu tun. Wir haben zu wenig dafür getan, im Bereich von Sicherheit und Verteidigung deutlich eigenständigere Positionen zu haben. Man kann das fordern, Aufsätze schreiben und Reden halten – am Ende muss man aber das Geld in die Hand nehmen, Streitkräfte ausbilden, Industrie ausbauen und Technologien entwickeln. Da gibt es jetzt mehr Ansätze. Aber wenn wir zwei Jahre brauchen für einen Spatenstich für eine Munitionsfabrik, würde ich sagen: Wir sind viel zu langsam.
Welche Rolle spielt in diesen Zusammenhängen, dass ein Wechsel an der Spitze der NATO bevorsteht? Dass möglicherweise der Niederländer Mark Rutte als Generalsekretär die Nachfolge von Jens Stoltenberg antreten könnte?
Jens Stoltenberg prägte die NATO in einer ganz wichtigen Zeit und gab ihr Stabilität. Wir kommen jetzt in eine neue Phase, und da braucht es auch eine Veränderung an der Spitze. Mark Rutte, so wie wir ihn bisher kennen, steht im Ruf, dass er mit dem Großteil der aktuellen und möglichweise zukünftigen Protagonisten sehr gut klarkommen kann. Die entscheidenden Befugnisse liegen bei den Mitgliedstaaten, da muss der Generalsekretär die 32 Mitglieder dazu bekommen, dass sie sich in eine gemeinsame Richtung bewegen. Die NATO ist jedenfalls sehr lebendig, das kann man festhalten.
Welche Rolle kommt in diesen Kriegszeiten der Münchner Sicherheitskonferenz zu? Und wie bedeutsam ist, dass eine derartige Konferenz in Deutschland stattfindet?
Die Münchner Sicherheitskonferenz ist eine der weltweit führenden Plattformen. Die sicherheitspolitischen und geopolitischen Fragen haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, auch weil, so banal das klingt, alles komplizierter geworden ist. Es gibt das transatlantische Verhältnis als Kern der Münchner Sicherheitskonferenz, es gibt aber gleichzeitig viele Gespräche mit Beteiligten aus Lateinamerika, aus Afrika, aus Asien. Und Staaten wie Indien und China treten mit einem neuen Selbstbewusstsein auf. Und es gibt ganz viele ernsthafte Sicherheitsprobleme, wofür ein solches Forum ganz wichtig ist: Es ist Krieg in Europa, es gibt weitere Kriege und Konflikte, aber auch wichtige Probleme der Ernährungssicherheit, der Klimasicherheit. Wir leben in einer Welt mit vielen Unsicherheiten, über die wir sprechen müssen. Wenn 50 Regierungschefs und über 200 Minister hierherkommen und über diese Themen sprechen, ist das auch ein Zeichen, dass man uns vertraut. Zumindest haben wir den Ruf, wenn wir uns mit etwas beschäftigen, dass wir das gründlich machen – und seriös. Das ist eine Reputation, die man immer wieder bestätigen muss.
Sie zeigen sich als Realist, weniger als Visionär. Trotzdem die Frage nach der Zukunft: Gibt es auch hoffnungsvolle Perspektiven?
Ich würde uns einen Rat geben: Die eigentliche Zeitenwende in der Geopolitik ist, dass wir die Zukunft mitgestalten wollen und können. Es scheint aber ein typisch deutsches Problem zu sein, dass wir immer nur abwarten und reagieren. Wir müssen die Zukunft nicht erleiden, müssen nicht darauf warten, was passiert, und es dabei eigentlich nur gemütlich haben und nicht gestört werden wollen. Wir müssen begreifen, dass die Zukunft auch von uns abhängt. Es hängt von uns ab, ob und wann es Frieden in der Ukraine gibt. Es hängt von uns ab, wie sich die NATO weiterentwickelt. Es hängt von uns ab, welche Rolle Europa spielt. Wenn wir das endlich begreifen, kommen wir auf einen guten Weg.